Wohnungsnot in Ungarn

Die Wohnungskrise spaltet nicht nur arm und reich, sondern wird eine große Herausforderung für die nächste Generation Ungarns sein.

Budapest steckt in einer Immobilienkrise: Explodierende Immobilienpreise in Verbindung mit einem Mangel an kommunalen Wohnbauten zählen mittlerweile zu den größten Herausforderungen für die ungarische Bevölkerung. Der Wohnbau ist auch zu einem politisch umkämpften Thema zwischen Regierung und Opposition geworden und dient als Auftakt zum Wahlkampf 2022.

Die 34-jährige Hanna wohnt in einer kleinen Mietwohnung in der Innenstadt von Budapest. Für die 50 Quadratmeter zahlt sie monatlich über 150.000 Forint (umgerechnet 430 Euro) – ein Drittel ihres Monatsgehalts. Die Tochter einer bürgerlichen Familie aus Westungarn sieht kaum Chancen, jemals eine eigene Wohnung in Budapest kaufen zu können. „Eine Zwei-Zimmer-Wohnung in guter Lage kostet 30 Millionen Forint”, erzählte sie BIRN. „Man bräuchte mindestens 6 bis 7 Millionen [Forint] als Anzahlung, um eine Hypothek beantragen zu können. Ich müsste viel mehr verdienen, um so viel Geld ansparen zu können, also werde ich mich wohl auf absehbare Zeit mit einer Mietwohnung begnügen müssen.“

Dennoch ist Hanna in einer glücklichen Lage: Sie hat einen festen Job, keine Kinder und kann sich die Marktpreise leisten. Nach Aussagen der Sozialarbeiterin Veronika Kovacs von der Bürgerinitiative A Város Mindenkié („Die Stadt gehört allen“) sei es jedoch für bis zu zehn Prozent der ungarischen Bevölkerung – rund eine Million Menschen – sehr schwer, an leistbare Wohnungen zu gelangen.

„Ich meine damit nicht nur Obdachlose, die sind eigentlich nur die Spitze des Eisbergs“, so Kovacs. „Ich rede von all den Familien, die in baufälligen Wohnungen festsitzen, deren Renovierung oder Verkauf sie sich nicht leisten können. Oder junge Leute, die aus Geldmangel noch mit Mitte Dreißig bei ihren Eltern wohnen. Die neuesten Trends zeigen, dass sich immer weniger Menschen den Kauf einer Wohnung leisten können, vor allem in Budapest.“

In den vergangenen fünf Jahren haben sich die Mieten in Budapest verdoppelt, in einigen Budapester Bezirken sind die Immobilienpreise sogar noch stärker gestiegen und liegen mancherorts bei 3.000 bis 4.000 Euro pro Quadratmeter. Keine Gehaltserhöhung kann mit derart hohen Preisen mithalten.

Foto: © Nóra Mendrey

Corvin, eine Erfolgsgeschichte: Baufällige Häuser haben in Budapest einem brandneuen Stadtteil Platz gemacht. Foto: © Nóra Mendrey

Und so ist eine Kluft entstanden – zwischen einer aufstrebenden oberen Mittelschicht, für die Immobilien potenzielle Investitionsobjekte sind, und jenen, die darum kämpfen, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen. Besonders hart trifft es Mieter: Laut Eurostat müssen 30 Prozent aller Mieterinnen und Mieter in Ungarn mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Wohnen ausgeben. Die Coronavirus-Pandemie hat die Situation vorübergehend etwas entschärft: Die Mietpreise sind in einigen Bezirken um 10 bis 30 Prozent gesunken, da Touristen und ausländische Studierende praktisch ausbleiben, wiewohl viele dies nur als ein kurzfristiges Phänomen erachten.

Strukturproblem

Nach Ansicht von Expertinnen und Experten liegt das grundlegende Problem in der Wohnungsmarktstruktur. Vor rund 30 Jahren befand sich die Hälfte der 800.000 Wohnungen in Budapest in kommunalem Besitz. Heute gehören nur noch 42.000 (von insgesamt 920.000) den lokalen Stadtverwaltungen. Die meisten Wohnungen wurden mit dem Übergang zur Demokratie ab 1990 – häufig zu einem Spottpreis – verkauft, als die Gemeinden eine Reihe neuer Zuständigkeiten übernehmen mussten, dafür aber keine zusätzlichen Mittel erhielten. Als Mieter blieben nur die Ärmsten, die sich nicht einmal die Spottpreise leisten konnten, in ihren meist desolaten Wohnungen.

Im Gegensatz dazu gehören der Stadtregierung von Wien, nur 200 Kilometer westlich von Budapest, 220.000 Wohnungen, das Fünffache im Vergleich zur ungarischen Hauptstadt. Zwei Drittel der Wiener Bevölkerung leben in kommunalen oder geförderten Wohnungen. Dazu zählen nicht nur Bedürftige, sondern auch die arbeitende Mittelschicht. In Ungarn sind laut Schätzungen der Sozialarbeiterin Kovacs lediglich fünf Prozent aller Wohnungen im Besitz der Gemeinden. Sie werden in der Regel zu einem Bruchteil des Marktpreises (ein Drittel oder ein Viertel) vermietet und können nur von Personen mit sehr geringem Einkommen beantragt werden.

„Wir sind nicht arm genug“, meinte Zsófi, eine Mutter von zwei Kindern, sarkastisch. Die Familie lebt von nur einem Einkommen in einer Zwei-Zimmer-Wohnung am Stadtrand von Budapest. Mehr als die Hälfte des Gehalts ihres Mannes geht für die Miete drauf. Regelmäßig stellt die Familie einen Antrag auf eine Sozialwohnung, wurde aber bislang aus finanziellen Gründen abgelehnt.

Foto: © Dániel Nagy, Józsefvárosi Újság

Wenn das Geld fehlt: ein desolates Haus im VIII. Bezirk von Budapest. Foto: © Dániel Nagy, Józsefvárosi Újság

„Ich weiß, dass es Familien gibt, denen es noch viel schlechter geht: die in Kellern leben, fünf Kinder haben oder Familien mit einer alleinerziehenden Mutter“, erklärte Zsófi gegenüber BIRN. „Vielleicht sollte ich mich also nicht beschweren. Aber die Chance, auch nur eine winzige Wohnung in Budapest zu kaufen, ist absolut aussichtslos, wenn man aus armen Verhältnissen kommt. Man sitzt in einer Mietwohnung fest, und wenn man Streit mit seinem Vermieter hat, kann es durchaus passieren, dass man auf der Straße landet.“

Politisch umkämpft

Ungarns Wohnsituation ist seit Langem ein politisches Thema: Alle Parteien sind sich des Problems bewusst, doch die Lösungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Fidesz bietet ein „Workfare“-Programm an, mit dem vor allem junge Familien mit großzügigen Wohnkrediten in Höhe von 10 Millionen Forint unterstützt werden, die sie nicht zurückzahlen müssen, sofern sie drei Kinder in die Welt setzen. Wie die NGO Habitat for Humanity in einer kürzlich durchgeführten Umfrage feststellte, kam dieses Programm vor allem wohlsituierten Familien der Mittel- und Oberschicht zugute, was effektiv dazu beitrug, die Immobilienpreise in die Höhe zu treiben; ärmere Schichten profitierten davon aber kaum. Die am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen, häufig Roma-Familien, leben weiterhin in desolaten Häusern und Wohnungen, denen es selbst an grundlegender Ausstattung mangelt.

Im vergangenen Oktober traten der Journalist András Pikó und die ehemalige Unternehmerin und vierfache Mutter Krisztina Baranyi als Oppositionskandidaten in den am stärksten betroffenen Bezirken Budapests (VIII. und IX.) bei den Kommunalwahlen mit dem Versprechen an, einige der desolatesten kommunalen Wohnungen zu renovieren und benachteiligte Familien im Zentrum von Budapest zu unterstützen. Beide wurden gewählt. Doch bereits vor Start des Pilotprogramms schob die Regierung die Pandemie vor und entzog den Bezirken Mittel in Höhe von Hunderten Millionen Forint.

Bürgermeister András Pikó – er steht dem achten Bezirk vor, wo die Wohnungsnot in Budapest am schlimmsten ist – wurde vom Innenministerium darüber informiert, dass bis zu 1.125 Milliarden Forint an Entwicklungsförderung gestrichen würden. Die Bezirksverwaltung protestierte in einem Schreiben und erklärte, dass man 620 Millionen Forint aus diesen Mitteln für die Renovierung desolater Wohnungen investieren wolle. „Im Jahr 2020 haben wir für Wohnungssanierungen 90 Millionen Forint aus unserem eigenen Haushalt finanziert und weitere 620 Millionen Forint wurden aus dem zentralen Haushalt bereitgestellt“, erklärte György Molnár, ein Berater von Bürgermeister Pikó für den Bereich Wohnbau, in einem schriftlichen Kommentar an BIRN. „Die staatliche Hilfe wurde unter Berufung auf die Ausnahmesituation vollständig eingestellt.“

Molnár findet es jedoch befremdlich, dass die Regierung, just als sie ihre finanzielle Unterstützung für die Sanierung von rund 107 Wohnungen zurückzog, die gleiche Summe für den Bau eines brandneuen Handballstadions in Budapest bewilligte. Es mag Zufall sein, dass der ehemalige Bürgermeister des achten Bezirks und derzeitige Fraktionsvorsitzende von Fidesz, Máté Kocsis, auch Präsident des ungarischen Handballverbandes ist.

Foto: © Dániel Nagy

András Pikó, Bürgermeister des VIII. Bezirks von Budapest. Foto: © Dániel Nagy

Expertinnen und Experten sehen in der Auseinandersetzung nur ein weiteres Beispiel für die eskalierenden Spannungen zwischen Regierung und Opposition. Insbesondere seit dem Wahldesaster vom Oktober, als Fidesz in Budapest und anderen großen Städten die Vormachtstellung verlor, versucht die Regierung den Wählerinnen und Wählern zu beweisen, dass von der Opposition geführte Städte und Gemeinden nicht regierungsfähig seien, ihre Versprechen nicht einhalten und das Land ins totale Chaos führen würden. Der lange Wahlkampf für die Parlamentswahlen 2022 scheint bereits begonnen zu haben.

In der Zwischenzeit fordern Bürgerinitiativen wie A Város Mindenkié – bislang vergeblich –von der Regierung und den Gemeinden einen umfassenden Plan zur Verbesserung der Wohnungssituation. Ihrer Meinung nach sei keine Zeit zu verlieren, aus Expertensicht wird jedoch bezweifelt, dass die derzeitige Fidesz-Regierung die Wohnungsnot ernst nimmt. „Die Ungarn leben in weitaus komfortableren Verhältnissen als noch vor zehn Jahren“, wurde Bence Rétvári, Staatssekretär im Innenministerium, kürzlich von der ungarischen Nachrichtenagentur MTI zitiert.

Während laut Eurostat vor zehn Jahren noch 47 Prozent der Ungarinnen und Ungarn in beengten Wohnverhältnissen lebten, waren es 2018 nur noch 20 Prozent. Nach Estland und Slowenien habe Ungarn damit EU-weit die größten Verbesserungen erzielt, erklärte Rétvári und fügte hinzu, dass sich die Wohnraumsituation in einigen westlichen Ländern wie Schweden, Italien und Belgien indes verschlechtert habe. Was Rétvári jedoch nicht erwähnte, war die Tatsache, dass der Anteil jener, die in Ungarn mit Wohnraum dramatisch unterversorgt sind, zwar deutlich gesunken sei, im EU-Vergleich nach Rumänien, Lettland, Bulgarien und Polen aber immer noch zu den höchsten zählt.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 2. September 2020 auf Reportingdemocracy.orgeiner journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


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