Die Show geht weiter

In Ungarn verlagern sich Konzerte in die digitale Welt.

Die Covid-19-bedingten Lockdowns stellen die Kreativität (und Resilienz) der Theater und der Musik- und Kunstschaffenden in Ungarn auf die Probe.

Maria Takacs hat sich für den Abend in Schale geworfen. Sie trägt eine elegante Seidenbluse, dazu einen schicken knielangen Rock, eine Perlenkette und High Heels. Auch für das Make-up nimmt sie sich mehr Zeit als gewöhnlich, legt etwas Rouge und knallroten Lippenstift auf. Sie ist bereit für ihren gewohnten Theaterabend. Nur, dass in Ungarn aufgrund der Covid-19-Pandemie alle Theater geschlossen sind.

Stattdessen hat die etwa 70-jährige Budapester Intellektuelle, deren wöchentliche Theater- oder Konzertbesuche seit 30 Jahren fester Bestandteil ihres Lebens sind, den digitalen Sprung gewagt und wollte sich eben eine gestreamte Aufführung von Ibsens „Ein Volksfeind“ aus dem Jozsef-Katona-Theater in Budapest ansehen. Sie genehmigt sich sogar ein Glas Sekt in der Pause, so wie immer. Später erzählt sie BIRN, dass sie die richtige Theateratmosphäre vermisse, es aber insgesamt sehr angenehm finde, sich das Stück „von ihrem gemütlichen Fauteuil aus“ anzusehen und „trotzdem in der ersten Reihe zu sitzen“. Masken seien auch keine vorgeschrieben, fügt sie lachend hinzu.

Nur wenige Budapesterinnen und Budapester können sich an ein Leben ohne Theater erinnern; das letzte Mal blieben die Bühnen 1944 während der Belagerung der ungarischen Hauptstadt leer. Mehr als 70 Jahre später hat die Schließung der Theater und Konzertsäle den gesamten Kultursektor erschüttert und die Kreativität von Schauspielerinnen und Schauspielern, Theaterdirektorinnen und -direktoren sowie Musikerinnen und Musikern auf die Probe gestellt. Gedichte wurden plötzlich am Telefon rezitiert, andere experimentierten mit Live-Streaming oder boten bereits aufgezeichnete Theaterstücke zu einem Bruchteil der üblichen Kosten oder gratis an. Bis zu einem gewissen Grad hat sich das Experiment ausgezahlt.

Heute stehen Dutzende von Stücken entweder live oder on demand auf eSzínház (eTheater) zur Verfügung. Die größte Streaming-Plattform hält so den Theaterbetrieb am Laufen und serviert einem Publikum, das sich im Laufe des Lockdowns an Netflix und kommerziellem Fernsehen zumeist sattgesehen hat, gute alte Kultur. Die Gründer von eSzínház sind der festen Überzeugung, dass es sich hierbei nicht um eine einmalige Gelegenheit zur Rettung des Theaters handelt, sondern um eine langfristige Chance, die Hochkultur zu demokratisieren und sie einer größeren Anzahl von Menschen, auch über geografische Grenzen hinweg, zugänglich zu machen.

Die unabhängige ungarische Theaterstiftung, der eSzínház angehört, wurde 2016 mit dem vorrangigen Ziel gegründet, das „kulturelle Gedächtnis“ des Landes zu bewahren. „Wir boten Theaterdirektorinnen und -direktoren die Möglichkeit, Theaterstücke kostenlos aufzuzeichnen und für die Zukunft zu erhalten“, erklärt Gergely Legradi, der Leiter von eSzínház, gegenüber BIRN. „Das hätte eigentlich die Aufgabe des ungarischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens sein sollen, der man aber seit Mitte der 2000er-Jahre kaum noch nachgekommen ist.“

„Wir boten Theaterdirektorinnen und -direktoren die Möglichkeit, Theaterstücke kostenlos aufzuzeichnen und für die Zukunft zu erhalten.”

— Gergely Legradi, Leiter von eSzínház

Als Ungarn jedoch im März 2020 von der Covid-19-Pandemie heimgesucht wurde, ging Legradi noch einen Schritt weiter und gründete mit eSzínház die erste Plattform, die Bühnenstücke live streamte. Seitdem ist eSzinhaz in zweierlei Hinsicht zu einem Rettungsanker für das Theater geworden: Um an öffentliche Mittel zu kommen, müssen Theater nach ungarischem Recht einen laufenden Betrieb nachweisen, Proben abhalten und neue Stücke aufführen. Für Darstellerinnen und Darsteller, Regisseurinnen und Regisseure, Autorinnen und Autoren sowie Bühnenarbeiterinnen und -arbeiter war es die Antwort auf die existenzielle Notwendigkeit, die Show am Laufen zu halten und zumindest etwas Einkommen zu lukrieren, um Löhne bezahlen zu können.

„Wir sind eine gemeinnützige Stiftung mit Betriebs- und Technikkosten, aber 70 – 90 Prozent der Ticketeinnahmen fließen direkt an die Theater zurück“, erklärt Legradi. „Es mag überraschend klingen, aber unsere Erfahrung zeigt, dass es eine echte Nachfrage nach Live-Streams gibt; tatsächlich sehen sich mehr Menschen ein Stück online an als im Theater, selbst im Vergleich zu einem ausverkauften Haus. Ich bin überzeugt, dass es für eSzínház eine Zukunft nach der Pandemie gibt.“

Kameraleute beim Vorbereiten einer Szene in einem Budapester Theater. Foto: eSzínház

Selbst wenn man wieder zur Normalität zurückkehrt, habe das Publikum in Ungarn und anderswo weiterhin die Möglichkeit, sich viel umjubelte Aufführungen anzusehen, die zuweilen schon Monate im Voraus ausverkauft sind, so Legradi. Auch traditionelle Sprachbarrieren können mit diesem System überwunden werden, da einige Theaterhäuser englische Untertitel für ein internationales Publikum anbieten. All dies erfordere jedoch massive Investitionen, räumt Legradi ein. Für die hochwertige Aufzeichnung eines Theaterstücks braucht es eine Crew von etwa 20 Leuten und acht Kameras, was diese Option für kleinere Theater und experimentelle Produktionen unerschwinglich macht.

Fidesz, kein Freund des unabhängigen Theaters

Besonders hart traf die Pandemie unabhängige, unkonventionelle Schauspielgruppen, die für gewöhnlich auf Einnahmen aus Ticketverkäufen für Live-Shows, Sondermittel oder Sponsoring angewiesen sind. Viele stehen nun kurz vor dem finanziellen Zusammenbruch, wobei einige Schauspieler gestehen, dass sie, anstatt Hamlet zu rezitieren, Pizzas ausliefern. Andere mussten ihre Lebenshaltungskosten auf ein Minimum reduzieren. „Staatliche Subventionen für Theater waren sehr begrenzt, und selbst die waren ungerecht verteilt“, erzählt Judit Csaki, eine bekannte Theaterkritikerin und ehemalige Intendantin des Kaposvar-Theaters, gegenüber BIRN.

Im vergangenen Mai kündigte die Regierung ein 1-Milliarden-Forint-Paket (2,8 Millionen Euro) an, mit dem unabhängige Theatergruppen unterstützt werden sollten. Die Anträge wurden jedoch von den beiden Kulturaposteln der nationalistisch-populistischen Fidesz-Regierung geprüft: dem Intendanten des Nationaltheaters Attila Vidnyanszky und dem Leiter des Petőfi-Literaturmuseums Szilard Demeter – beide notorische Nationalisten.

“Das Problem ist, dass diese Regierung nicht wirklich an Kultur interessiert ist, es geht ihr nur ums Geld.”

— Judit Csaki, Theaterkritikerin und ehemalige Intendantin des Kaposvar-Theaters

Vidnyanszky ist auch Vorsitzender einer regierungsnahen Stiftung, an die die Universität für Schauspiel- und Filmkunst (SzFE) in Budapest übergeben wurde, was im vergangenen Herbst zu einer zweimonatigen Pattsituation und einer Welle von Protesten führte. Szilard Demeter schaffte es derweil letzten November in die internationalen Schlagzeilen, als er Europa in einem Kommentar als „Gaskammer von George Soros“ bezeichnete und die multikulturelle Gesellschaft angriff, die für die europäische Lebensform Gift sei.

„Das Problem ist, dass diese Regierung nicht wirklich an Kultur interessiert ist, es geht ihr nur ums Geld“, meint Csaki. Bereits vor der Pandemie habe ihrer Ansicht nach politische Loyalität oder das Folgen einer national-konservativen Linie eine Rolle bei der Unterstützung einiger Theater auf Kosten anderer gespielt.

Das Festival Orchester Budapest gibt ein Gratis-Kammerkonzert – eine seiner Serenaden – in einem privaten Garten in Budapest. Foto: BFZ – Festival Orchester Budapest

Das Nationaltheater bekommt etwa dreimal so hohe Zuschüsse wie während der Ära des früheren liberalen Intendanten Robert Alfoldi, obwohl es weniger Aufführungen gibt und die Besucherzahlen weitaus geringer sind. Theater in einigen Städten außerhalb Budapests, denen oppositionelle Bürgermeister vorstehen, werden unter Druck gesetzt, im Gegenzug für Fördermittel der Regierung nahestehende Intendanten zu bestellen. Die Pandemie hat diese Situation noch verschlimmert, da die Theater viel schlechter dastehen und regierende Politiker ihnen ein regierungsfreundliches Narrativ aufzwingen können.

Dennoch bleibt Csaki optimistisch. Das freie Theater werde nicht verschwinden, sagt sie, denn am Ende des Tages könne man zwischen guter Aufführung und Propaganda unterscheiden. In diesem Sinne sei eSzinház eine sehr positive Entwicklung und könnte die Überlebenschancen der Theater im Land tatsächlich erhöhen, so Csaki.

Quarantänekonzerte halten die Musik am Leben

Zum Glück kämpft das Festival Orchester Budapest (BFZ), das zu den Top-10-Orchestern der Welt gehört, nicht ums finanzielle Überleben. Es musste aber ebenfalls schon Kreativität und Einfallsreichtum unter Beweis stellen, um sein Publikum zu halten. „Es war ein Schock. Anfang März spielten wir noch Livekonzerte im Ausland, und dann kam das Leben plötzlich zum Stillstand“, erzählt Orsolya Erdody, Geschäftsführerin des BFZ, gegenüber BIRN.

Ivan Fischer, musikalischer Leiter des BFZ, ist ebenfalls der Meinung, dass die Musik gerade in Krisenzeiten für die Gesellschaft lebensnotwendig bleibt. Um sich über Wasser zu halten, begann das BFZ zunächst, kleine Kammerkonzerte mit vier oder fünf Musikerinnen und Musikern, die zuvor getestet wurden, zu veranstalten und die Auftritte auf seiner Webseite zu streamen. Sie nannten sie „Quarantänekonzerte“. Es gelang ihnen damit überraschenderweise, auch Menschen zu erreichen, die zuvor noch nie ein klassisches Konzert besucht hatten. „Wir haben eine Quarantäne-Gruppe auf Facebook gegründet. Die Leute tauschten Gedanken und Eindrücke aus; manche gestanden, dass sie den ganzen Tag auf die Konzerte warteten, weil sie allein zu Hause festsaßen“, erinnert sich Erdody.

Während der Sommermonate [2020, Anm. d. Red.], als die Beschränkungsmaßnahmen gelockert wurden, begann das BFZ, kostenlose Kammerkonzerte, Serenaden genannt, in den Gärten von Wohnhäusern in Budapest zu veranstalten. Man konnte sich als Gastgeber für die Gratis-Konzerte bewerben und die Musik auch von den Terrassen und Balkonen der Nachbarschaft aus genießen. Die Idee schlug sofort ein; jeden Monat wurden 224 Konzerte veranstaltet.

Jetzt, da Livekonzerte – selbst kleine – gemäß den neuen Lockdown-Maßnahmen [im Februar 2021, Anm. d. Red.] nicht mehr möglich sind, experimentiert das BFZ mit Streamingdiensten. Laut Erdody würden die Einnahmen daraus jedoch an jene aus einem Konzert vor vollem Haus nicht annähernd heranreichen. Früher wurde das BFZ zur Hälfte vom Staat finanziert – von der Zentralregierung und der Stadt Budapest –, der Rest stammte aus Ticketverkäufen und Sponsorengeldern, aber in letzter Zeit hat sich der Anteil staatlicher Subventionen erhöht.

“Wir können uns nicht beklagen, wir werden vom Kulturministerium und vom ungarischen Staat finanziell tatkräftig unterstützt. Die einzige Bedingung ist, dass wir weiter arbeiten.”

— Orsolya Erdody, Geschäftsführerin des BFZ – Festival Orchester Budapest

„Wir können uns nicht beklagen, wir werden vom Kulturministerium und vom ungarischen Staat finanziell tatkräftig unterstützt“, so Erdody. „Die einzige Bedingung ist, dass wir weiter arbeiten. Ich stimme dem tendenziell zu – wenn man seine hohen Ansprüche ernsthaft aufrechterhalten will, kann man sich nicht einfach zurücklehnen und wochen- oder monatelang pausieren.“ Erdody und ihre Musikerkolleginnen und -kollegen in Ungarn finden es unfassbar, dass das Musikleben in New York zum Stillstand gekommen ist und Musikerinnen und Musiker entlassen wurden.

Dennoch sei es für alle, die im Kultursektor des Landes tätig sind, weiterhin eine sehr harte Zeit, betont Emese Mali, eine Konzertpianistin aus Budapest. Obwohl sie versucht hat, dieses Jahr als Chance zu sehen, an sich zu arbeiten und sich mit neuen Technologien vertraut zu machen, kommt die zweifache Mutter nur durch ihre Lehrtätigkeit an der Liszt-Ferenc-Musikakademie über die Runden. Sie gesteht, dass es ohne dieses regelmäßige Einkommen sehr schwierig wäre zu überleben.

Während Orchester öffentliche Mittel erhalten können, bekommen einzelne Künstlerinnen und Künstler so gut wie nichts. Auslandstourneen oder Sondervorstellungen sind gestrichen, also gibt es wenig bis gar keine Möglichkeit für zusätzliche Einnahmen. „Live-Streaming ist als Übergangslösung in Ordnung, aber vor einem leeren Saal mit ein paar Musikerinnen und Musikern zu spielen, die Masken tragen, fühlt sich seltsam an“, meint sie seufzend.

Original auf Englisch.
Erstmals publiziert am 1. Februar 2021 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Edit Inotai / Reporting Democracy. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Musik und digitale Geräte gehen in der heutigen COVID-betroffenen Kulturwelt Hand in Hand. Foto: BFZ – Festival Orchester Budapest

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