Sworn Virgins

Einblicke in das Leben "geschworener" Jungfrauen Nordalbaniens

Die Hierarchie der Geschlechter ist immer noch in vielen Kulturen verankert, jedoch verfügen nicht alle Kulturen über die gleiche hierarchische Ordnung und Wertschätzung gegenüber Geschlechterrollen. Ein Einblick in die komplexe Welt der Sworn Virgins Nordalbaniens, begleitet von Fotos der Fotografin Pepa Hristova.

Sworn Virgins – geschworene Jungfrauen – sind Frauen, die sich meist aus zwei Gründen dazu entscheiden, ein Leben als Mann zu führen: Entweder wollen sie den starken patriarchalen Strukturen und der damit verbundenen Zwangsheirat entkommen oder sie ersetzen ein fehlendes, männliches Familienoberhaupt. Um die Geschichte der Sworn Virgins zu erzählen, muss man ein paar Schritte zurückgehen und den Kontext zu jener Welt herstellen, in der Albanien für lange Zeit existierte. 46 Jahre befand sich das ehemals repressive Land in kommunistischer Isolation. Während des Zweiten Weltkriegs, im Jahr 1943, wurde Enver Hoxha Vorsitzender der Kommunistischen Partei Albaniens und griff zu drakonischen Maßnahmen, um seine Form des Stalinismus durchzusetzen. Religion kann und soll man kritisch gegenüberstehen, im kommunistischen Albanien war deren Ausübung jedoch zur Gänze verboten, westliche Literatur durfte nicht gelesen werden. Aus Partisanen formierte Hoxha die Sigurimi – die albanische Geheimpolizei, der zehntausende Menschen zum Opfer fielen. Zwischen 1945 und 1991 war es Albanern zudem nicht gestattet, das Land zu verlassen, es sei denn, es handelte sich um offizielle Regierungsangelegenheiten – jeder Versuch, doch über die Grenzen Albaniens zu gelangen, wurde als Hochverrat betrachtet und führte – im günstigeren Fall – zu Haftstrafen.

Pilzförmige und unterirdische Bunker, stalinistisch geprägte Monumentalbauten, eine brutalistische Betonpyramide, die ursprünglich dem 1985 verstorbenen Hoxha gewidmet war, zwischenzeitlich als Club fungierte und jetzt zu einer Mischung aus Kultur- und Bildungszentrum für Jugendliche umgebaut wird, erinnern in Albanien noch immer an die fordernde Zeit. Gleich neben dem Kulturpalast in Tirana und dem etwa 38.000 Quadratmeter großen Skanderbegplatz führen Steintreppen in einen dieser ehemaligen Atombunker. Die Geschichte des kommunistischen Regimes, besonders aber die Gewalttaten der Sigurimi sollen sich in den Gemäuern in die kollektive Erinnerung einbrennen. 1990 kam es zu Demonstrationen und Gewalt gegen Symbole des Staates: Regierungsgebäude und öffentliche Verkehrsmittel wurden in Brand gesetzt und am 11. Dezember des Jahres kam es schließlich zur Legalisierung der Oppositionsparteien.

Die Ketten des kommunistischen Regimes haben es dem Land bis zur Demokratisierung nicht erlaubt, eine Identität als Nation zu entwickeln und der einzige Kodex, nach dem Albaniern lange lebten, geht auf das Mittelalter zurück: den Kanun, der ein gewohnheitsrechtliches Gesetzbuch darstellt, das das Leben der Albanier:innen noch heute beeinflusst.

Der albanische Begriff „Kanun“ bezeichnet die Gesamtheit der traditionellen Normen und Regeln, die die Gesellschaft auf dem Gebiet des Straf-, Zivil- und Verfahrensrechts normieren. Dazu zählen das Leben in der Großfamilie, in der traditionellerweise drei Generationen unter Anführerschaft des ältesten Mannes zusammenlebten. Gesellschaftliche Strukturen werden besonders in Nordalbanien noch immer von den strengen Gesetzen des Kanun beeinflusst, dessen 1.262 Artikel in zwölf Büchern alle Aspekte des Lebens im Hinterland Albaniens abdecken: die Regelung der wirtschaftlichen und familiären Organisation, Gastfreundschaft, Brüderlichkeit, aber auch Grenzen, Land und Tierhaltung.

Frauen wurden in dieser sozialen Ordnung kaum mit Rechten ausgestattet, spielen insgesamt eine marginale Rolle und schlimmer noch: Sie gelten als „shakull“, als Schlauch, in dem Ware transportiert wird. Die Frau ist Medium, Objekt, Subjekt ist sie keines.

Die patriarchalen Strukturen und Rollenverteilungen, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung führen noch heute dazu, dass man von einer Gleichstellung der Geschlechter weit entfernt ist: Frauen sind häufiger arbeitslos, wirtschaftlich stärker abhängig, arbeiten häufiger im informellen Sektor und sind in der Politik unterrepräsentiert. Zwar wurden große Fortschritte bei der Sicherung der gesetzlichen Rechte von Frauen und Mädchen erzielt, doch werden diese nur unzureichend durchgesetzt. Und auch, wenn der Kanun heute in Albanien keine Gesetzeskraft mehr hat, spiegelt er sich im sozioökonomischen Gefälle wider, in dem Männer als Hauptakteure der Gesellschaft und Frauen sexualisiert, objektiviert und als Beiwerk angesehen werden.

Männer führen nach dem Kanun traditionell schwere körperliche Tätigkeiten durch, unterhalten Besucher, ihnen steht das Recht frei, zu rauchen, zu trinken und die Familienehre, wenn nötig mit Blutvergießen, zu wahren. Zwei Abschnitte des Kanun sind der „besa“ gewidmet. Die besa ist ein Eid oder ein verbindliches Versprechen und stellt den Eckpfeiler des sozialen Verhaltens dar. Die besa wird als lebenslanges Versprechen betrachtet, ein Versprechen, das auch die geschworenen Jungfrauen halten müssen, um ihre Ehre zu wahren. Der Schwur stellt eine religiöse Äußerung dar, was ihn rechtlich bindend macht. In Artikel 589 wird die Strafe für Personen genannt, die falsch geschworen haben: Die Unehre lastet bis zur siebten Generation auf der Familie.

Women who become men

Die geringe Stellung der Frau und das Fehlen eines männlichen Familienoberhauptes sind zwei entscheidende Faktoren, um die Entstehung der Sworn Virgins – Frauen, die ihr Leben in einer sozial männlichen Rolle leben – zu verstehen.

Aus anthropologischer Perspektive handelt es sich bei der nordarlbanischen Gesellschaft um eine streng patriarchale, patrilokale Gesellschaft, auf der großer sozialer Druck lastet. Blutfehden waren stark ritualisiert – der Tod im Namen der Ehre galt lange Zeit nicht als Mord, sondern als gerechtfertigter Akt, der seine – männlichen – Opfer forderte.

Die Rolle des Familienoberhauptes gilt nach dem Kanun als prestigereiche Position, im Gegensatz dazu ist die Frau ein „Sack, der so lange hält, wie sie in der Familie des Mannes lebt“. Die Heirat geht bei der Frau mit dem Verlust ihrer Identität einher. Dem Mann wurde von den Eltern traditionell eine Kugel mitgegeben, diese soll symbolisieren und sogar dazu motivieren, dass die Braut im Falle einer Art von Betrug erschossen werden kann.

Die Entscheidung, als geschworene Jungfrau zu leben, wird entweder schon im Kindesalter von den Eltern oder später von der Frau selbst getroffen. Sich für das Leben als Sworn Virgin zu entscheiden, hat für Frauen ein freieres Leben bedeutet. Sworn Virgins tragen Männerkleidung, ihre Haar tragen sie kurz. Sie tragen Waffen, sie trinken, sie rauchen, sie verzichten auf sexuelle Beziehungen, auf Heirat und Kinder. Als Sworn Virgins wurden von Rechten beraubte Frauen zu Familienoberhäuptern, zur Besitzerin ihrer Geburtshäuser, vertraten die Familie bei Dorfversammlungen und verwalteten den Besitz.

Antonia Young ist Anthropologin und forscht und schreibt über Albanien und andere Balkanländern. Sie ist die Autorin von Women who Become Men: Albanian Sworn Virgins. In ihrem Buch zeigt sie auf, wie maßgeblich Kleidung zur kulturellen Konstruktion von Geschlecht beiträgt. Man denke an Hochzeiten im heteronormativen, traditionellen Sinn oder die Farbgebung von Babykleidung. Männliche Kleidung emanzipiert die Frau. Aber Young gibt auch zu bedenken, dass mit der Veränderung der Kleidung ein enormer sozialer Druck einhergeht, sich den konventionellen, vordefinierten Geschlechterrollen anzupassen.

Young hat viele Jahre mit geschworenen Jungfrauen verbracht und dabei beobachten können, dass jede Frau ihren Schwur individuell auslebt und die Rolle der Sworn Virgin anders interpretiert. Sworn Virgins lebten und leben vor allem in nordalbanischen Gebirgsregionen. Aber auch in urbaneren Gebieten lebten geschworene Jungfrauen, die Rolle des Haushaltsvorstandes war hier weniger ausgeprägt, führte jedoch zu einer Gleichstellung. Die geschworenen Jungfrauen, mit denen Young sprach, äußerten sich sehr positiv über ihre soziale und kulturelle Geschlechtswechsel. Sie sahen darin die beste Möglichkeit, sich in ihre Familie zu integrieren. Young zitiert aber auch die eingeschworene Jungfrau Pashke, die sich in ihrer Rolle nie gefunden hat: „I am sorry for others who lead this kind of life, I had no other option, given my circumstances. I cannot go back on my decision.“

In den anderen Fällen überwog der Prestige-Faktor, den das Leben als Mann mit sich brachte. Auch von Benachteiligung berichtete keine der Sworn Virgins, auch wenn ihre Entscheidung dazu führte, auf Sexualität, Heirat und Kinder zu verzichten. In ihrer Gemeinschaft wurden sie akzeptiert, ja sogar verehrt.

Die westliche Perspektive und Vorurteile

Die Geschlechtsidentität ist nicht unbedingt mit der sexuellen Orientierung verbunden. Die Sworn Virgins waren und sind in eine Kultur eingebettet, die nach heteronormativen Vorstellungen gelebt wird. Die westliche Perspektive auf die Praxis der geschworenen Jungfrauen bietet zwei besondere Risiken: Themen rund um Sexualität und Geschlechtsidentität stoßen in der Regel auf Interesse. Antonia Young hat die Erfahrung gemacht, dass das Phänomen oft sensationslüstern dargestellt wird. Das andere Risiko bestehe darin, die sexuellen Vorstellungen der westlichen Wohlstandsgesellschaften auf die nordalbanische Kultur zu projizieren.

Young erörtert in ihrem Buch, dass es nicht einfach ist, Sworn Virgins als entweder männlich oder weiblich zu kategorisieren. Die Anthropologin Mildred Dickemann hat sie als „transgendered individuals who have become social men leading masculine lives“ bezeichnet, da Sworn Virgins die Rolle und Identität des Mannes einnehmen und den traditionellen männlichen Status genießen. Das Konzept des Transsexualismus, der sich in einer Kultur entwickelt hat, die nur zwei Geschlechter anerkennt, sei aber nicht anwendbar. Vielmehr zeigt das Phänomen, dass Geschlecht ein kulturell konstruiertes Konzept darstellt.

Es ist nicht ganz klar, wie viele Sworn Virgins es heute noch gibt, aber Young vermutet, dass dieser traditionelle Geschlechterrollenwechsel aufgrund des raschen gesellschaftlichen Wandels höchstwahrscheinlich innerhalb von ein oder zwei Generationen aussterben wird. Es bleibt nur zu hoffen, dass es das Frauenbild, das der Kanun in die Gesellschaft indoktriniert hat, dies auch tut.

Erstmals publiziert in der Ausgabe #03/2023 (Februar) von period.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Isabella-Anja Khom / period. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Bis vor Kurzem lebten die Schwestern und stadtbekannten Straßenkünstlerinnen Michelle und Nicol Feldman mit den blond gefärbten Haaren das relativ sorglose Leben, das 25-Jährige führen sollten. Foto: Pepa Hristova

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