“Ein Obdachloser kann einen ordentlichen Job machen.”

Incorpora Ungarn hilft benachteiligten Menschen einen Arbeitsplatz zu finden.


In den letzten Jahren wurde in Ungarn viel über das Thema Arbeitslosigkeit diskutiert. Das Problem ist augenfällig: Als Folge der Finanzkrise, die viele EU-Staaten getroffen hat, haben Menschen ihren Arbeitsplatz verloren. Junge Erwachsene waren davon am stärksten betroffen. Sie waren vor der Krise nicht erwerbstätig und haben nun noch weniger Chancen auf dem Arbeitsmarkt.

Eine weitere, oft vergessene Gruppe, die darunter stark gelitten hat, sind benachteiligte Menschen. Besonders in Zentral- und Südosteuropa hatten sie mit hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen, lange vor der Krise. Ungarn ist da keine Ausnahme. Incorpora Ungarn wurde 2016 ins Leben gerufen und unterstützt benachteiligte Menschen, die eine Beschäftigung suchen. NGOs, die sich um Menschen mit Behinderung, benachteiligte Gruppen oder Obdachlose kümmern, werden von IntegrationsmanagerInnen unterstützt, die sowohl mit Betroffenen als auch mit Unternehmen zusammenarbeiten, um Lösungen für Jobs für jede Seite zu finden. Jovana Trifunovic sprach mit Hajnalka Bessenyei, Projektmanagerin von Incorpora Ungarn, darüber, welche Lösungen ihre Initiative anbieten kann.

Laut Eurostat liegt die offizielle Arbeitslosenquote in Ungarn derzeit bei 7,3 %. Inwieweit entspricht diese Zahl der Situation, mit der Sie vor Ort konfrontiert sind?

Ich erinnere mich, als ich einmal ein sehr entlegenes rumänisches Dorf besuchte, erkundigte ich mich nach der Arbeitslosenrate und wollte wissen, wie die Menschen hier überleben. Man sagte mir, dass die offizielle Arbeitslosenrate bei null liege, aber niemand berufstätig sei. Es auch noch nie war. „Wie kann es dann sein, dass die Arbeitslosenrate null beträgt?“, fragte ich. Sozialarbeiter erklärten mir, dass, wenn jemand noch nie gearbeitet hat, er oder sie auch nicht arbeitslos sein kann; um arbeitslos zu sein, muss man zuvor erwerbstätig gewesen sein. Einige wenige Glückliche leben von Sozialleistungen – jene Menschen, die sich dafür durch all die bürokratischen Hürden gekämpft haben. Jeder hier baute sein eigenes Gemüse an und hielt Kleinvieh. In Ungarn ist die Situation sehr ähnlich. Meine Schlussfolgerung nach all den Erfahrungen mit Incorpora Ungarn war, dass Statistiken zweifellos wichtig sind, Zahlen jedoch nie das tatsächliche Ausmaß eines spezifischen Problems erfassen können.

Wer zählt zu den Arbeitslosen?

Die logischste Antwort wäre: Alle, die keine Arbeit haben. Aber können Sie sich vorstellen, was es bedeuten würde, all diese Personen jeden Monat zu zählen? Das ist nahezu unmöglich. Von der Statistik werden jene erfasst, die einen Job hatten, diesen aber verloren haben und aktiv nach einer neuen Stelle suchen. Bestimmte Personengruppen, die nicht arbeiten, finden nie Eingang in die „Arbeitslosenzahlen“ und es wäre schwierig, sie zu zählen. Das sind in erster Linie diejenigen, die sich nicht arbeitslos melden und kein Arbeitslosengeld beziehen, jene, die kein Arbeitslosengeld mehr erhalten, diejenigen, die noch nie Sozialleistungen erhalten haben, und jene, die zu Hause bleiben und sich um den Haushalt kümmern.

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Benachteiligte Menschen sind in einer besonders schwierigen Situation. Was sind die größten Herausforderungen, vor denen sie stehen?

Wenn wir von benachteiligten Menschen sprechen (wie Obdachlosen, Menschen mit Behinderungen, Suchtkranken, in Armut lebenden Menschen etc.), wird das Problem sogar noch komplizierter. Viele von ihnen können sich kaum vorstellen, dass überhaupt irgendjemand in Erwägung ziehen würde, sie anzustellen. Deshalb versuchen sie erst gar nicht, einen Job zu suchen. Und auch auf Seite der Unternehmen zweifelt man mitunter daran, dass diese Menschen in der Lage sind, zu arbeiten.

Bei einem Arbeitslosen könnte es sich um eine vereinsamte Person ohne soziales Netzwerk oder Freunde handeln, die sich nicht vorstellen kann, eine Arbeitsstelle zu bekommen. Einer ausgegrenzten Person, die jahrelang nicht über die nötige Disziplin verfügt hat, aufzustehen, in die Arbeit zu fahren etc., fällt allein die Vorstellung schwer, sich an interne Firmenrichtlinien halten zu müssen. Aber vor allem mangelt es dieser Person am nötigen Grundvertrauen und Selbstwertgefühl, um an den eigenen Erfolg zu glauben.

Eine bedürftige Person hat vielleicht nicht einmal genug Geld für eine Fahrkarte, um zu einem Bewerbungsgespräch zu fahren. Und auch wenn sie die Stelle bekommt, wäre sie nicht in der Lage, die Lebenshaltungskosten im ersten Monat zu tragen, wie etwa die Fahrtkosten für öffentliche Verkehrsmittel. Eine Obdachlose hat das dringende Bedürfnis, eine Unterkunft zum Schlafen zu finden, sich zu waschen und zu essen; ein Job ist vielleicht das Letzte, an das diese Person denkt. Benachteiligte Menschen wie diese bewerben sich nicht bei noblen Firmen, großen Konzernen oder lokalen Behörden um Jobs; sie verschicken keine Lebensläufe und sie trauen sich auf keinen Fall eine Gehaltsverhandlung zu. Sie wenden sich aber vielleicht aus einem anderen Grund an eine NGO, nämlich, um um Unterstützung und Hilfe zu bitten. Und in den meisten Fällen erfahren sie hier zum ersten Mal, dass es möglich ist, einen Job zu bekommen!

Auf Firmenseite herrscht ebenfalls Zurückhaltung. Stellen Sie sich nur die Reaktion der Personalabteilung vor, wenn sie erfährt, dass die Adresse einer Bewerberin oder eines Bewerbers das Postfach einer Notunterkunft ist oder dass ein 29-Jähriger aufgrund seiner Behinderung überhaupt keine Arbeitserfahrung hat.

“Stellen Sie sich nur die Reaktion der Personalabteilung vor, wenn sie erfährt, dass die Adresse einer Bewerberin oder eines Bewerbers das Postfach einer Notunterkunft ist oder dass ein 29-Jähriger aufgrund seiner Behinderung überhaupt keine Arbeitserfahrung hat.”

Was wäre wohl die erste Reaktion auf eine solche Bewerbung? Wer würde ihn/sie ohne Vorbehalt oder Argwohn einstellen?

Die Personalabteilung hätte sicher eine Menge Fragen: Was passiert, wenn er/sie keine Unterkunft findet? Was ist, wenn infolgedessen grundlegende Gesundheits- und Hygienestandards nicht eingehalten werden? Was ist, wenn er/sie nicht rechtzeitig zur Arbeit erscheint, weil er/sie keine Unterkunft gefunden hat? Was bedeutet es, eine leichte geistige Behinderung zu haben? Besteht die Gefahr, dass die Person jemanden anbrüllt oder, vielleicht noch schlimmer, attackiert? Warum sollte jemand ein Risiko mit dieser Person eingehen, wenn man doch einfach ein wenig weitersuchen und jemanden einstellen kann, der weniger „Risiko“ darstellt? Diese Fragen mögen zwar nicht „politisch korrekt“ sein, aber seien wir uns ehrlich, sie tauchen auf.

Und hier kommt also Incorpora Ungarn ins Spiel?

Ja. Auf der einen Seite arbeitet Incorpora Ungarn mit benachteiligten Arbeitsuchenden, um sie darin zu unterstützen, einen Arbeitsplatz zu bekommen, Geld zu verdienen und mehr Spaß daran zu haben, auf eigenen Beinen zu stehen. Kurz gesagt, Menschen wird dabei geholfen, durch Arbeit Eigenverantwortung zu übernehmen. Auf der anderen Seite will man Firmen davon überzeugen, dass sie es nie bereuen werden, einer benachteiligten Person vertraut zu haben. Die Aufgabe von Incorpora Ungarn ist es, ihnen zu zeigen, dass eine Person in einem Rollstuhl brillant sein kann, dass ein Obdachloser seine Arbeit korrekt verrichten und sich aus seiner Obdachlosigkeit wirklich befreien kann, dass eine geistig behinderte Person vertrauenswürdig sein kann und dass es für jeden eine Lösung gibt und man sie nur finden muss.

Bettina Svélecz ist eine der Personen, denen von Incorpora Ungarn geholfen wurde. Bettina arbeitet in Budapest als Rezeptionistin in einem Unternehmen: Sie heißt Gäste willkommen, gibt Auskunft und nimmt Anrufe entgegen. Sie ist offen, dynamisch, und der Kontakt mit anderen Menschen bereitet ihr viel Freude. „Wenn jemand in unser Büro kommt, bin ich die erste Person, die er oder sie sieht, ich bin diejenige, die ihm oder ihr einen ersten Eindruck von unserer Organisation vermittelt“, erzählt Betti, wenn man sie nach ihren Aufgabenbereichen fragt. Früher arbeitete sie als Krankenschwester in einem Spital. Als Folge der anstrengenden körperlichen Tätigkeit und eines Motorradunfalles bekam sie Probleme mit ihrer Hüfte.

„Mein linkes Bein ist um drei Zentimeter kürzer als mein rechtes. Sosehr ich meine Arbeit als Krankenschwester auch liebte, aber ich war den Anforderungen einfach nicht mehr gewachsen. Ich musste mir eine Arbeit suchen, die meine Hüften und meine Wirbelsäule nicht belastet. Es ist nicht einfach, einen Job zu finden, wenn man beeinträchtigt ist.

Aufgrund meiner körperlichen Verfassung kann ich auf keinen Fall als Putzkraft arbeiten und monotone Arbeiten wie Verpackungs- oder andere Fließbandtätigkeiten könnte ich wiederum psychisch nicht ertragen.“

Die Motivation Foundation, ein Mitglied des ungarischen Incorpora-Programmes, die körperlich beeinträchtigte Personen unterstützt, fand im Sommer 2016 eine neue Stelle für Bettina. „Ich arbeite vier Stunden und bin glücklich, Teil eines einfühlsamen Arbeitsumfeldes zu sein. Ich habe mit meiner Arbeit immer schon Menschen geholfen – Dienstleistung ist Teil meines Lebens – und jetzt hatte ich auch die Möglichkeit, selbst Hilfe in Anspruch zu nehmen.“

Das Projekt läuft seit Juni 2016. Wie zufrieden sind Sie bis jetzt mit der Umsetzung und den Ergebnissen?

Als wir Incorpora Ungarn starteten, nachdem wir die Hauptpersonengruppen und NGOPartner ausgewählt hatten, mussten wir uns ein Ziel setzen. Wie bei jedem Projekt waren einige Zielvorgaben notwendig, es gab jedoch keinen Richtwert. Wir hatten die Erfahrung unserer KollegInnen der „la Caixa“ Bankstiftung als Referenz, aber Ungarn ist natürlich nicht Spanien; der Markt ist kleiner, es liegt in Zentraleuropa und womöglich gibt es hier sogar mehr Vorurteile in der Gesellschaft. Im Großen und Ganzen hatten wir keine Ahnung, wie der Markt reagieren würde.

Alle NGOs, die für das Projekt ausgesucht worden waren, haben diesen Personengruppen jahrelang ihre sozialen Dienste angeboten und auch Erfahrung mit der Vermittlung von Arbeitsplätzen. Wir baten sie, uns die Ergebnisse der letzten fünf Jahre vorzulegen, errechneten daraus ihre Spitzenresultate und setzten unser Ziel 10 % tiefer. Das beste Ergebnis aller teilnehmenden NGOs innerhalb eines Jahres waren 110 Erwerbstätige, und so setzen wir uns 100 Arbeitsverträge als Jahresziel.

“Nach sechs Monaten hatten wir 100 Arbeitsverträge, nach neun Monaten waren es über 150.”

Vier NGOs haben ihre Beschäftigungsquote um 20 % bis 50 % erhöht. Die Beschäftigungsquote der Motivation Foundation lag zum Beispiel bei 33 %; d. h., von 100 potenziellen KandidatInnen wurden 33 angestellt – mit Incorpora stieg die Beschäftigungsquote auf 66 %.

Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: NGOs hatten mit Incorpora Ungarn mehr Erfolg als alleine.

Was macht Incorpora Ungarn so besonders?

Der Aspekt der Zusammenarbeit. Wenn ein/e Integrationsmanager/in von Incorpora Ungarn eine Firma besucht, vertritt er/sie nicht nur eine bestimmte Zielgruppe der NGOs, mit denen er/sie zusammenarbeitet, sondern alle Personengruppen des Netzwerkes. Wenn also ein Unternehmen z. B. nicht nur eine Person mit Behinderung, sondern auch eine junge Arbeitskraft einstellen möchte oder wenn es eine besonders frauenfreundliche Politik verfolgt, kann all dies in einem einzigen Treffen berücksichtigt werden. IntegrationsmanagerInnen nehmen automatisch alle nötigen Informationen des Unternehmens auf und informieren NGOs, die Personen aus anderen Kategorien betreuen. Aus Sicht der Arbeitsuchenden ist dies ebenfalls effizienter, weil ihre Interessen dadurch von einer größeren Anzahl von NGOs vertreten werden. Die Firma wiederum erspart sich Zeit, da nur ein Gesprächstermin (anstelle von drei oder vier mit verschiedenen NGOs) nötig ist.

Im Rahmen des „traditionellen Fördersystems“ erhält jede NGO ihre eigenen Zuschüsse, ist für ihre eigenen Ergebnisse verantwortlich und arbeitet allein; schlussendlich ist das Ergebnis des gesamten Zuschusses die Summe der Ergebnisse jeder einzelnen NGO. Bei Incorpora Ungarn ist das Endergebnis aufgrund der Zusammenarbeit nicht die Summe der einzelnen Ergebnisse, sondern die Resultate können vielmehr exponentiell wachsen. Incorpora ist das perfekte Beispiel für das Paradoxon, dass eins plus eins gleich drei ist!

Diese Zusammenarbeit setzt aber auch ein Vertrauen zwischen den NGOs voraus und Vertrauen entsteht im Laufe der Zeit durch Achtsamkeit und Aufrichtigkeit. Die laufende Kommunikation zwischen den NGOs ist dabei entscheidend. Bislang ist die Lehre aus diesem Projekt, dass man gemeinsam und nicht alleine stärker ist.

Incorpora Ungarn ist eine Initiative der ERSTE Stiftung und der „la Caixa“ Bankstiftung, die an lokale Gegebenheiten angepasst wurde. Das Programm wurde im Juni 2016 in Budapest als eine neunmonatige Vorbereitungsphase gestartet, in der die NGOs, mit denen das Programm zusammenarbeitet, sorgfältig ausgewählt wurden. Die gemeinnützigen Projektpartner sind: Civil Impact, Shelter Foundation, Motivation Foundation, Salva Vita Foundation, GAK Nonprofit und Jo-Let Foundation. Jede NGO hat eine bestimmte Zielgruppe im Blick. Zu diesen Zielgruppen gehören Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, benachteiligte Jugendliche, benachteiligte Frauen und in Armut lebende Menschen. In jeder gemeinnützigen Organisation arbeiten IntegrationsmanagerInnen mit benachteiligten Arbeitsuchenden und Unternehmen zusammen, um die jeweils beste Lösung für jede Seite zu finden.

Auch für ArbeitgeberInnen bietet das Programm mit finanziellen Anreizen und der Vermittlung von Arbeitskräften viele Vorteile, die sich auf die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens stark auswirken können. Die Einstellung benachteiligter Menschen fördert die Motivation in der Belegschaft, und Firmen, die Menschen mit veränderter Arbeitsfähigkeit, junge oder benachteiligte Personen beschäftigen, werden Steuererleichterungen gewährt, wodurch sich ihre Ausgaben reduzieren. Unternehmen, die mit Incorpora zusammenarbeiten, können Mitglieder des Incorpora Clubs werden und so an beruflichen Weiterbildungen und Workshops zur Kompetenzerweiterung teilnehmen. Die laufende Nachbetreuung der Unternehmen und vermittelten Personen gewährleistet die Zufriedenheit beider Seiten und stellt sicher, dass bei Bedarf schnell eingegriffen werden kann.

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