Blinde Justiz für Rumäniens verkaufte Roma-Kinder

Warum ist es nach fast einem Jahrzehnt noch zu keiner einzigen Verurteilung im Fall eines der größten Kinderhandel-Ringe Europas gekommen?

Für die rumänische Staatsanwaltschaft schien der Fall gegen die mutmaßlichen Anführer eines der größten Kinderhandel-Ringe Europas klar. Doch warum ist es nach fast einem Jahrzehnt noch zu keiner einzigen Verurteilung gekommen?

An einem milden Frühlingsmorgen betritt ein großväterlich wirkender Mann in der zentralrumänischen Stadt Tȃrgu Mureş den Saal 52 des Berufungsgerichts. Die Absätze seiner Halbschuhe klappern über das Parkett. Er trägt einen marineblauen karierten Blazer und eine cremefarbene Hose. Die weiße Baskenmütze hält er in der Hand. Der Mann nimmt auf einer leeren Bank im hinteren Teil des Saals Platz. Während er auf den Beginn seiner Verhandlung wartet, streicht er sich über das Kinn und mustert die beiden Richter vor ihm. Sein Name ist Constantin Radu (66), aber jeder nennt ihn Titi.

Ihm und 25 anderen Männern wird vorgeworfen, unzählige Roma-Kinder nach Westeuropa verschleppt zu haben, wo sie zu kriminellen Aktivitäten gezwungen wurden. Zwei der Angeklagten sind seine Söhne. Langsam füllt sich der Gerichtssaal mit den Beschuldigten und ihren Anwälten. Erst als alle anderen Plätze bereits besetzt sind, setzt sich wer in die Bank hinten zu Titi. Unterdessen überfliegt Titi eine Handvoll zerknitterter Papiere, auch wenn er den Inhalt bereits in- und auswendig kennt. Seit neun Jahren steht darin, was seine Verteidigungsstrategie ist. „Er ist der eigentliche Drahtzieher“, meinte Bernie Gravett, ein ehemaliger Kommissar der Londoner Metropolitan Police, der die Ermittlungen leitete, die die Männer vor Gericht brachten. „Die Spitze der Pyramide.“

Laut Staatsanwaltschaft ist Titi – selbst ein Rom – die Nummer eins einer berüchtigten Bande aus Ţăndărei, einer Kleinstadt im Südosten Rumäniens, wo pompöse, vor Wohlstand strotzende Villen direkt neben schäbigen Baracken stehen. „Es ist wie eine Militäroperation“, beschreibt Gravett den mutmaßlichen Einsatz einer Armee von Kindern zum Betteln und Stehlen. Sogar ein acht Wochen altes Baby wurde in den Dienst der Sache gestellt – als Requisite beim Betteln, mit Drogen ruhiggestellt. Den Ermittlern zufolge erstreckte sich Titis Imperium über weite Teile Europas: Spanien, Italien, Frankreich und sogar bis nach Norwegen – in erster Linie aber Großbritannien. Nach einer noch nie dagewesenen gemeinsamen Ermittlung, die vier Jahre dauerte, wurden Dutzende Personen rumänischer Nationalität in Großbritannien und Rumänien verhaftet.

Doch die Mühlen der Justiz mahlen von Land zu Land anders. In Großbritannien wurden rund 100 Personen wegen Verbrechen verurteilt, die von Menschenhandel und Geldwäsche bis hin zu Sozialbetrug, Urkundenfälschung und Kindesvernachlässigung reichten. In Rumänien lautete das schockierende Urteil im Februar für alle 26 Angeklagten Freispruch – nach neun Jahren Prozess, der immer wieder ins Stocken geraten war. Während die Staatsanwaltschaft Berufung einlegte und die Männer nun wieder auf der Anklagebank sitzen, sahen viele das Urteil als Beweis dafür, dass Rumäniens Rechtsystem zu schwach – oder zu mangelhaft – ist, um den Gangstern und der Korruption, die diesen zum Erfolg verhilft, die Stirn bieten zu können. „Das zur Bekämpfung transnationaler organisierter Netzwerke eingerichtete Strafrechtssystem steht in Rumänien offenbar vor dem Kollaps“, erklärten 25 Menschenrechtsgruppen nach dem Urteil in einer Petition, mit der sie an internationale Gremien appellierten, Rumänien für die Bekämpfung des Menschenhandels „zur Verantwortung zu ziehen“. In einem Land, in dem wegen Korruption verurteilte Politiker dafür bekannt sind, das Recht zu ihren Gunsten beugen zu wollen, hat der Fall einen Nerv getroffen. Er erregte in Rumänien auch bei jenen Aufmerksamkeit, die die erbärmliche Bilanz des Staates, was den Schutz seiner schwachen Bürgerinnen und Bürger betrifft, satt hatten.

Das Fass zum Überlaufen brachte ein damit nicht zusammenhängender Fall eines 15-jährigen Mädchens in Südrumänien, das entführt, vergewaltigt und ermordet wurde, obwohl es die Polizei drei Mal um Hilfe gerufen hatte. Die Tragödie offenbarte die erschütternde Inkompetenz der Polizei und Staatsanwaltschaft sowie mutmaßliche Verbindungen zwischen Vollzugsbehörden und organisierten Verbrecherbanden, einschließlich Menschenhändlerringen. Aus den Daten der Europäischen Kommission geht hervor, dass knapp drei Viertel der in EU-Staaten identifizierten Opfer von Menschenhandel aus Rumänien stammen – da sind mehr als 1.500 im Zweijahreszeitraum 2015-2016. Das US-Außenministerium stufte Rumänien in seinem jüngsten Bericht über Menschenhandel herab und bezeichnete 2018 als das schlimmste Jahr seit mehr als einem Jahrzehnt, was die Verurteilung von Menschenhändlern oder die Identifizierung von Opfern im Land betrifft.

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Rumäniens Bilanz beim Thema Menschenhandel. In rot die Anzahl der mutmaßlichen, in blau die verurteilten Menschenhändler. Die schwarze Kurve zeigt die Anzahl der identifizierten Opfer von Menschenhandel in Rumänien. Infografik: © Marta Klawerzeczy

Als im Frühjahr dieses Jahres das Berufungsverfahren gegen Titi und seine Mitangeklagten begann, ackerte sich BIRN monatelang durch Gerichtsakten und befragte Personen, die mit dem Fall zu tun hatten, um das Ausmaß und die Komplexität der mutmaßlichen kriminellen Organisation in Ţăndărei zu verstehen. Wie sich herausstellte, gibt es eine in sich geschlossene und marginalisierte Roma-Gemeinschaft unter der Kontrolle der lokalen Mafia, die es auf arme Familien abgesehen hat und deren Kinder durch eine abscheuliche Form der Schuldknechtschaft versklavt. Die Gerichtsakten und Befragungen von Fachleuten zeigen auch auf, wie ein Prozess scheitern konnte, der gemeinhin als Test für Rumäniens Engagement im Kampf gegen moderne Sklaverei verstanden wurde. Für Anthony Steen, einen ehemaligen britischen Abgeordneten, der den Prozess aufmerksam verfolgte, handelte es sich um einen „sehr tragischen Fall von Justizirrtum“. „Es gab weder von Seiten der Politik noch von Seiten des Gerichts Druck, die Angelegenheit zu klären“, erklärte er gegenüber BIRN.

Goldbarren und Kalaschnikows

An einem normalen Schultag spielen Kinder in den staubigen Straßen von Ţăndărei mittags Fußball. Auf dem alljährlichen, nahe des Stadtzentrums stattfindenden Jahrmarkt fahren sie Autodrom und schießen mit Spielzeuggewehren. Die 13.000 Einwohner zählende Stadt liegt inmitten einer Tiefebene, auf halbem Weg zwischen der Hauptstadt Bukarest und dem Schwarzen Meer im Osten. Die höchsten Gebäude sind die vierstöckigen Wohnblocks aus der Zeit des Kommunismus. Was jedoch hervorsticht, sind die Luxusvillen mit ausladenden Balkonen und kunstvollen schmiedeeisernen Toren – viele davon aus den Erlösen krimineller Aktivitäten finanziert, sagen Ermittler. Kommt man von der Hauptstraße ab, läuft man Gefahr, in einem Schlagloch zu landen oder im Schlamm stecken zu bleiben. Das schreckt die Fahrer der Luxuskarossen, die überall in der Stadt zu sehen sind, nicht ab: BMWs, Mercedes, sogar ein Porsche ist darunter. Bei einigen Fahrzeugen befindet sich das Lenkrad wie in Großbritannien auf der rechten Seite.

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Ein BMW parkt auf einer unbefestigten Straße in Ţăndărei neben einem imposanten Haus mit kunstvollem schmiedeeisernem Zaun. Foto: © Andrei Pungovschi

Die Menschen haben Angst, mit den Medien zu sprechen. Sie hüten sich davor, fotografiert zu werden, selbst bei öffentlichen Veranstaltungen wie dem alljährlichen Jahrmarkt, wo einem auch damit gedroht werden kann, „die Fresse poliert zu bekommen“, wenn man die Bilder nicht löscht. Mit der bislang herrschenden Ruhe in Ţăndărei war es am 8. April 2010 vorbei, als etwa 300 vermummte rumänische und britische Polizeibeamte 34 Villen stürmten, während über ihnen die Helikopter kreisten. Die örtlichen Behörden wurden nicht vorab alarmiert. Die frühmorgendliche Razzia, die auf einem von der rumänischen Polizei veröffentlichten Video festgehalten wurde, förderte Geldbündel, Goldbarren, Geburtsurkunden und Waffen – darunter auch Kalaschnikows – zu Tage, die unter dem Fußboden versteckt waren. Die Polizei holte einige Verdächtige – alle Roma – direkt aus dem Bett. Achtzehn wurden sofort festgenommen, darunter auch Titi. Neben dem Handel von Minderjährigen, für den bis zu 12 Jahre Haft drohen, wurden die Männer wegen Bildung einer organisierten kriminellen Vereinigung, Geldwäsche und Verstößen gegen das Waffengesetz angeklagt. Alle bestreiten die Vorwürfe. Die Staatsanwaltschaft entschied, die mutmaßlichen Menschenhändler in dem 350 Kilometer von Ţăndărei entfernten Kreis Harghita in Zentralrumänien vor Gericht zu stellen, um die Bande davon abzuhalten, auf den Prozess Einfluss zu nehmen.

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Infografik: © Marta Klawerzeczy

Die Razzia und das anschließende Gerichtsverfahren waren das Ergebnis einer beispiellosen Ermittlung, die 2006 aufgenommen wurde, nachdem eine Tschechin mit drei Roma-Kindern aus Ţăndărei in Großbritannien gelandet war. Die Einwanderungsbehörden am Londoner Flughafen Stansted waren misstrauisch geworden, als sie bemerkten, dass sich die Kinder nicht mit der Frau verständigen konnten. Sie wurde später für den Versuch, die Kinder illegal ins Land zu bringen, zu drei Jahren Haft verurteilt. Kommissar Gravett von der Londoner Metropolitan Police übernahm den Fall, nachdem er hunderte rumänische Roma-Kinder beim Laden- und Taschendiebstahl im Zentrum Londons erwischt hatte. Seinen Aussagen zufolge seien von rumänischen Staatsbürgerinnen und -bürgern verübte Straftaten nach dem Beitritt Rumäniens zur Europäischen Union in nur drei Monaten um beinah 800 Prozent gestiegen. In den meisten Fällen handelte es sich um von Roma-Kindern verübte Diebstähle. Gravett erinnerte sich an ein 13-jähriges Mädchen, das mehr als zehn Mal unter verschiedenen Namen und Geburtsdaten verhaftet wurde.

„Da wurde uns klar, dass man uns zum Narren hielt“, erzählte er BIRN während eines Interviews in einem Café in der südostenglischen Stadt Brighton. Er nahm einen Laptop heraus und öffnete eine PowerPoint-Präsentation über den Fall Ţăndărei. Gravett, der nach 31 Jahren bei der Polizei mittlerweile im Ruhestand ist, arbeitet nun als Berater und bringt Polizeibeamten am Beispiel dieses Falls den Umgang mit Menschenhandel näher. Dann bat er um eine Serviette – „Ich zeichne gern auf weiße Servietten“, sagte er – und kritzelte Kreise, Pfeile und Pyramiden darauf, um die Zirkulation von Personen und Geld zu veranschaulichen. Kurz nach dem EU-Beitritt Rumäniens erfuhr Gravett, dass die Polizei des Beitrittskandidaten der Europol, der Strafverfolgungsbehörde der EU, eine Liste mit 1.087 Namen von Kindern und 67 mutmaßlichen Bandenmitgliedern übermittelt hatte, die überwacht werden sollten. Nach Einschätzungen der Europol handelte es sich dabei um einen der größten Menschenhändlerringe Europas. Bei der Überprüfung der Liste stellte Gravett fest, dass etwa 200 der minderjährigen Personen in London wegen Bagatelldelikten festgenommen worden waren. Er bemühte sich um EU-Mittel, um weiter ermitteln zu können.

“Es gab einen Vater, der versuchte, sein acht Wochen altes Kind der Bande anzubieten. Er versuchte es drei Mal.”

— Bernie Gravett, ehemaliger Kommissar der Londoner Metropolitan Police

So kam es zur Operation Golf – die erste von zwei Ländern gemeinsam geführte EU-Ermittlung in Sachen Menschenhandel. Im Jahr 2008 stellte die Europäische Kommission der britischen und rumänischen Polizei eine Million Euro zur Verfügung, um der kriminellen Vereinigung ein Ende zu setzen. Die Ermittler fanden heraus, dass Bandenchefs arme Roma-Familien in Rumänien kontaktierten und ihnen vorschlugen, ihre Kinder ins Ausland zu bringen, damit sie dort Geld verdienen konnten. Den Eltern wurden dafür pro Kind 1.000 Euro verrechnet, so Gravett. Die Bande gab ihnen das Geld in Form eines verzinsten Kredits, wodurch sich die Familie dauerhaft verschuldete. Also schickte sie ein weiteres Kind und noch eines, bis die ganze Familie im Ausland gelandet war und für die Bande arbeitete. „Es gab einen Vater, der versuchte, sein acht Wochen altes Kind der Bande anzubieten“, erzählte Gravett. „Er versuchte es drei Mal.“

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Ein Mann bearbeitet auf dem alljährlichen Jahrmarkt von Ţăndărei einen Boxsack. Foto: © Andrei Pungovschi

Die Bande vermittelte die Kinder dann an Familien weiter, die unter ihrer Kontrolle standen. Gravett nannte den Fall einer 13-Jährigen, die nach Slough nahe London gebracht wurde. Wenn man sie nicht gerade zum Betteln zwang, wurde sie als Haussklavin gehalten. Ihr Vater wurde schließlich zu fünf Jahren Freiheitsstrafe in einem britischen Gefängnis verurteilt, weil er seine eigene Tochter verkauft hatte. Die Ermittlungen ergaben, dass er auch noch andere Mädchen im Auftrag der Bande unter seiner Kontrolle hatte, sogar in Spanien. Während einer Razzia in Slough wurden von der Polizei 211 Menschen in 16 Häusern aufgegriffen, in denen entsetzliche Zustände herrschten. Die Roma-Kinder schliefen zusammengepfercht auf dem Fußboden. Die Kühlschränke waren größtenteils leer. Die meisten der zwischen 10 und 17 Jahre alten Kinder und Jugendlichen hatten ein „enormes Vorstrafenregister“, so Gravett. Den Ermittlern zufolge wurde Großbritannien aufgrund seines relativ großzügigen Sozialsystems von der Bande bevorzugt. Mit gefälschten Dokumenten kassierten sie Sozialhilfeschecks, wobei ihnen zuweilen so eklatante Fehler wie „30. Februar“ unterliefen.

Reichtum und Macht

Gravetts Schätzungen zufolge könnte die Bande seit 2002 bis zu 10.000 Kinder ins Ausland verschleppt haben – weit mehr als bei den gemeinsamen Ermittlungen festgestellt wurde –, wobei jedes Kind etwa 160.000 Euro pro Jahr einbringt. Ein Großteil der Profite sei an Titi geflossen und wurde per MoneyGram und Western Union überwiesen oder von Schlägertypen bündelweise nach Rumänien gebracht. Titi wollte sich nicht dazu äußern, als er von BIRN nach einer seiner Berufungsverhandlungen im Gerichtsgebäude darauf angesprochen wurde. Seine Verteidigungsstrategie ist jedoch nach wie vor dieselbe: Er behauptet, Opfer einer Verwechslung zu sein. Laut Anklageschrift spielte Titi bei der Rekrutierung der Kinder eine federführende Rolle und bestimmte auch, wer sie ins Ausland bringen sollte. In der Anklageschrift aufgeführte Telefonmitschnitte zeigen, dass Titi in regelmäßigem Kontakt mit der örtlichen Polizei stand, die ihn warnte, wenn es Probleme gab. Aus abgehörten Gesprächen geht außerdem hervor, dass er einem Mann, der mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, gegen Geld versprach, ihn vor dem Gefängnis zu bewahren.

Dem Vernehmen nach wird Titi in Ţăndărei respektiert und gefürchtet. Ein rumänischer Polizeibeamter, der an dem Fall arbeitete und anonym bleiben wollte, meinte, dass Titi bei den Roma als „oberster Richter“ gilt. Vor Gericht bestritt Titi im November 2018 sämtliche Vorwürfe: Er habe weder Minderjährige rekrutiert noch Geld verliehen, noch sei er vor Ort als Anführer bekannt. „Ich habe auf niemanden in unserer Gemeinschaft Einfluss“, erklärte er. Er habe auch keine Kenntnis über die in der Anklageschrift erwähnten Telefonate und besitze einen Waffenschein für die in seinem Haus sichergestellten Waffen, die er für die Jagd benutze. „Jemand hat den gleichen Namen wie ich“, sagte er, „und ich bin wahrscheinlich an seiner Stelle hier und das Geld, das man mir angeblich geschickt hat, wurde in Wirklichkeit im Namen dieser anderen Person versandt.“

Ţăndărei ist von massiver Abwanderung betroffen. Etwa 80 Prozent seiner Einwohnerinnen und Einwohner arbeiten nach hiesigen Schätzungen aufgrund der Arbeitsplatzknappheit im Ausland. Fast alle Fabriken, die während des Kommunismus florierten, wurden geschlossen. Rund ein Viertel der Bevölkerung Ţăndăreis sind Roma, die nach Ungarinnen und Ungarn zweitgrößte ethnische Minderheit in Rumänien. Wie auch anderswo leben viele Roma-Familien in extremer Armut, grundlegende Leistungen wie Bildung und Gesundheitsversorgung bleiben ihnen verwehrt. Diskriminierung ist weit verbreitet. Das größte Roma-Viertel in Ţăndărei heißt Strachina. Außenstehende dürfen dort nur mit Erlaubnis der Roma-Ältesten hinein. Laut Nicusor Lefter, einem Rom aus Ţăndărei, der mit Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeitet, um die Gemeinschaft zu unterstützen, seien die Villen der Stadt mit dem im Ausland verdienten Geld erbaut worden und nicht von heute auf morgen entstanden. „Alles, was Sie hier sehen, wurde von den Roma finanziert“, erklärte er. „Ohne die Roma gäbe es hier keine Geschäfte, weil viele Rumänen ausgewandert sind.“

“Ich bin unschuldig. Wir sind hier wegen der Taten eines anderen.”

— Gheorghe Drăguşin, mutmaßlicher Bandenchef

Gelu Duminică, Geschäftsführer der Stiftung Impreuna, die Roma-Gemeinschaften landesweit unterstützt, lud unmittelbar im Anschluss an die Ermittlungen in Sachen Menschenhandel eine Gruppe britischer Politiker nach Ţăndărei ein. Diese hätten sich mit etwa 30 der einflussreichsten Personen der Stadt getroffen, die sich über die rücksichtslose Vorgehensweise der Polizeirazzien beklagten. Wie sich herausstellte, waren mehr als die Hälfte der Anwesenden Angeklagte in dem Fall, so Duminică. Noch heute behauptet der Mann, der beschuldigt wird, der zweitwichtigste Mann nach Titi zu sein – Gheorghe Drăguşin alias „Frant“ –, dass er Berater der Bürgermeisterin von Ţăndărei, Nicoleta Toma, in Roma-Fragen sei. Toma lehnte eine Interviewanfrage ab und BIRN konnte Drăgușins Behauptung nicht verifizieren. „Ich bin unschuldig“, erklärte Drăguşin (57) gegenüber BIRN nach einer Berufungsverhandlung in Tȃrgu Mureş. „Wir sind hier wegen der Taten eines anderen.”

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Bernie Gravett, ehemaliger Kommissar der Londoner Metropolitan Police. Foto: © Ani Sandu

Der Staatsanwaltschaft zufolge organisierte Drăguşin Fahrten ins Ausland, bestach Grenzschutzbeamte und kassierte Geld von jenen, die zum Betteln gezwungen wurden. „Sind diese Kinder noch am Leben?“, fragte Drăguşin rhetorisch. „Haben wir sie umgebracht? Was soll das heißen, wir hätten diese Kinder von ihren Familien getrennt und diese wüssten nicht, wo sie sind?“ In Strachina betrachtet man die Bandenmitglieder laut Experten häufig als „moderne Robin Hoods“, die Geld von den Reichen im Ausland nehmen, um es den Armen zu Hause zu geben. „Das Traurige daran ist, dass wir verstehen müssen, dass es die Roma in der Vergangenheit schwer hatten, aber hier handelt es sich um organisierte Kriminalität der Roma, die niedrigere Clans, andere Roma und mittellose Familien aus ihrer eigenen Gemeinschaft ausnutzen“, erklärte Ex-Kommissar Gravett. „Ich war schon oft in Ţăndărei; die Gangster werden reich und die Armen bleiben verschuldet und am untersten Rand der Gesellschaft. Sie verraten die Bande sicher nicht.“

„Wir bringen deine Familie um“

Titi und die anderen Angeklagten wurden nach zehn Monaten Untersuchungshaft freigelassen – lange vor Beginn des Prozesses im Februar 2013. Alle Angeklagten beteuerten vor Gericht ihre Unschuld. Manche behaupteten, reingelegt worden zu sein. Andere gaben vor, sich an die Geschehnisse nicht erinnern zu können. Bei den Überweisungen aus Großbritannien habe es sich um ehrlich verdientes Geld von Verwandten gehandelt. Ein Cousin Titis sagte aus, er habe sein Haus und sein Auto in Ţăndărei mit dem Verkauf von Fahrzeugen, Zeitungen und Lebensmitteln in Spanien, Großbritannien, Italien und Frankreich finanziert. „Meine Kinder wurden noch nie von der Polizei verhaftet.“ Ein anderer erklärte, er habe 13 Kinder in Großbritannien und erhalte Sozialleistungen im Wert von etwa 200 Pfund (230 Euro) pro Kind. „Ich wusste nicht, und es ist mir auch nie in den Sinn gekommen, dass Kinder aus Ţăndărei rekrutiert werden, damit sie im Ausland betteln gehen.“ Wieder ein anderer behauptete, seit 2008 im Lieferservice in Großbritannien zu arbeiten. „Ich habe in England noch nie ein rumänisches Kind beim Betteln gesehen“, erklärte er dem Richter.

Titi engagierte einen der berühmtesten Anwälte Rumäniens, Cătălin Dancu, der Spitzenpolitiker und Geschäftsleute verteidigt und sich den Beinamen „Staranwalt“ erworben hatte. Der Prozess hat sich von Anfang an immer wieder verzögert. Es gab ein Problem mit der Anklage, die neu erhoben werden musste. Anhörungen wurden verschoben, da die Angeklagten ihre Anwälte wechselten. Einmal bat die Verteidigung um einen Aufschub, weil es schneite. Ein anderes Mal musste sich Titi einen neuen Rechtsbeistand suchen, nachdem sein Anwalt zum Leiter des rumänischen Generalkonsulats in New York ernannt worden war. Das größte Problem bestand aber darin, Zeugen zu finden, die bereit waren, auszusagen. Manche konnten nicht vorgeladen werden, weil sie gestorben waren. Viele gingen ins Ausland oder konnten nicht ausfindig gemacht werden. Ein Richter verhängte sogar eine Geldstrafe von rund 230 Euro gegen die örtliche Polizei wegen mangelnder Bemühungen, den Aufenthaltsort dieser Personen zu ermitteln. Immer wieder entschlugen sich Zeugen ihrer Aussage, weil sie mit dem Angeklagten verwandt oder verschwägert waren. BIRN zählte rund 20 solcher Ausnahmen.

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Mädchen vor einem Fahrgeschäft auf dem Jahrmarkt in Ţăndărei. Foto: © Andrei Pungovschi

Dazu kam die Tatsache, dass es in diesem Prozess keine geschädigte Partei gab. Wenn die Ermittler mutmaßlich verschleppte Kinder oder ihre Familien befragten, wurden sie als Zeugen geführt und nicht als Opfer. Das lag daran, dass sich die Kinder nicht als Opfer sahen, erklärte der rumänische Ermittlungsbeamte. Zunächst einmal bedeutete das Leben in Großbritannien eine Verbesserung im Vergleich zu ihrer Existenz in Ţăndărei. „Jetzt lebten sie in einem Haus“, erklärte er. „Sie hatten einen Fernseher in diesem Haus. Die Straßen waren gepflastert. Sie sahen dies als großen Vorteil.“ Im Laufe des Prozesses widersprachen die Zeugen ihren ursprünglichen Aussagen gegenüber der britischen Polizei. Sie behaupteten, freiwillig nach Großbritannien gekommen zu sein, um für sich selbst zu betteln. Für die Ermittler besteht kein Zweifel, dass viele aus Angst gelogen haben. „Oft wird ihnen auch gedroht: ‚Wir bringen deine Familie um‘“, meinte Gravett. Ein Zeuge schrieb dem Gericht, dass es zu gefährlich sei, auszusagen und widerrief später seine Aussage gegenüber der Polizei. Nur vier der 158 Zeugen bestanden auf Schutz ihrer Identität. Doch selbst dann gab es Probleme. Während einer Anhörung, die per Videoschaltung durchgeführt wurde, konnte ein geschützter Zeuge aufgrund einer technischen Panne die Angeklagten nicht sehen, als er aufgefordert wurde, diese zu identifizieren.

„Fahrlässigkeit oder vorsätzliche Täuschung“

Als das Gericht in Harghita im Februar 2019 zu einem Urteil kam, zählte der Prozess bereits 53 Verhandlungstage. Der Richter stellte fest, dass mit Dezember 2018 einige der Anklagepunkte verjährt waren. Dazu zählten Verstöße gegen das Waffengesetz und die Bildung einer organisierten kriminellen Vereinigung. Im Zuge der 2014 vorgenommenen Änderungen des Strafgesetzbuches war die Verjährungsfrist verkürzt und das Strafmaß für bestimmte Delikte reduziert worden. Was die Anklagepunkte Menschenhandel und Geldwäsche betraf, so entschied der Richter, dass die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten. In seiner Urteilsbegründung führte er aus, dass die Klärung der Sachverhalte „in Ermangelung von geschädigten, während der strafrechtlichen Ermittlung identifizierten Parteien verhindert wurde“ – ein Verweis auf das Fehlen offizieller Opfer.

Über Titi heißt es: „Aus den Beweisen in diesem Fall und unter Berücksichtigung insbesondere der Zeugenaussagen geht nicht hervor, dass er mit falschen Versprechungen an der Rekrutierung, Unterbringung und Beförderung einiger Minderjähriger beteiligt war.“ Er fügte hinzu, dass Aufzeichnungen von Telefongesprächen zwischen Titi und der örtlichen Polizei „auf andere Straftaten hindeuteten, jedoch nicht auf jene, die dem Angeklagten zur Last gelegt wurden“. Silvia Tabusca, Professorin der Rechtswissenschaften und Koordinatorin des Human Security Programme am European Centre for Legal Education and Research, einer in Bukarest ansässigen Menschenrechtsgruppe, meinte, sie finde es seltsam, dass das Urteil unmittelbar nach Ablauf der Verjährungsfrist erging. Sie warf dem Staatsanwalt außerdem vor, nicht konsequent genug gearbeitet zu haben. „Es handelt sich entweder um grobe Fahrlässigkeit oder vorsätzliche Täuschung“, erklärte sie.

“Es handelt sich entweder um grobe Fahrlässigkeit oder vorsätzliche Täuschung.”

— Silvia Tabusca, European Centre for Legal Education and Research

Auf Anfrage von rumänischen Abgeordneten das Urteil betreffend, gab der damalige Generalstaatsanwalt Augustin Lazăr eine Erklärung zur Verteidigung des Staatsanwalts ab. Er hielt fest, dass der Staatsanwalt rechtlich nicht in der Lage gewesen sei, ein schnelleres Verfahren zu beantragen und bis zuletzt auf Verurteilungen wegen Menschenhandels und Geldwäsche gedrängt habe. Mădălina Mocan vom Zentrum für Demokratieforschung, einem Thinktank in Cluj Napoca im Nordwesten Rumäniens, ist der Ansicht, dass sich Fälle von Menschenhandel in Rumänien viel zu sehr auf Aussagen von Opfern stützen – eine schwierige Anforderung angesichts der Tatsache, dass Prozesse Jahre dauern können und es an psychologischer Beratung fehlt, bevor man den Zeugenstand betritt. „Ohne eindeutige Zeugenaussagen steht der Fall auf wackeligen Beinen“, meinte sie. „Ich interessiere mich [mehr] für das lukrierte Geld, das beweist, dass beispielsweise ein Jaguar mit Gewinnen aus dem Menschenhandel finanziert wurde.“ Bei Menschenrechtsfällen in Großbritannien können Urteile allein auf der Grundlage solcher Beweise gefällt werden.

Nach einem Aufschrei gegen das Urteil wies das Gericht von Harghita in einer Erklärung darauf hin, dass man über zu wenige Richter verfüge und überfordert sei. Es wurde auf die Dimension des Ţăndărei-Falls verwiesen, an dem – die Angeklagten und Zeugen miteingerechnet – mehr als 200 Personen beteiligt waren. Die Anklageschrift allein füllte 600 Seiten. Bis 2019 hatten sich genügend Akten angehäuft, um fünf große Einkaufswagen zu füllen. Letztlich konnte die Justizaufsichtsbehörde, deren Aufgabe es ist, die Arbeit von Richterinnen und Richtern zu überprüfen und die laut Kritikern unter politischer Kontrolle steht, nach vier Prüfungen des Falls keine Mängel an dem Verfahren feststellen. In einer Erklärung an BIRN hielt die Behörde fest, dass die Dauer des Verfahrens auf die Komplexität des Falls und die Menge der Beweise zurückzuführen sei. Der Richter sei mit einem „beträchtlichen Arbeitsvolumen“ konfrontiert gewesen und es habe von Mai 2017 bis Februar 2019 keine ungerechtfertigten Verzögerungen gegeben.

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Anthony Steen, ehemaliger britischer Abgeordneter und derzeitiger Leiter der Human Trafficking Foundation. Foto: © Ani Sandu

Der an der Untersuchung beteiligte rumänische Ermittlungsbeamte meinte, es wäre wahrscheinlich besser gewesen, den Fall auf kleinere, leichter zu bewältigende Brocken aufzuteilen. Der einzige Erfolg habe darin bestanden, dass „diese Gruppe aus Ţăndărei viel Geld für Anwälte ausgegeben hat“. Der ehemalige britische Abgeordnete Steen, der die Londoner Human Trafficking Foundation [Stiftung gegen Menschenhandel] leitet und die Polizei auf einigen der britischen Razzien begleitete, meinte, der Fall wäre in Großbritannien niemals gescheitert, solange es stichhaltige Beweise gegeben hätte. „Ich weiß nicht, ob es sich um Korruption, Mangelhaftigkeit oder Unfähigkeit handelt oder – was ich eher vermute – um eine Verbindung zu jemandem, der sehr reich ist oder jemandem bei der Polizei oder in der Politik oder auch eine Mischung aus all dem, der in Wirklichkeit verhindert hat, dass die Dinge vorangehen.“ Ex-Kommissar Gravett bedauerte, zugestimmt zu haben, die mutmaßlichen Bandenbosse in Rumänien und nicht in Großbritannien anzuklagen. „Wenn wir das getan hätten, säßen sie alle im Gefängnis“, meinte er.

„Schützt die Schwachen“

Der Ţăndărei-Prozess rückte die Roma-Gemeinschaft in einem Land, in dem die Roma-feindliche Stimmung überwiegt, in ein negatives Licht. Duminică von der Impreuna Agency for Community Development ist jedoch der Ansicht, dass man den Fall nicht im Hinblick auf die ethnische Zugehörigkeit betrachten sollte, da es in Wirklichkeit um das Versagen des Staates gehe, die Schwachen zu schützen. Zum einen hätten die hiesigen Behörden und die Kinderschutzeinrichtungen feststellen müssen, dass die Roma-Kinder vermisst wurden, meinte Duminică, selbst ein Rom.
„Straftäter gehen immer Risiken ein. Es ist die staatliche Institution, die mit dem Straftäter gemeinsame Sache macht, die ihn unantastbar werden lässt.“ Die Lösung bestehe darin, den Roma mehr Chancen zu eröffnen, fügte er hinzu. „Zunächst gilt es, Recht anzuwenden“, sagte er. „Staatliche Institutionen müssen ihren Job erledigen.“ In Zukunft brauche die Gemeinschaft nachhaltige Alternativen, wie sich auch ohne „ein Bettler, Menschenhändler oder was auch immer zu sein, Geld verdienen lässt”. Der ehemalige britische Abgeordnete Steen ist derselben Meinung. „Hier werden Menschen missbraucht, die ohne eigenes Verschulden in einer bedauerlichen Lage sind, völlig mittellos, in bitterer Armut leben und dieser Situation entkommen wollen. Und deshalb sind sie für Menschen, die Dinge versprechen, eine leichte Beute.“

Aus Protokollen von Gemeinderatssitzungen geht hervor, dass Bürgermeisterin Toma aus Ţăndărei eine bereits seit Langem geschlossene Schule in Strachina zu einer medizinischen Klinik und einem Bildungszentrum für Roma umbauen will. „Wir müssen irgendwo anfangen“, erklärte sie in einer Ratssitzung im März und wies darauf hin, dass im Viertel nur zehn der 373 Kinder im schulpflichtigen Alter eine Schule besuchen. „Ob es uns gefällt oder nicht, sie sind Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt.“ Wenn nichts für die Kinder getan werde, dann „dürfen wir uns nicht wundern, wenn sie uns auf der Straße die Köpfe einschlagen“, fügte Toma hinzu. Gespräche mit der rumänischen Regierung, der Weltbank und der Stadt Madrid zur Finanzierung des Projekts seien im Gange, meinte sie. Die Bürgermeisterin von Madrid, wo viele Roma aus Ţăndărei leben, besuchte die Stadt im vergangenen Herbst. Die Madrider Bürgermeisterin Manuela Carmena (mittlerweile nicht mehr im Amt) hielt gemeinsam mit hiesigen Funktionären eine Pressekonferenz, bei der sie mit einem der Angeklagten an einem Tisch saß. Dann fuhr sie nach Strachina und besuchte einige Häuser. Umringt von Roma sprach sie auf der Straße mit der Presse über die Notwendigkeit, „rumänischen Bürgerinnen und Bürgern, die von hier sind und in Madrid leben, ein würdevolles Leben zu ermöglichen“. Bürgermeisterin Toma aus Ţăndărei sprach später von der Notwendigkeit, gute Lebensbedingungen in der Stadt zu schaffen, damit „unsere Bürgerinnen und Bürger hier bleiben“.

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Kinder auf einer aufblasbaren Rutsche auf dem Jahrmarkt in Ţăndărei. Foto: © Andrei Pungovschi

Über dem Gesetz?

Polizeiquellen und Menschenrechtsgruppen zufolge sei die Ţăndărei-Bande nach wie vor in Ländern wie Großbritannien, Frankreich und Spanien aktiv – oft werden Kinder von einem ins nächste Land gebracht. „Sie tun, was sie seit Jahren machen und scheinen über dem Gesetz zu stehen“, meinte Gravett. Ein Kinderrechtsexperte, der die Aktivitäten der Bande in Frankreich verfolgt, erzählte BIRN, dass seit 2004 im Großraum Paris zwischen 200 und 300 Kinder aus Ţăndărei betteln und stehlen. Der französische Soziologe Olivier Peyroux hat in den vergangenen Jahren im Zuge seiner Recherche für ein Buch über die Ausbeutung von Kindern in Osteuropa rund 50 von ihnen kennengelernt. Darin ist auch ein Kapitel über Ţăndărei enthalten. Nach den von Großbritannien und Rumänien gemeinsam geführten Ermittlungen habe die Bande ihre Strategie geändert: Eltern hätten begonnen, ihre Kinder viel öfter zu begleiten, um die Rädelsführer zu schützen. „Ganz allmählich haben sie die Familien in das Netzwerk integriert“, erklärte er BIRN. „Sie passen sich irgendwie den Methoden der Ermittler an und finden einen Weg, um den Eindruck zu erwecken, die Familien nutzen ihre eigenen Kinder aus.“

“Ganz allmählich haben sie die Familien in das Netzwerk integriert. Sie passen sich irgendwie den Methoden der Ermittler an und finden einen Weg, den Eindruck zu erwecken, die Familien nutzen ihre eigenen Kinder aus.”

— Olivier Peyroux, französischer Soziologe

In Italien gab die Polizei im Mai bekannt, dass sie 40 Roma aus Ţăndărei und der nahegelegenen Stadt Fetești erwischt hätten, die der Beteiligung an mehr als 100 Raubüberfällen verdächtigt wurden. In Großbritannien ist laut Angaben der Heilsarmee, die erwachsenen Opfern moderner Sklaverei beisteht, die Zahl ausgebeuteter Rumäninnen und Rumänen im vergangenen Jahr beträchtlich angestiegen. Noch höher ist die Zahl der Opfer, die um Hilfe suchen, nur unter Menschen albanischer und vietnamesischer Nationalität. Im Mai postete eine Britin in der nordenglischen Stadt Ashton Market nahe Manchester Handyaufnahmen in einer Facebook-Gruppe, die eigens eingerichtet wurde, um Straftaten in der Gegend zu melden. Darin wirft sie einem jungen Mann und einer jungen Frau – vermutlich beide Roma – vor, Parfum von ihrem Marktstand gestohlen zu haben.

Das Video wurde vielfach geteilt und mit unzähligen fremdenfeindlichen Kommentaren versehen. „Rumänisches Stück Dreck”, schrieb ein Social-Media-User. „SCHLIESST UNSERE GRENZEN, WERFT SIE RAUS“, ein anderer. Auch Einwohner aus Ţăndărei stießen auf das Video. Mehrere von ihnen posteten humorvolle Kommentare, die darauf hindeuteten, dass die mutmaßlichen Diebe in der Gemeinde hinlänglich bekannt waren. Der junge Mann wurde als ein 20-jähriger Einwohner von Ţăndărei identifiziert, der jetzt in Deutschland lebt und in Frankreich eine Haftstrafe verbüßte. Eine Analyse dutzender Facebook-Konten aus Ţăndărei zeigt, dass viele junge Männer – darunter einige Angeklagte in dem Fall sowie ihre Söhne – gerne persönliche Livestreams versenden. Manche bezeichnen sich als „Mafia“ oder „Boss“ und prahlen mit den Luxuswagen, die sie kaufen wollen. Andere Videos zeigen Leute aus Ţăndărei, die Verwandte in britischen Gefängnissen besuchen. In einem sieht man fünf junge Männer, die sich aus Verzweiflung darüber, dass ein Cousin im Gefängnis gelandet ist, betrinken und wehmütige Lieder hören. In einem anderen Video deutet eine Frau, deren Sohn in Großbritannien verurteilt wurde, auf ihre Handtasche und sagt, sie habe „genug Geld, um halb Ţăndărei zu begraben [ein teures Begräbnis zu bezahlen]“. Sie fügt hinzu: „Das ist, was es [wirklich] bedeutet, ein Gangster zu sein.“

Indes neigt sich das Berufungsverfahren in Tȃrgu Mureş dem Ende zu. Am 10. Dezember hielt das Gericht die elfte und letzte Verhandlung ab. Ein Urteil wurde für den 23. Dezember 2019 erwartet. Wie schon im ersten Prozess hatte das Gericht Schwierigkeiten, Zeugen zu finden. Und selbst wenn sich welche finden, sind diese nicht wirklich gesprächig. Während einer Anhörung im September befragten die Staatsanwälte einen Fahrer, der der Polizei erzählt hatte, er habe Roma-Kinder aus Ţăndărei für zwei der Angeklagten über die Grenze gebracht. Er zog seine ursprüngliche Aussage zurück, bestritt, die Angeklagten zu kennen und behauptete, sich nicht an viel zu erinnern. „Ich sehe, dass Sie sich [nur] an das erinnern, was Sie wollen“, gab der Richter spöttisch zurück. Nach ihren Social-Media-Posts zu urteilen, scheinen viele der Angeklagten nach fast einem Jahrzehnt vor Gericht unbeeindruckt.

Am ersten Tag des Berufungsverfahrens, dem 24. April, streamte einer der Angeklagten ein Live-Video von sich und einigen anderen Angeklagten, wie sie es sich in einem Bergresort 200 Kilometer südöstlich von Tȃrgu Mureş gutgehen ließen – nur wenige Stunden, nachdem sie das Gericht verlassen haben. Sie schienen bestens gelaunt zu sein, als ob sie Urlaub machen würden. „Die Pferde sterben nicht, wenn die Hunde es wollen“, sagte einer von ihnen. Auf dem Parkplatz des Resorts hupten sie ausgelassen wie Feiernde zu Silvester. Während sich auf dem Jahrmarkt von Ţăndărei im September Menschen jeden Alters auf Karussells vergnügten und Buben und Männer abwechselnd ihre Kraft an Boxsäcken testeten, tauchte Titi in weißem Hemd und cremefarbenen Hosen auf. Dazu trug er seine unverkennbare weiße Baskenmütze. In Begleitung von zwei Frauen und zwei Buben blieb er in der Nähe einer aufblasbaren Rutsche mit Tom-und-Jerry-Motiven stehen. Dort unterhielt er sich mit einem der Buben wie ein Großvater, der wichtige Ratschläge fürs Leben erteilt. Dann verschwanden sie alle wieder in der Menge.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 11. Dezember 2019 auf Balkaninsight.com. Die deutsche Übersetzung ist erstmals am 17. Jänner 2020 auf derstandard.at erschienen.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Ein Mann hält auf einem Jahrmarkt in der rumänischen Stadt Ţăndărei sein Kind im Arm. Foto: © Andrei Pungovschi

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence, unterstützt von der ERSTE Stiftung in Kooperation mit dem Balkan Investigative Reporting Network.

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