Orthodoxe Religion, unorthodoxe Medizin

Rumäniens christliche Ärzte auf dem Vormarsch

Eine neue Generation von Ärztinnen und Ärzten in Rumänien will den Glauben in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen. Grund zum Alarm sehen jene, die der Überzeugung sind, Religion und Medizin passen nicht zusammen.

Der Kardiologe Ciprian Fisca hat während der letzten Nachtschicht kaum geschlafen, seine nächste Schicht beginnt morgen zeitig in der Früh. Doch jetzt, acht Stunden bevor er wieder ins Spital muss, gäbe es keinen Ort, an dem er lieber wäre als in der Küche eines religiösen Refugiums, inmitten des ländlichen Siebenbürgen, um Meerrettich zu schälen. Der 27-Jährige arbeitet freiwillig als Küchenhilfe im abgeschiedenen St.-Johannes-Evangelist-Refugium, und hilft den Geistlichen, die Mahlzeit für den nächsten Tag vorzubereiten. Zu der kleinen Gruppe, die hier mithilft, gehören auch ein Pharmaziestudent und Ciprians jüngere Schwester, die selbst Medizin studieren möchte.

Das Refugium besteht aus einer schlichten Kirche, umgeben von derzeit im Bau befindlichen modern anmutenden Gebäuden, darunter eine Kantine, ein Tagungszentrum und Unterkünfte. Die Umgestaltung dieses entlegenen Ortes ist ein Zeichen des Aufschwungs der Rumänisch-Orthodoxen Kirche, die nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Diktatur Stärke zeigt. Wurde sie früher mit älteren Menschen und der armen Landbevölkerung in Verbindung gebracht, so zieht die Kirche nun die gebildete Jugend in den Städten an und verfügt über eine starke Anhängerschaft von MedizinerInnen und MedizinstudentInnen. Für eine neue Generation strenggläubiger rumänischer Medizinerinnen und Mediziner ist der Glaube keine reine Privatsache – er prägt auch ihre Arbeit. „Wenn du Arzt bist, dann muss Gott Chef deiner Abteilung sein“, meint Ciprian.

Die Kirche unterstützt eine Art medizinischer Praxis, die jahrhundertealte Lehren mit ihrer Haltung zu modernen Fragen der Lebensführung, Moral und Sexualität verknüpft. Ärztinnen und Ärzte, die sich dieser Form der „christlichen Medizin“ zuwenden, befürworten im Allgemeinen die offensichtlichen, von der Kirche attestierten gesundheitlichen Nutzen des Betens und Fastens, und teilen die Auffassung der Kirche, die Abtreibung, Empfängnisverhütung und Homosexualität für schwere Sünden hält. Dies hat viele Vertreter der Ärzteschaft alarmiert, die der Überzeugung sind, dass Religion und Medizin nicht miteinander vermischt werden sollten. Diese Kritiker betrachten den Widerstand der Kirche gegen Abtreibung und Verhütung als unvereinbar mit der modernen medizinischen Ethik und stehen deren Begeisterung für unerprobte Therapien wie Fasten und Beten mit Misstrauen gegenüber. Gabriel Diaconu, ein Psychiater und für Rumäniens auflagenstärkstes medizinisches Fachblatt Viata Medicala tätiger Kommentator, meint, dass Ärztinnen und Ärzte zwar das gute Recht haben, gläubig zu sein, der Glaube bei ihrer Tätigkeit jedoch keine Rolle spielen dürfe. „Es gibt Ärzte, die in ihrer Freizeit in klassischen Orchestern spielen, sie bringen ihr Cello aber nicht mit in den Operationssaal“, erklärt er.

„Der Glaube und die rumänische Nation“

Das St.-Johannes-Evangelist-Refugium wird von den Mönchen des hoch oben in den Karpaten gelegenen Oasa-Klosters geführt. Seit mehr als zehn Jahren veranstalten sie jährliche Sommercamps für gläubige junge Rumäninnen und Rumänen, die ihren Glauben besser verstehen und das Klosterleben kennenlernen wollen. Waren es zu Beginn ein oder zwei Camps, so organisieren die Mönche mittlerweile jedes Jahr etwa zehn Veranstaltungen und heißen über tausend Gäste zwischen 18 und 30 Jahren willkommen.

Dieses Jahr haben die Mönche zum ersten Mal ein Camp ausschließlich für MedizinerInnen und MedizinstudentInnen ausgerichtet. Auch Ciprian zählte zu den 170 Gästen. Der sympathische Mann mit dem gepflegtem Bart trägt einen Rosenkranz um sein Handgelenk und sieht seit Langem nicht mehr fern, um mehr Zeit für die Medizin und Freiwilligenarbeit zu haben. Er bezeichnet Oasa als „seinen geistigen Geburtsort“. Ein gewöhnlicher Tag im Camp beginnt und endet mit einem Gottesdienst. Das Programm besteht zum Teil aus Vorträgen zu religiösen Themen sowie Unterricht in biblischer Musik und patriotischem Gesang. Den Gästen können auch Aufgaben wie Holzhacken oder das Säubern der Toiletten zugewiesen werden. Die Mahlzeiten sind einfach, Gespräche während des Essens nicht erwünscht. Es gibt keinen Fernseher und kein Internet und die Verwendung von Mobiltelefonen ist aufgrund des schwachen Netzes praktisch unmöglich. Um 21:30 Uhr wird das Licht ausgeschaltet. Die Gäste nächtigen in nach Geschlechtern getrennten Schlafsälen.

„Wenn du Arzt bist, dann muss Gott Chef deiner Abteilung sein.“

— Kardiologe Ciprian Fisca

Die alltäglichen politischen Turbulenzen und Wirtschaftsprobleme Rumäniens scheinen in Oasa weit weg zu sein. Im Sommer riecht die frische Bergluft morgens nach Kiefern und frisch gemähtem Gras. Würde der Dritte Weltkrieg ausbrechen, so erführe man es hier zuletzt. Der Vorschlag für ein auf MedizinerInnen und MedizinstudentInnen zugeschnittenes Camp stammte von Teodora Span, einer wortgewandten Frau Anfang zwanzig aus Sibiu. Die Idee kam ihr, als ihr auffiel, wie viele Gäste der regulären Sommercamps wie sie Medizin studierten. Obwohl ihr Vater Priester ist, habe sie sich nicht als gläubige Christin gesehen. Doch dann kam sie als Teenager nach Oasa und „begann, ernsthaft über den Glauben und die rumänische Nation nachzudenken“. Im Kloster zeigt sie ihr gesangliches Talent und leitet die Gäste beim Einstudieren patriotischer Lieder.

„Die Schulsysteme unterziehen dich einer Gehirnwäsche“

Das Programm für das Camp der MedizinstudentInnen umfasste einen Workshop über Erste-Hilfe-Techniken sowie Vorträge über Abtreibung, Zusammenhänge zwischen Ernährung und Erkrankungen, den christlich-orthodoxen Lebensstil und ein sich abzeichnendes „neues Paradigma“ in der Behandlung von Krebs. Star-Referent war Dr. Pavel Chirilă, ein 71-jähriger Mediziner und Unternehmer, der für seine konservativen christlichen Überzeugungen und seine Bukarester Klinik bekannt ist, die homöopathische Behandlungen anbietet – eine Form der alternativen Medizin, die von aktuellen Studien widerlegt wird. Der Mediziner ist ein scharfer Kritiker des Masernimpfprogramms der Regierung, auch wenn er es während seines Vortrags vermied, darauf einzugehen. Rumänien erlebte dieses Jahr den schlimmsten Masernausbruch seit Jahrzehnten. Etwa 10.000 Menschen wurden mit dem Virus infiziert und 35 starben, die meisten von ihnen Säuglinge.

Chirilă holte in seiner Rede weit aus, gab Tipps zur Lebensführung und sprach über Krebstherapien. Er erwähnte auch die Homosexualität als Quelle vieler Krankheiten und bezeichnete sie als einen vom Westen forcierten „Trend“. Chirilă ist Gründungsmitglied der „Koalition für die Familie“, einer konservativen Bürgerinitiative, die eine Verfassungsänderung anstrebt, mit dem Ziel, die Ehe ausschließlich als Verbindung zwischen „Mann und Frau“ zu definieren und dadurch gleichgeschlechtliche Ehen in Rumänien unmöglich zu machen. Ein weiterer Referent im Oasa-Camp, der Biophysiker Virgiliu Gheorghe, übte heftige Kritik an der schulmedizinischen Ausbildung. „Alle Schulsysteme wollen dich einer Gehirnwäsche unterziehen“, erklärte er seinem Publikum. In einer von BIRN gehörten Tonaufnahme des Vortrags sprach Gheorghe auch vom Fasten als Therapie für Krankheiten wie Schizophrenie und Krebs.

Der Vormarsch der „christlichen Medizin“ ist laut Dr. Mihai Craiu, Professor für Pädiatrie an der Medizinischen Universität Carol Davila für Medizin in Bukarest, ein „Rückschritt“. Für den praktizierenden Christen ist die moderne Medizin ein Geschenk Gottes. Er kritisiert die Arroganz jener, die für auf alten Überzeugungen beruhende Behandlungen plädieren. „Ich glaube nicht, dass irgendeine der wesentlichen Religionen der Welt den medizinischen Fortschritt verbietet,“ erklärte er gegenüber BIRN. Diaconu, der Psychiater und Kommentator von Viata Medicala, ist der Ansicht, dass alle Ärztinnen und Ärzte das Recht haben, ihre Meinung zu äußern – es sei jedoch ethisch bedenklich, dies ohne handfeste Beweise zu tun. „Die Verbreitung von Informationen ohne medizinische Nachweise steht im Widerspruch zu einer vorbildlichen Berufsausübung“, meinte er. Zwar hätten Medizinerinnen und Mediziner das Recht, an Exerzitien teilzunehmen, doch sollten sie die medizinische Praxis nicht durch „Pseudomedizin“ ersetzen.

Von BIRN per Telefon befragt, rechtfertigten sowohl Gheorghe als auch Chirilă ihre Vorträge in Oasa und deklarierten sich als Verfechter eines spirituelleren Ansatzes in der Medizin, der in der Schulmedizin auf wenig Gegenliebe stößt. Gheorghe erklärte BIRN, dass er das Fasten nicht als Ersatz für konventionelle Krebstherapien wie Chemo- oder Strahlentherapie gepriesen habe. Vielmehr könne Fasten eine ergänzende Therapie sein, die zusätzlich zu diesen Behandlungen wirkt. Er dementierte außerdem jegliche Andeutung, er würde eine Pseudowissenschaft unterstützen. Mit dieser Bezeichnung werden seiner Meinung nach gemeinhin Forschungen bagatellisiert, die nicht von großen Pharmaunternehmen unterstützt werden. Chirilă verwahrte sich auch gegen jegliche Andeutung, dass er eine Pseudowissenschaft praktizieren würde, auch wenn eine Vielzahl aktueller medizinischer Studien den therapeutischen Wert der Homöopathie in Zweifel ziehen. „Das ist deren Problem, nicht meines“, meinte er über seine Kritiker. „Es ist mir egal, wer meine Methoden anzweifelt. Ich selbst stelle jede Medizin infrage, die so starke Nebenwirkungen hat, dass sie einen Patienten vor deinen Augen tötet.“ Nach seiner Einstellung zur Homosexualität befragt, erklärte Chirilă, dass er gegenüber Homosexuellen keinerlei „Abneigung“ verspüre und sie mit „Empathie“ behandle.

Bei den CampteilnehmerInnen stoßen die in seinem Vortrag geäußerten Meinungen trotz alledem auf offene Ohren. „Homosexualität ist nicht natürlich“, meint Ciprian. „Sie ist abnormal.“ Derlei Ansichten sorgen in säkularen und liberalen Kreisen für Beunruhigung. Während Kritiker keiner Ärztin bzw. keinem Arzt das Recht absprechen, ihren oder seinen Glauben im privaten Rahmen auszuleben, sehen sie im Vormarsch der „christlichen Medizin“ eine Bedrohung für Wissenschaft und Gesellschaft. Sie bezichtigen die Kirche des Versuchs, ihr konservatives Programm mithilfe der Medizin voranzutreiben. „Solange der christliche Glaube angehender Medizinerinnen und Mediziner eine persönliche Angelegenheit ist, gibt es kein Problem“, meint Toma Patrascu, Präsident des rumänischen Verbands säkularer Humanisten. „Sobald aber einhundert Menschen mit derselben Ansicht an einem Ort versammelt sind, dann ist das keine persönliche Angelegenheit mehr, sondern eine öffentliche. Eine Gruppe Gleichgesinnter ist mehr als die Summe ihrer Teile. Sie entwickelt ihre eigene Dynamik.“

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Seit mehr als zehn Jahren veranstalten die Mönche des hoch oben in den Karpaten gelegenen Oasa-Klosters am Fuße des Oasa-Sees jährliche Sommercamps für gläubige junge Rumäninnen und Rümanen, die ihren Glauben besser verstehen und das Klosterleben kennenlernen wollen. Das Programm für das Camp der MedizinstudentInnen treibt ein “neues Paradigma” in der Medizine voran. Foto: © istock / xalanx

Ein Sprecher des Erzbistums Alba Iulia, dem das Kloster von Oasa untersteht, zerstreute Befürchtungen hinsichtlich einer Indoktrinierung von Studierenden der Medizin und beharrte darauf, dass das Sommercamp einzig eine klar ersichtliche Mission erfülle. „Wir repräsentieren die Kirche, deshalb propagieren wir die wohlbekannten moralischen und kulturellen Werte der Kirche und des Christentums“, erklärte Priester Oliviu Botoi gegenüber BIRN. „Wir könnten zum Beispiel keine Konferenz über die Prinzipien des Atheismus abhalten.“ Er fügte hinzu, dass junge Menschen das Recht hätten, sich für Grundsätze stark zu machen, die „nicht nur in einer rumänischen Tradition, sondern in einer europäischen – einer christlichen –Tradition verwurzelt sind.“

Inkubatoren des Nationalismus

Die „christliche Medizin“ gewinnt in Rumänien tatsächlich an Bedeutung. Sie nimmt in den Buchhandlungen einen eigenen Bereich ein und führende Vertreter dieser Disziplin absolvieren öffentlichkeitswirksame Auftritte bei Konferenzen und im Fernsehen. Sie zitieren aus der Bibel, um ihre Behauptungen über den therapeutischen Nutzen des Betens und Fastens zu untermauern oder gegen die Sünden der Abtreibung und Homosexualität zu Felde zu ziehen. Die Popularität der „christlichen Medizin“ kann als lokale Facette eines umfassenden historischen Trends verstanden werden – dem Aufschwung der orthodoxen Kirche in Ländern Osteuropas, die einst unter kommunistischer Herrschaft standen. Seit Kurzem lässt sich in Rumänien ein anderes regionales Phänomen beobachten – das Wiederaufleben des Nationalismus und die heftige Gegenreaktion gegen die mit der Europäischen Union assoziierten liberalen Werte. In diesem Klima scheint die konservative Botschaft der Kirche, mit ihrer Betonung der nationalen Identität und Traditionen, besonders passend.

Professor Cristian Pȃrvulescu, Dekan der Fakultät für Politikwissenschaften an der Nationalen Hochschule für Politik- und Verwaltungswissenschaften in Bukarest, argumentiert, dass die Verbundenheit der Medizinstudierenden mit der Kirche und dem Nationalismus an vergangene Zeiten erinnert. Im frühen 20. Jahrhundert waren rumänische Universitäten und medizinische Hochschulen ein Nährboden für ultranationalistische und antisemitische Ideologien. 1922 hinderten Studierende der medizinischen Fakultät in Cluj ihre jüdischen Kolleginnen und Kollegen – die die Hälfte der HochschülerInnen ausmachten – daran, Autopsien an christlichen Leichen durchzuführen. Die darauf folgenden Unruhen führten schließlich zu Anregungen, die Zahl der jüdischen Studierenden an Universitäten zu limitieren.

Aus den ultranationalistischen Ideologien Rumäniens ging die Eiserne Garde hervor, eine faschistische Bewegung, die in die mit den Nazis verbündete Regierung von Ion Antonescu geholt wurde. Die Eiserne Garde war ebenfalls sehr religiös und stellte die orthodoxe Kirche in den Mittelpunkt ihrer Vision für den rumänischen Staat. Viele der frühen Zusammenkünfte der Eisernen Garde fanden an den medizinischen Hochschulen in Bukarest und Iaşi statt. Auf ihre Vorbilder angesprochen, nannten die vergangenen Sommer in Oasa interviewten Medizinstudierenden keine Ärztinnen oder Ärzte der Gegenwart. Stattdessen erwähnten die meisten Nicolae Paulescu, einen rumänischen Mediziner aus dem frühen 20. Jahrhundert, der für seine bahnbrechende Insulinforschung bekannt ist. Paulescu war ebenfalls Antisemit und eine führende Persönlichkeit in der faschistischen Politik seiner Zeit.

Die Popularität der „christlichen Medizin“ kann als lokale Facette eines umfassenden historischen Trends verstanden werden – dem Aufschwung der orthodoxen Kirche in Ländern Osteuropas, die einst unter kommunistischer Herrschaft standen.

Der Theologe Radu Preda warnt jedoch davor, zu viele Parallelen zwischen der Gegenwart und dem frühen 20. Jahrhundert zu ziehen. „Wir sollten nicht den Fehler machen zu denken: Du bist ein treuer Christ, daher bist du auch Nationalist, Faschist, Rassist oder Antisemit“, meint er. Preda ist Dozent an der Fakultät für Orthodoxe Theologie der Babeş-Bolyai-Universität in Cluj. Er betont, dass die Bedingungen, die im frühen 20. Jahrhundert zum Faschismus führten, heute nicht gegeben sind. Die Studierenden jener Zeit seien etwa sehr empfänglich für radikale Ideen gewesen, weil sie die ersten in ihrer Familie waren, die auf die Universität gingen.

„Die Spiritualität eines Patienten entwickeln“

Inspiriert von ihrem Aufenthalt im Kloster haben einige AbsolventInnen von Oasa in ihren Heimatstädten Jugendgruppen gegründet. In Sibiu leitet Teodora nun eine Gruppe, die Freiwilligenarbeit für ältere Menschen leistet sowie Ausflüge nach Oasa organisiert. Zehn der 80 aktiven Mitglieder der Gruppe würden Medizin studieren, sagt sie. Ciprian leitet in seiner Stadt Tȃrgu Mureş eine ähnliche Gruppe. 40 ihrer 55 Mitglieder studieren Medizin. Ähnliche Gruppen wurden auch in den Städten Timișoara und Cluj gegründet; dort machen Studierende der Medizin ungefähr ein Fünftel der Mitglieder aus.

Lücken im System

Die Versäumnisse und Schwächen des medizinischen Establishments Rumäniens könnten durchaus zur wachsenden Popularität der „christlichen Medizin“ beigetragen haben. In Rumänien wurden medizinische Hochschulen von einer Reihe aufsehenerregender Skandale erschüttert. Leitende Professoren beschuldigte man des Finanzbetrugs sowie Bestechungsgelder und sexuelle Gefälligkeiten von ihren Studierenden eingefordert zu haben. „Angehende Ärztinnen und Ärzte treten in eine Zunft ein, die mit Bestechungs-, Korruptions-, und Diebstahls vorwürfen behaftet ist“, so Diaconu. Seit der Jahrtausendwende sind über 15.000 rumänische Ärztinnen und Ärzte ins Ausland gezogen – was zum Teil auf das angeschlagene Image des Berufsstands zurückgeführt wird. So wie desillusionierte Studierende ins Ausland abgewandert sind, so haben andere in der Kirche nach Orientierung gesucht.

„In Rumänien wird dem medizinischen Berufsstand keine Wertschätzung entgegengebracht“, meint Diaconu. „Wenn du dich abgelehnt fühlst und dann kommt ein Priester und sagt dir, ‚Es gibt da diesen Rückzugsort‘, dann wirst du dir das ansehen, weil es gut tut, dazuzugehören und sich willkommen zu fühlen.“ Religiöse Dogmen scheinen die Lücken im Bildungssystem zu füllen. Sie stillen Bedürfnisse und geben Antworten auf Fragen, die im Unterricht nicht berücksichtigt werden. Die von BIRN interviewten MedizinerInnen und MedizinstudentInnen erklärten, dass sich ihr Glaube durch ihre medizinische Ausbildung eher verfestigt habe, als dass sie ihn infrage stellten. Die Komplexität des menschlichen Körpers, wie sie in den Anatomievorlesungen deutlich wird, zeugt von einem göttlichen Schöpfer – ein vielfach genanntes Argument für die Existenz Gottes, auch bekannt als Intelligent-Design-Theorie.

Sie hatten überdies den Eindruck, dass die seelischen Auswirkungen sensibler Themen wie Abtreibung oder Euthanasie in den Ethikvorlesungen der Medizinhochschulen ignoriert werden würden. Maria Aluas, eine Dozentin für Bioethik an der Medizinischen Universität Iuliu Haţieganu in Cluj, bestätigte das: “Abtreibung ist eine Frage der Moral und wir beschäftigen uns nicht damit.“ Abtreibung ist in Rumänien ein besonders sensibles Thema. Sie wurde gemeinsam mit der Empfängnisverhütung 1966 vom kommunistischen Regime verboten. Ärztinnen und Ärzte, die Abtreibungen vornahmen, wurden verhaftet und Frauen, die eine solche wünschten, mussten zu gefährlichen Methoden greifen. Infolgedessen starben etwa 10.000 Frauen, und über 100.000 ungewollte Kinder endeten in heruntergekommenen staatlichen Waisenhäusern. Nach der Revolution 1989 wurden Schwangerschaftsabbruch und -verhütung legalisiert. Ärztinnen und Ärzten steht es jedoch frei, gewisse Eingriffe wie Abtreibungen, die mit ihren persönlichen Moralvorstellungen im Konflikt stehen, zu verweigern, wie das auch in Ländern wie Großbritannien und den USA der Fall ist.

Ciprian behauptet, dass der religiöse Glaube christlicher Ärztinnen und Ärzte nicht täglich auf die Probe gestellt wird, da Fälle von Abtreibung oder Euthanasie selten sind. Sein Glaube habe einen subtilen und positiven Einfluss auf seine Tätigkeit. Er mache ihn gewissenhafter, und in Fällen, in denen der Patient oder die Patientin ebenfalls Christ/in ist, entstehe automatisch Verbundenheit. Ciprian ist der festen Überzeugung, dass ein gesundes spirituelles Leben den Heilungsprozess unterstützen kann. Manchmal spricht er mit seinen Patienten auch darüber, aber nur dann, wenn er Zeichen des Glaubens entdeckt, wie ein Gebetbuch neben dem Krankenbett oder einen Rosenkranz am Handgelenk des Patienten oder der Patientin – so wie er einen trägt.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 5. Februar 2018 auf Balkaninsight.com.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


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Dieser Artikel wurde durch das Balkan Fellowship for Journalistic Excellence Alumni-Programm ermöglicht, das von der Open Society Foundation und der ERSTE Stiftung unterstützt und in Zusammenarbeit mit dem Balkan Investigative Reporting Network durchgeführt wird.

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