Erb gut!

Erbschaften sind der Motor sozialer Ungleichheit. Werden die Jüngeren das verändern? Ein Querschnitt durch die Generationen.

Am 25. Geburtstag soll jeder EU Bürger 120.000 Euro erben. So zumindest stellt sich der Ökonom Thomas Piketty in seinem Buch Kapital und Ideologie den Weg in eine sozial gerechtere Welt vorhttps://www.brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2020/neuer-generationenvertrag/erbschaft-fuer-alle (abgerufen am 23. Jänner 2023). Finanzierbar wäre das Modell nach Berechnungen des Forschers durch höhere Vermögenssteuern für die Reichsten der Gesellschaften. Noch zu Lebzeiten. Doch die Realität sieht anders aus.

In Deutschland wird Erbe vergleichsweise gering besteuert, in Österreich wurde die Erbschaftssteuer 2008 vollständig abgeschafft. Beide Länder sind in den vergangenen fünfzig Jahren wirtschaftlich so stabil und so reich wie nie zuvor gewesen. Und in beiden Ländern beobachten Wissenschaftlerinnen und Arbeiterinnenverbände den gleichen Mechanismus: „Nicht Leistung entscheidet über Wohlstand, sondern das Glück der Geburt.“https://ooe.arbeiterkammer.at/interessenvertretung/verteilungsgerechtigkeit/vermoegen/Reichtum_wird_vererbt.html (abgerufen am 23. Jänner 2023) In Österreich wie in Deutschland sei laut einer Studie der Johannes Kepler Universität Linz zu beobachten: Wer viel erbt, zahlt wenig Steuern – wer wenig verdient und nicht erbt, zahlt anteilig höhere Steuern. In Österreich verfügt das reichste Prozent der privaten Haushalte laut dieser Studie mit 534 Milliarden Euro Netto-Vermögen über 40,5 Prozent des Gesamtvermögens im Land. Die ungleichen Voraussetzungen werden von einer Generation zur nächsten weitergegeben.

„Wer hat, dem wird gegeben“, fasst die Soziologin Claudia Vogel in unserem Gespräch zusammen. Sie forscht am Deutschen Zentrum für Altersfragen (DZA) in Berlin zu Erbschaften und ihren Konsequenzen für soziale Ungleichheit. „Nur die oberen zehn Prozent haben überhaupt Vermögen, bei dem wir sagen würden, das ist Reichtum. Auch nur in diesen zehn Prozent hat man Chancen, überhaupt zu erben“, sagt sie. Die untere Hälfte der Bevölkerung in Deutschland habe sehr wenig Besitz, da werde mal ein Fernseher oder eine kleinere Geldsumme vererbt. Im untersten Viertel seien die Menschen sogar so stark verschuldet, dass ihre Angehörigen nicht mit einem Erbe rechnen könnten oder dieses ausschlagen müssten. Wer Schulden erbt, kann das Erbe in Deutschland wie in Österreich binnen sechs Wochen ausschlagen.

„Nur die oberen zehn Prozent haben überhaupt Vermögen, bei dem wir sagen würden, das ist Reichtum. Auch nur in diesen zehn Prozent hat man Chancen, überhaupt zu erben“

— Claudia Vogel, Soziologin

Statt dass sich der Reichtum von einer Generation zur nächsten auf immer mehr Menschen verteilt, verdichtet er sich, sodass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auf geht. Erben sei deshalb seit jeher der Motor von Ungleichheit in kapitalistischen Gesellschaften. Trotzdem hat sich über die unterschiedlichen Generationen verändert, wie und vor allem wann geerbt wird.

Kriegskinder – Erben als Altersvorsorge

Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt MariesName geändert, ist der Redaktion aber bekannt. Großvater eine Handwerkslehre, auf der er später ein kleines Imperium aufbauen wird. Er wird Architekt, der erste in der Familie; entwirft die Sparkassen und Rathäuser mittelgroßer Städte in Bayern. Auch das Familienhaus, damals ein fast wertloses altes Bahnhäuschen, wird saniert. Das „Hocharbeiten“ war für viele Männer der Generation der Kriegskinder eine Chance – das Wirtschaftswunder im Rücken –, um nachfolgenden Generationen ein besseres Leben zu sichern. Maries Großeltern bekommen fünf Kinder, zwei Söhne, drei Töchter. Eine davon ist Maries Mutter. Der Opa arbeitet hart. Am Ende dieses Lebens voller Arbeit bleiben zwölf Hektar Land, mehrere Immobilien, ein kleiner Forellenweiher und ein Erbe im Millionenbereich.

Illustration: Elena Anna Rieser

„Erblasser“ nennt die Soziologin Claudia Vogel im Fachjargon jene Person, die mit dem Tod ein Erbe hinterlässt. Wenn sie von Erbe spricht, meint sie Geld und den Wert von Immobilien. Entscheidend für die Verdichtung von Reichtum sei laut der Soziologin aber nicht unbedingt die Höhe des Erbes, sondern dessen Verteilung. Bei zwei Eltern und zwei Kindern wird Erbe nicht wesentlich kleinteiliger. Hinzu käme, dass Kinder von wohlhabenden Eltern auch schon zu Lebzeiten mehr eigenes Kapital anhäufen als Kinder armer Eltern. Kinder reicher Eltern genießen bessere Ausbildungen, verdienen mehr und investieren früher in weitere Immobilien. Wenn sie erben, sind sie also in der Regel bereits wohlhabend. „Absolute Ungleichheit“ nennt man das in der Soziologie.https://www.diw.de/de/diw_01.c.809874.de/publikationen/wochenberichte/2021_05_2/die_absolute_ungleichheit_steigt_durch_erbschaften_und_schenkungen__interview.html (abgerufen am 23. Jänner 2023) Eine aktuelle Studie Vogels an der Hochschule Neubrandenburg belegt, dass die Geschlechtszugehörigkeit beim Erben innerhalb der letzten zwanzig Jahre keine Rolle mehr spielt.

Entscheidend für die Verdichtung von Reichtum sei laut der Soziologin aber nicht unbedingt die Höhe des Erbes, sondern dessen Verteilung.

In Maries Familie ist dieser Paradigmenwechsel zum Zeitpunkt des ersten Erbes noch nicht angekommen. Der Opa habe immer alle Kinder gleich behandelt, sagt sie. Trotzdem sei es zum Streit zwischen den Brüdern und den Schwestern gekommen. Letztere gehen wesentlich leerer aus als die männlichen Erben. Einer der Onkel übernimmt das Architekturbüro. Wie durch ein Naturgesetz geht das Haus, in dem auch Marie aufgewachsen ist, in den Besitz ihres Cousins über. Die Tanten werden nur gering ausgezahlt. Eigentlich seien die Geschwister sehr eng verbunden gewesen. Aber das Erbe habe diese Beziehung zerrüttet. „Das Geld hat die Familie ein Stück weit kaputt gemacht“, sagt Marie rückblickend.

Babyboomer – Erben und Abbezahlen

Die Generation der Babyboomer ist die erste Generation seit dem Zweiten Weltkrieg, die von Krisen und Kriegen in Europa weitestgehend verschont bleibt: Sie werden ins Wirtschaftswunder geboren, erleben die nachfolgende Stabilität und sind, während die Wirtschaftskrise 2008 und die COVID-Pandemie nachfolgende Generationen belasten, im Idealfall bereits im Ruhestand. Die Vermögen der Eltern können in dieser Generation gehalten und sogar angehäuft werden.

Illustration: Elena Anna Rieser

Zwischen 2002 und 2015 erbten sieben Prozent der Deutschen laut einer Studie der Soziologin Vogel ein Erbe. Aus dieser Studie ergibt sich ein Mittelwert von 31.000 Euro, den mindestens die Hälfte der Boomer-Erben bekommen haben müsste. Fünf Prozent haben etwa 400.000 Euro oder mehr geerbt. Die Familie von Marie gehört damit zum oberen Teil der Erben in Deutschland. Zu den obersten 10.000, die so viel erben, dass sie Stiftungen gründen, zählt sie aber nicht. Die meisten Boomer erreicht dieses Erbe im Ruhestand oder kurz davor. 15 Prozent hätten laut Vogel zu diesem Zeitpunkt ihre Immobilien noch nicht abbezahlt. „Die Anzahl jener, die mit Schulden in den Ruhestand gehen, steigt“, stellt die Forscherin fest. Ein wesentlicher Bruch ginge in Deutschland auch durch Ost und West. Im Osten sind die Generationen-Abstände viel kleiner, dafür sei das Erbe aber auch viel geringer. Im ehemaligen Ostdeutschland hatten die Boomer dank Vergesellschaftungen und später Treuhand kaum die Möglichkeit, Reichtum über Generationen hinweg anzuhäufen. Eine durchschnittliche Erbschaft im Osten liegt bei 52.000, im Westen bei 92.000 Euro.

„Die Anzahl jener, die mit Schulden in den Ruhestand gehen, steigt.“

— Claudia Vogel, Soziologin

Maries Mutter will keinen Reichtum. Sie lebt allein, brauche wenig, um zufrieden zu sein, sagt Marie: „Meine Mutter hatte die Nase voll mit diesem Erbe.“ Sie gibt einen Anteil, knapp 100.000 Euro, noch zu Lebzeiten ihrer Tochter. Schenkungen bis zu 400.000 Euro an die leiblichen Kinder sind in Deutschland steuerfrei. Ein spezifisch deutsches Instrument, sagt Vogel, um Vermögen noch zu Lebzeiten weiterzugeben und Steuern zu sparen. Schaut man sich den demografischen Wandel in Europa an, macht das durchaus Sinn: Die Menschen werden immer älter. Millennials wie Marie erben viel später als die Generation ihrer Eltern.

Millennials – Schenkungen als Notnagel

In ganz Europa haben Millennials laut einem Artikel im Handelsblatt in den kommenden Jahren rund 2,6 Billionen Euro Erbe zu erwarten.https://veranstaltungen.handelsblatt.com/bankengipfel/das-grosse-erben-wer-unterstuetzt-die-millenium-generation/ (abgerufen am 23. Jänner 2023) Die Zeitschrift prognostiziert: „Ganz klar müssen Finanzdienstleister lernen, die Sprache der Millennials und Generation Z zu sprechen und ihre finanziellen Prioritäten zu verstehen.“ Aber was sind diese Prioritäten? Anders als ihre Eltern erleben die Millennials während ihrer beruflichen Laufbahn multiple Krisen: Die Finanzkrise 2008, die COVID-19-Pandemie und schließlich aktuell den Krieg gegen die Ukraine. Immobilienpreise sind in die Höhe geschossen, Festanstellungen sind nicht mehr selbstverständlich und klassische Karrieren nehmen ab. Die Millennials häufen weniger Kapital an als ihre Vorgängergeneration – umso wichtiger wird das Erbe. Die Millennials sind wie keine Generation davor auf die Unterstützung von Eltern und Großeltern angewiesen.

Die Millennials häufen weniger Kapital an als ihre Vorgängergeneration – umso wichtiger wird das Erbe. Die Millennials sind wie keine Generation davor auf die Unterstützung von Eltern und Großeltern angewiesen.

Obwohl die ökonomische Grundlage des Elternhauses nicht mehr so deterministisch ist wie früher, studieren noch immer viel weniger Kinder aus Nicht-Akademiker-Haushalten als andersherum. Wer im unteren Bereich der Erbschaften liegt und jetzt schon erbt, erbt meistens Schulden. Eltern, die früh sterben, haben häufig ihre Immobilien oder Unternehmen noch nicht abbezahlt. Wer jetzt wie Marie schon erbt, ist ein Sonderfall. Die Erzieherin ist sich dessen bewusst: „Ich bin sehr froh, dass meine Mutter da einen neuen Weg geht und keine Bedingungen an das Erbe stellt.“ Marie ist Einzelkind und hat mittlerweile eine eigene Familie. „Anfangs habe ich gesagt: Okay Mama, ich investiere in etwas, das uns dann gehört, ein Haus zum Beispiel“, erinnert sie sich. Doch die Erinnerung an den Streit in der Familie, die Trauer um das alte Haus der Großeltern, all die schlechten Gefühle rund ums Erben bringen sie auf eine neue Idee: Zusammen mit ihrem Partner will Marie einen Zirkuswagen kaufen und ausbauen und in ein Wohnprojekt einsteigen. Den Wagen werden ihre Kinder vielleicht einmal erben. Aber vor allem werden sie flexibel sein, gewappnet in einer Zeit, die von Unsicherheit geprägt ist. „Wir wollen damit auch wegkommen von diesem starren Besitztum – das kann auch krank machen.“ Ihre Mutter unterstützt diese Idee.

Was tun gegen die Ungleichheit?

In Deutschland starben 2021 rund eine Millionen Menschen. „Die Hälfte davon hatte gar kein Vermögen“, sagt Soziologin Vogel, „vielleicht ein Auto oder einen Fernseher. Die paar tausend Euro auf dem Konto, die sie zurücklassen, reichen gerade, um die Beerdigung zu bezahlen.“ Gleichzeitig wurden im Jahr 2020 in der Bundesrepublik 50,2 Milliarden Euro vererbt und 34,2 Milliarden Euro verschenkt. Das ist mehr als doppelt so viel als noch vor zehn Jahren.https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2021/08/PD21_403_736.html (abgerufen am 23. Jänner 2023) Vogel schlussfolgert daraus: „Es ist wahnsinnig viel Vermögen vorhanden, aber da es so ungleich verteilt ist, erben die allermeisten Menschen gar nichts oder nur sehr kleine Beträge.“ Seit 2012 hat sich die Vermögensdifferenz verdreifacht.https://www.diw.de/de/diw_01.c.809832.de/publikationen/wochenberichte/2021_05_1/haelfte_aller_erbschaften_und_schenkungen_geht_an_die_reichsten_zehn_prozent_aller_beguenstigten.html (abgerufen am 23. Jänner 2023) Das bedeutet: Wenige große Erbschaften bei wenigen der Gesellschaft, deren Volumen von Generation zu Generation wächst, und viele kleine Erbschaften, die kaum als Reichtum bezeichnet werden können, bei der Mehrheit der Erbenden. Die Studie der Johannes Kepler Universität Linz kommt für Österreich zu demselben Schluss: „Erbschaften und Schenkungen liefern in Österreich den höchsten Beitrag zur Ungleichheit beim Bruttovermögen. Konkret lassen sich 38,4 Prozent der gemessenen Streuung von Vermögen darauf zurückführen.“

„Es ist wahnsinnig viel Vermögen vorhanden, aber da es so ungleich verteilt ist, erben die allermeisten Menschen gar nichts oder nur sehr kleine Beträge.“

— Claudia Vogel, Soziologin

Ein Prinzip, diese Ungleichheit aufzubrechen, sieht Soziologin Vogel in der Erbreihenfolge: „Das Prinzip, in der Blutsfamilie steuerfrei vererben zu dürfen, ist ein zutiefst archaisches.“ Sie fordert: Freibeträge auch in Patchwork- und Wahlfamilien hochschrauben und gleichzeitig sehr hohe Erbschaften ab 400.000 Euro stärker besteuern. Auch in Österreich, wo die Erbschaftssteuer komplett abgeschafft wurde, schlägt die Arbeiterkammer ein ähnliches Modell vor: Ein Freibetrag von einer Million Euro würde nur vier bis fünf Prozent der Haushalte in Österreich treffen. Erst innerhalb dieser Gruppe verfügt ein Haushalt im Schnitt über ein Großvermögen von mehr als einer Million Euro netto.

Die Ideen, Erbe zu besteuern, sind mindestens so zahlreich wie ihre Gegner. Um nur ein paar zu nennen: Der Soziologe Jens Beckert schlägt in seinem Buch Unverdientes Vermögen vor, Erbe in die Einkommenssteuer zu überführen und wie Einkommen zu behandeln – mit einer Besteuerung von bis zu 45 Prozent. Der Soziologe Steffen Mau denkt dieses Modell noch weiter und fordert infolge einer höheren Erbschaftssteuer die Ausschüttung eines „Sozialerbes“ an jene Menschen ab dem 18. Lebensjahr, die nicht erben.http://library.fes.de/pdf-files/wiso/11658.pdf (abgerufen am 23. Jänner 2023)

Der Mythos, dass die Wirtschaft unter einer derartigen Besteuerung leide, wird einerseits durch europäische Beispiele wie Frankreich widerlegt. Andererseits wird sie durch die Simulation des Ökonomen Piketty auf die Probe gestellt. „In den Jahren von 1950 bis 1980 wurden hohe Einkommen, Vermögen und Erbschaften so stark besteuert, dass die Ungleichheit zurückging. Zugleich zog das Wachstum an. Es belastet die Wirtschaft also nicht, wenn die Reichen ihren Beitrag leisten müssen.“ Würde jeder Bürger schon zu Lebzeiten durch Steuern finanziert erben, würden außerdem Unternehmertum und Innovation vorangetrieben. Mehr Menschen hätten die Chance, sich ökonomisch zu verwirklichen und würden wiederum investieren. Und das käme schlussendlich allen zugute.

Erstmals publiziert in der Ausgabe #02/2022 (Juni) von period.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Eva Hoffmann / period. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Illustration: Elena Anna Rieser

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