Im Osten fällt der Vorhang früher.
Kopf und Zahl - Osteuropa im digitalen Taschenformat
Bei der Lebenserwartung haben Ost- und Südosteuropa noch nicht ganz aufgeholt. Viele Faktoren kann der Interessierte heranziehen, wenn er das Zusammenwachsen zwischen West und Ost nach 1989, also die Angleichung der Wohlstandsniveaus belegen möchte: Er oder sie findet sie in den Kaufkraftstatistiken, im BIP pro Kopf und in den Auslandsreisen – überall haben die jüngeren EU-Mitglieder stetig gegenüber den alten EU-Mitgliedern aufgeholt. Wer aber von den Wirtschaftsparametern weggeht, der wird ebenso Aussagekräftiges finden. Und keine erfolgreichere Geschichte als jene der sinkenden Kindersterblichkeit. Noch immer sterben weltweit jährlich vier Millionen Kinder, bevor sie das erste Lebensjahr erreicht haben. Doch immer weniger davon sterben in den osteuropäischen Ländern.
Die Kindersterblichkeit wird gerne als Indikator sozioökonomischer Bedingungen verwendet. In ihr spiegeln sich Faktoren wie die medizinische Versorgung, hygienische Verhältnisse und die Bildung der Mütter wider. Wenn weniger Kinder sterben, ist das Land gesamtperspektivisch auf einem guten Weg. In den Ländern Ost- und Südosteuropas ist die Kindersterblichkeit in den vergangenen 30 Jahren signifikant zurückgegangen.
Tschechien hat sich sogar EU-weit an die Spitze geschraubt. In jenem Land, in dem 1996 noch sechs von tausend Geborenen den ersten Geburtstag nicht erlebten, waren es 2016 weniger als drei Kinder. In Rumänien, wo in den 1930er-Jahren noch jedes achte Kind unter einem Jahr starb, sank die Rate in den 1960er-Jahren auf 44 pro tausend, knickte aber erst 2008 auf unter zehn Promille – kurz nachdem Rumänien der EU beigetreten war. Der Nachbar Ungarn hatte das schon zehn Jahre früher geschafft. Und am Beispiel der Republik Moldau zeigt sich die Aussagekraft dieses Indikators: Dort sterben immer noch mehr Kinder als sonst irgendwo in der Region unter einem Jahr – immer noch elf Promille. Ungefähr auf diesem Niveau reiht sich auch Albanien ein.
Die Geburt markiert den Beginn des Lebens, der Tod bekanntlich das Ende und hier zeigt sich: Die Ost- und Südosteuropäer sterben früher als ihre Kompagnons im Westen. Nimmt man die geographischen Enden im Westen und Osten, dann zeigt sich eine Lebenserwartungslücke von zwölf Jahren: Um so viel leben die Menschen in Portugal durchschnittlich länger als die Bulgaren im äußersten Osten. Diese werden nur 73 Jahre alt. Die Gründe dafür sind vielschichtig: Eine ungesunde Lebensweise mit hohem Nikotin- und Alkoholkonsum spielt eine Rolle. Ein schlecht funktionierendes Gesundheitssystem eine andere.
Vor allem die ländliche Bevölkerung in Rumänien und Bulgarien ist medizinisch schlecht versorgt; es fehlt an Landärzten ebenso wie an zumindest bescheiden ausgestatteten Krankenhäusern. Dazu kommen Umweltfaktoren wie schadstoffreiche Luft – vor allem in den Großstädten, die immer noch als Auffangbecken für die ausrangierten Pkws des Westens dienen. 50 Prozent der in Rumänien zugelassenen Pkws sind älter als 15 Jahre. Im Mai hat die Europäische Kommission Rumänien, aber auch Ungarn und Italien, wegen anhaltend hoher Feinstaubwerte vor dem Europäischen Gerichtshof angeklagt. Und die vielen Straßentoten spielen ebenso in die Statistik hinein.
Das ist die schlechte Nachricht. Aber auch hier gibt es Positives zu vermelden: Zumindest in den jungen EU-Mitgliedern gleicht sich auch die Lebenserwartung an jene der alten EU an. Vor allem die Todesursache Herz-Kreislauf-Erkrankung nimmt ab: Pflanzliche Öle anstatt tierischer Fette, ein bewussterer Lebensstil mit viel Bewegung und die moderne Medizin tragen dazu bei. Auch Länder wie Serbien und Bosnien und Herzegowina haben sich von den kriegsbedingten Einbrüchen in der Lebenserwartung erholt.
Zwischen dem äußersten Osten und Westen der EU klafft eine Lebenserwartungslücke von
Zwischen dem äußersten Osten und Westen der EU klafft eine Lebenserwartungslücke von
12 Jahren.
Auch der russische Mann lebt mittlerweile wieder länger, wenn auch immer noch nicht vergleichbar mit Männern in Polen und gar Deutschland. Für ihn brachte der Zusammenbruch der Sowjetunion auch ein Ende der Alkoholrestriktionen mit sich, die Michail Gorbatschow 1985 zu Wege gebracht hatte und die die Todesrate vor allem bei russischen Männern signifikant nach unten gedrückt hatten. Dazu kamen der Transformationsstress und ein kollabiertes Gesundheitssystem in den 1990ern, was in einer Lebenserwartung für Männer von unter 60 Jahren resultierte. Noch heute stirbt jeder vierte russische Mann, bevor er seinen 55. Geburtstag feiern kann.
Dieser Text und die Infografiken sind unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: CC BY-NC-ND 3.0. Der Name der Autorin/Rechteinhaberin soll wie folgt genannt werden. Autorin: Eva Konzett / erstestiftung.org, Infografiken und Illustration: Vanja Ivancevic / erstestiftung.org
Titelbild: Wiener Zentralfriedhof. Foto: (CC BY 2.0) Robin Jacob / Flickr
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14 Jahre sind vergangen, seit sich die Europäische Union in der ersten Runde Richtung Osten aufgemacht hat. Die anfängliche Euphorie ist erst dem Alltag und nun Ernüchterung auf beiden Seiten gewichen. Man ist sich manchenorts fremd geworden oder fremd geblieben, trotz der sichtbaren und verborgenen, der privaten, offiziellen und geschäftlichen Beziehungen. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten, trotz der Wertschöpfungsketten, die keine Grenzen mehr kennen. Und manchmal genau deswegen.
Kopf und Zahl möchte im Kleinen die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebensrealitäten im jüngeren Teil der EU und der Beitrittskandidaten Südosteuropas beleuchten und sie mit der westeuropäischen Verfassung zumindest in österreichischer Ausformung abgleichen. Sind diese denn wirklich immer meilenweit voneinander entfernt? Wo scheitert der Blick von oben herab?
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