Wahrheit und Gerechtigkeit

Rumäniens zu Unrecht Beschuldigte

In keinem anderen EU-Land gibt es mehr unfaire Gerichtsverfahren als in Rumänien. Angesichts des heftig umstrittenen Justizsystems stehen Opfer von Justizirrtümern vor einem mühsamen Kampf.

Als die Polizei an einem eisigen Jännermorgen sein Haus umstellte, wusste Petrică Manolachi, dass es vorbei war. Der 29-jährige Handwerker war vor sechs Jahren untergetaucht. Er wollte auf keinen Fall zurück ins Gefängnis – wegen eines Raubüberfalls, den er nicht begangen hatte. Doch jetzt stürmten Polizeibeamte sein Haus in Iaşi im Nordosten Rumäniens, stießen seine Freundin und das schreiende Baby zur Seite und legten ihm Handschellen an. „Ich konnte einfach nicht glauben, dass man für etwas, das man nicht getan hatte, verhaftet werden könnte“, meint der mittlerweile 39-Jährige, wenn er an jenen Tag zurückdenkt. „Es war wie im Film, wenn jemand gegen die Justiz kämpft.“ Jener Tag im Winter 2010 bedeutete für Manolachi den Tiefpunkt eines Kampfes, der ihm, wie er sagt, die besten Jahre seines Lebens geraubt hatte – und ihn auch weiterhin aufzehrt, während er in einem Land mit der EU-weit schlechtesten Bilanz, was unfaire Gerichtsverfahren anbelangt, um Schadensersatz kämpft.


Geht es um die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und andere Versäumnisse, die laut Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ein ordentliches Gerichtsverfahren unmöglich machen, so nimmt Rumänien im Vergleich zu allen anderen 27 EU-Mitgliedstaaten einen Spitzenplatz ein. Außerhalb der Europäischen Union stellen nur Russland, die Türkei und die Ukraine einen noch traurigeren Rekord auf, wie aus den aktuellsten Zahlen des Gerichtshofs in Straßburg hervorgeht, dessen Jurisdiktion 47 Länder, die Mitglieder des Europarats sind, unterstehen. Faire Gerichtsbarkeit ist in einem Land wie Rumänien ein brisantes Thema. Seit Mitte 2016 treibt die regierende Sozialdemokratische Partei (PSD) weitreichende Gesetzesreformen voran, die ihrer Meinung dringend notwendig sind, um Richterinnen und Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte stärker als bisher für Fehlurteile zur Rechenschaft ziehen zu können. Zu den Reformen zählen die Schaffung einer mit Ermittlungen gegen Justizbedienstete befassten Sondereinheit sowie neue Befugnisse für den Justizminister zur Ernennung von Generalstaatsanwälten. Die meisten Vertreter der Justiz und viele internationale Beobachter sind jedoch der Ansicht, dass es bei diesen Änderungen eher darum gehe, die Unabhängigkeit der Gerichte einzuschränken und weniger darum, die Rechte rumänischer Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Den Reformen gehen jahrelange, im Fokus der Öffentlichkeit stehende Korruptionsverfahren gegen hochrangige Beamte voraus.


Während die Reformen das Land spalten, meinen Befürworter einer fairen Prozessführung, dass die Kontroverse von den eigentlichen Mängeln im Justizsystem ablenke – von ausufernden Rechtsverletzungen durch Ermittlungsbeamte der Polizei bis hin zu mangelhaftem staatlichen Rechtsbeistand und einer Praxis im Gerichtssaal, in der die Angeklagten allzu oft für schuldig befunden werden, bis ihre Unschuld bewiesen ist. Kritikern zufolge verschärfen sich die Ungerechtigkeiten bisweilen durch lange Untersuchungshaften – sogar bei Bagatelldelikten – sowie Fehler durch überforderte Richter, die kaum Zeit haben, um Beweise abzuwägen. In Rumänien gibt es keine Schwurgerichtsverfahren, weshalb die Richter allein für ihre Urteile verantwortlich sind. Remus Budai, ein Staatsanwalt der Generalstaatsanwaltschaft in Bukarest, stellte einen Vergleich mit einer Sportveranstaltung an, um zu illustrieren, wie es sich zuweilen anfühlt, in einem Justizsystem zu arbeiten, das alles andere als perfekt ist. „Wenn du dir ein Fußballspiel im Fernsehen anschaust, dann siehst du, wenn sich der Schiedsrichter irrt“, erklärte er dem Balkan Investigative Reporting Network (BIRN). „Drückt man dir aber die Pfeife in die Hand, dann wirst du nicht immer wissen, was du damit tun sollst.“

Petrică Manolachi auf einer Bank in Iaşi. Manolachi kämpft um Schadensersatz für ein Leben, das seiner Meinung nach durch ein Fehlurteil zerstört wurde. Foto: © Lorelei Mihala

„Keine Chance“

Während er seinen geliebten Rover-Oldtimer achtsam durch die Straßen von Iaşi steuert, das Lenkrad mit schwarzen Lederhandschuhen umfasst, erinnert sich Manolachi an eine Zeit, als all die Missstände des Rechtssystems sich gegen ihn verschworen zu haben schienen. Sein Albtraum begann 2002: Er war 22 Jahre alt und hatte soeben erst den Pflichtwehrdienst beendet. Eines Tages wurde er von der Polizei vorgeladen und zu einer lokalen Straftat verhört. Drei Männer hätten angeblich an der Tür einer 80-jährigen Frau geläutet und vorgegeben, Geld für die Kirche zu sammeln. Zwei von ihnen seien dann in die Wohnung eingedrungen und hätten Bargeld und Schmuck erbeutet. Manolachi verbrachte drei Tage in einer Gefängniszelle. Er verweigerte die Aussage, bis man ihm schließlich einen Anwalt zuwies.

Er behauptet, von vier Polizeibeamten geschlagen worden zu sein. Seine Eltern brachten diese Anschuldigung vor die Militärstaatsanwaltschaft, die für Beschwerden gegen die Polizei zuständig ist. Doch laut dieser reichten die Beweise nicht aus, um die Behauptung zu bestätigen. Manolachi wurde als Mittäter in diesem Raubüberfall angeklagt und verbrachte die nächsten acht Monate und drei Wochen in Untersuchungshaft in einem Hochsicherheitsgefängnis in Iaşi, wo er sich eine mit 30 schmalen Stockbetten ausgestattete Zelle mit beinah 50 anderen Männern teilen musste. Manolachi wurde beschuldigt, vor dem Haus des Opfers Wache gestanden zu haben, während zwei andere Männer die Wertsachen der Frau an sich nahmen. Er hatte ein Alibi: Er sagte, er wäre zur besagten Zeit bei seiner Freundin gewesen. Hoffnung, man würde ihm glauben, hatte er keine, dazu fehlte ihm das Vertrauen in das Justizsystem.

Geht es um die Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren, so nimmt Rumänien im Vergleich zu allen anderen 27 EU-Mitgliedstaaten einen Spitzenplatz ein.

„Ich hatte mich bereits darauf eingestellt, meine Zeit abzusitzen“, erzählt Manolachi in einem Interview bei sich zuhause in Iaşi. „Das ist Rumänien und du hast keine Chance, da rauszukommen.“ Zu seiner Erleichterung sprach ihn das Gericht mangels Beweisen frei. (Die beiden anderen Männer wurden verurteilt – Ghiciuc Bogdan Dumitru zu sechs Jahren und sechs Monaten, Damian Constantin zu fünf Jahren und vier Monaten.) „Als ich die Haftanstalt verließ, meinte der Beamte: ‚Lassen Sie mich das noch einmal überprüfen — ich habe schon seit Jahren nicht mehr erlebt, dass jemand freigesprochen wurde‘“, erinnert sich Manolachi.

Seine Entlassung entpuppte sich jedoch bald als grausamer Scherz. Die Staatsanwaltschaft legte Berufung ein und der Freispruch wurde aufgehoben. Angesichts einer drohenden Gefängnisstrafe von fünf Jahren zog er vor das rumänische Höchstgericht, den Obersten Gerichts- und Kassationshof. Er verlor. Da entschloss er sich, unterzutauchen. „Du verlierst komplett die Kontrolle — du hast keine Ahnung, wohin du gehen sollst, wenn du weißt, dass du freigesprochen wurdest und jetzt verurteilt bist“, sagt er. „Fünf Jahre, die dir einfach genommen werden, … dabei hast du nichts Unrechtes getan.“ Manolachi entging der Festnahme durch häufige Wohnsitzwechsel und bar bezahlte Gelegenheitsjobs. Noch während seiner Flucht reichte er beim EGMR Beschwerde ein. Die Jahre vergingen, er erhielt jedoch keine Antwort.

Die Polizei wurde schließlich kurz nach der Geburt seines Sohnes im Jänner 2010 seiner habhaft, nachdem man ihn aufgrund der Angaben in der Geburtsurkunde ausfindig gemacht hatte. Manolachi landete sofort wieder im Gefängnis, auch wenn die Haftstrafe wegen der jahrelangen Flucht nicht verlängert wurde. Er verbüßte beinah drei Jahre in zwei verschiedenen Haftanstalten, bevor er im August 2012 auf Bewährung entlassen wurde. Während der Haft heiratete er seine Freundin. Im Jahr nach seiner Entlassung erreichte ihn plötzlich der Entscheid des EGMR, der urteilte, dass seine Rechte verletzt worden waren. Der EGMR hielt fest, dass Manolachi nach dem ursprünglichen Freispruch nicht ohne neue Beweise verurteilt hätte werden dürfen.

Auch habe das Gericht es verabsäumt, Manolachi oder Zeugen anzuhören, und seine Entscheidung allein basierend auf den gegenüber der Polizei gemachten Aussagen sowie Zeugenaussagen aus dem vorherigen Prozess getroffen. Der Fall wurde neu aufgerollt. Im April 2017 hob das Berufungsgericht in Iaşi die Verurteilung auf und sprach ihn frei. Manolachi klagt den Staat nun auf Schadensersatz – er fordert eine knappe Million Euro.

„Fehlurteile“

Laut Fair Trials, einer in Brüssel ansässigen NGO, die sich für Strafverfahrensrechte einsetzt, sind Gerichtsverfahren nur dann als fair anzusehen, wenn dem oder der Beschuldigten gewisse nicht verhandelbare Rechte zugesichert werden. Dies schließt das Recht auf anwaltliche Vertretung und Zugang zu Informationen sowie die Unschuldsvermutung mit ein. „Es obliegt dem Staat nachzuweisen, dass du schuldig bist, nicht dir zu beweisen, dass du unschuldig bist“, so Fair-Trials-Sprecher Gianluca Cesaro.

„Es obliegt dem Staat nachzuweisen, dass du schuldig bist, nicht dir zu beweisen, dass du unschuldig bist.“

— Gianluca Cesaro, FairTrialsSprecher

Daten des rumänischen Justizministeriums zufolge forderten zwischen 2011 und 2018 über 27.000 wegen einer Straftat in Rumänien verurteilte Personen anhand von Rechtsmitteln wie „Revision“ und „Nichtigkeitsklage“ eine Wiederaufnahme ihrer Verfahren. Die Gerichte stimmten 242 Neuverhandlungen zu und 17 Personen wurden infolgedessen freigesprochen. Ein Wiederaufnahmeverfahren ist zulässig, wenn neue Beweise vorgebracht werden oder wenn der EGMR entscheidet, dass die Rechte des oder der Angeklagten verletzt wurden. Ebenfalls zwischen 2011 und 2018 forderten 688 Menschen vor Gericht Schadensersatz, um Justizirrtümer „zu reparieren“. 80 hätten Anspruch auf finanzielle Entschädigung bekommen, so das Ministerium. Über die Höhe dieser Entschädigungssummen standen keine Daten zur Verfügung.

Mangel an ordentlichen Gerichtsverfahren in Rumänien. Das Kreisdiagramm zeigt die Anzahl an Verstößen gegen das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren in Rumänien 2017 laut der höchsten Instanz für Menschenrechte in Europa. Verstöße: Recht auf ein faires gerichtliches Verfahren / Unmenschliche oder erniedrigende Behandlung / Mangel an wirksamen Ermittlungen / Verfahrensdauer. Quelle: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte

Übergangene Beweise

Der bekannteste Fall eines Justizirrtums in Rumänien ist Marcel Tundrea, der wegen Vergewaltigung und Mordes an einem 14-jährigen Mädchen 1992 im Dorf Pojogeni im Süden des Landes zu 25 Jahren Haft verurteilt wurde.
Tundrea war 42, als er verurteilt wurde. Zwölf Jahre später konnte mit DNA-Proben, die zum Zeitpunkt seines ersten Prozesses nicht vorlagen, nachgewiesen werden, dass er nicht der Mörder war. Er wurde 2004 aus der Haft entlassen.
Remus Budai, Mitglied der Generalstaatsanwaltschaft, wurde ernannt, den ungelösten Fall nach Tundreas Entlassung zu bearbeiten.
„Ich war zu Beginn sehr voreingenommen, weil ich nicht glauben wollte, dass unser Justizsystem einen derart gravierenden Fehler machen könnte“, sagte er. „Es gab ein paar Dinge, die nicht richtig schienen.“ Im Zuge seiner Untersuchung stieß Budai auf Ungereimtheiten, die er Ion Diaconescu, dem für Tundreas Prozess zuständigen Staatsanwalt, zuschrieb. Dazu zählten das Übergehen wichtiger Beweismittel sowie das Versäumnis, Gheorghe Avram in den Zeugenstand zu rufen, der, wie der Polizei bekannt war, als einer der letzten das Mädchen lebend gesehen hatte. Der von BIRN eingesehenen Anklageschrift der Generalstaatsanwaltschaft zufolge kam Budai zu dem Schluss, dass Diaconescu Amtsmissbrauch begangen hatte – eine Straftat, die zum damaligen Zeitpunkt mit bis zu drei Jahren Haft geahndet wurde. Aufgrund der Verjährungsfrist von fünf Jahren für diese Art von Straftaten konnte jedoch keine Klage gegen Diaconescu erhoben werden. Dan Antonescu, vormals Leiter der Mordkommission der Bukarester Polizei, meinte: „Wir sprechen hier von einem Staatsanwalt, der vorsätzlich einige Beweise übergangen hat. Er wollte Tundreas Alibis nicht überprüfen, ein Fehler, der mindestens zwei, sogar drei Mal passierte.“
2010 ordnete Budai einen DNA-Test von Avram an, der bewies, dass dieser der Mörder war.
Tundrea erfuhr nie von Avrams Verurteilung.
Er starb 2007 an einer Lungenerkrankung, die er sich im Gefängnis zugezogen hatte. Er wurde posthum freigesprochen.

Laut eigenen Statistiken hat der in Straßburg ansässige EGMR im selben Jahr 49 Beschwerden wegen Verletzung von Rechten in Zusammenhang mit einem ordnungsgemäßen Gerichtsverfahren in Rumänien stattgegeben. Der EGMR urteilt nicht darüber, ob jemand unschuldig oder schuldig ist, sondern nur, ob gegen die Rechte dieser Person verstoßen wurde.

Neben elf Verstößen gegen das Grundrecht auf ein faires Verfahren betrafen die vom EGMR stattgegebenen Beschwerden 20 Fälle menschenunwürdiger bzw. erniedrigender Behandlung, 12 Fälle unsachgemäßer Ermittlungen und sechs Fälle übermäßig langer Verfahren. Das Gericht befasste sich 2017 mit 3.981 Anträgen aus Rumänien. Viele Urteile betrafen ältere Beschwerden, da es mehrere Jahre dauern kann, bis der EGMR zu einer Entscheidung gelangt.

Nur drei Mitgliedsländer des Europarats wiesen 2017 laut EGMR betreffend unfaire Verfahren eine noch schlechtere Bilanz auf. In Russland gab es 217 Verstöße gegen verschiedene Rechte auf ein ordnungsgemäßes Verfahren, während es in der Ukraine 78 und der Türkei 62 Fälle waren. Am anderen Ende der Skala befinden sich laut EGMR-Urteilen nur zehn Länder, die überhaupt keine Verstöße gegen das Recht auf ein ordentliches Gerichtsverfahren aufwiesen: Albanien, Andorra, Dänemark, Irland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Norwegen, San Marino und Schweden.

Befragt nach Rumäniens schlechter Bilanz hinsichtlich Entscheidungen des EGMR meinte Ana Mihaila, eine Sprecherin des Justizministeriums, dass das Land über den „konstitutionellen und infrakonstitutionellen und rechtlichen Rahmen“ verfüge, der notwendig ist, damit Menschen von ihrem Recht auf ein faires Verfahren Gebrauch machen können.

Cristi Danilet, ein Richter am Gerichtshof von Cluj im Westen Rumäniens und ehemaliges Mitglied des über die Unabhängigkeit der Justiz wachenden Obersten Rats der Magistratur (CSM), meinte, die Daten des EGMR würden ein irreführendes Bild vermitteln, da es sich zumeist um sieben oder acht Jahre zurückliegende Fälle handelte. Seit damals habe sich dank der Reformen des CSM die Verfahrensdauer verkürzt und die Wirksamkeit von Untersuchungen brutalen Vorgehens der Polizei und anderer Verfehlungen erhöht. Gerichte seien aber aufgrund falscher Aussagen skrupelloser Beamter nach wie vor nicht vor „Urteilsfehlern“ gefeit.

„Ich hatte da einen Fall, wo ein Polizist keinen Zeugen finden konnte, also bat er einen der diversen Informanten der Polizei um eine Aussage“, erzählte er. „Der Polizist schrieb selbst die Aussage, rief den Informanten zu sich und bot ihm etwas zu trinken an. Dieser wusste nicht einmal, was er da eigentlich unterschrieb.“ Der Richter weiter: „Wir [Richter] werden für Fehlurteile nicht zur Rechenschaft gezogen. Das gibt es in keinem anderen Land der Welt.“

Nachdem sie vom Vorwurf einer Straftat freigesprochen wurde, die sie nicht begangen hatte, gründete Daniela Tarau eine Vereinigung, um Opfern von Justizirrtümern zu helfen. Foto: © Robert Kallos

„In der Hölle gelandet“

Im Sommer 2000 war Daniela Tarau einige Wochen lang als Sekretärin für eine Firma in Bukarest tätig, die Personal für Jobs nach Israel vermittelte. Die 29-jährige Mutter machte Kaffee und nahm Anrufe entgegen, bis sie das Unternehmen wegen einer Gallengangoperation verlassen musste. Im darauffolgenden Jahr wurde sie von der Polizei als Zeugin in einem Betrugsfall, in den die Firma verwickelt war, vorgeladen. Sie wurde jedoch bald selbst zur Angeklagten. „Ich kam in der Früh dort an und kehrte erst zwei Jahre später zurück“, meint die mittlerweile 47-jährige Tarau. Ihr und fünf weiteren Mitarbeitern der Personalagentur wurde vorgeworfen, 44 Menschen betrogen zu haben, die dafür gezahlt hatten, einen Job im Ausland zu bekommen. Tarau machte geltend, zum Zeitpunkt der fraglichen Zahlungen nicht mehr für die Firma gearbeitet zu haben. Sie wurde 24 Stunden in einer Polizeizelle festgehalten, die nicht viel größer als ein Badezimmer war, mit vier an der Wand festgeschraubten Stockbetten.

„Ich dachte, ich wäre in der Hölle gelandet“, sagt Tarau. „Es war so heiß und total verraucht.“ Und dann begann das Martyrium der Untersuchungshaft. Zuerst forderte der Staatsanwalt Cristian Panait, dass Tarau fünf Tage, dann einen Monat lang, in Polizeigewahrsam bleiben sollte. Dieser Vorgang wiederholte sich 21 Mal, so als hätte jemand auf Autopilot gedrückt. Tarau erzählt, dass der 28-jährige Panait damals einen labilen Eindruck auf sie machte. Er habe sie angeschrien und ihr einmal sogar gedroht, sie aus dem Fenster zu werfen. „So wie ich das sehe … war der Staatsanwalt eine Art Gott, der bestimmte, wo mein Platz zu sein hatte. Und er bestimmte, dass ich genau da sein sollte … ungeachtet des Mangels an Beweisen in den Akten.“

Vom Rechtsbeistand im Stich gelassen

Die unzulängliche Vertretung seitens einiger Verfahrenshelfer in Rumänien trägt in großem Umfang zu unrechtmäßigen Verurteilungen bei, sagen Aktivisten, die sich für faire Verhandlungen einsetzen. „Sie sind äußerst schlecht vorbereitet“, meinte Cristi Danilet, ein Richter am Gericht in Cluj im Westen Rumäniens. „Sie bemühen sich nicht, sie interessieren sich nicht für den Fall, sie lesen die Akte nicht, sie sprechen nicht mit ihren Mandanten oder sie kommen einfach ins Gericht und sagen, ‚Wir überlassen es dem Ermessen der Richter‘“.
Nicoleta Andreescu, Leiterin der rumänischen Vereinigung zur Wahrung der Menschenrechte – Helsinki-Komitee, zitierte ein aktuelles Beispiel aus einem Gericht in Bukarest.
„Meine Kollegen waren im Gericht, als ein Anwalt die Entlassung eines seiner Mandanten forderte, mit der Begründung, dass dieser ein Kind zu Hause habe. Der Richter fragte den Anwalt: ‚Wissen Sie überhaupt, warum Ihr Mandant verhaftet wurde?‘ Er wurde beschuldigt, seine Tochter sexuell missbraucht zu haben.“
Den von BIRN angeforderten Daten des Justizministeriums zufolge beliefen sich die Ausgaben für Verfahrenshilfe 2017 auf knapp acht Millionen Euro.
Laut einer Studie der Nordirland-Versammlung aus dem Jahr 2010 über die Ausgaben für Verfahrenshilfe in verschiedenen europäischen Ländern wurden in Rumänien durchschnittlich 23 Euro pro Strafsache ausgegeben. Demgegenüber stehen die Niederlande mit 1.024 Euro und Irland mit 1.003 Euro. Gemäß einem Übereinkommen zwischen dem Justizministerium und dem rumänischen Dachverband der Anwaltskammern erhalten mit Strafsachen befasste Verfahrenshelfer je nach Art der Tätigkeit zwischen 30 und 112 Euro (130 bis 520 Leu) für jede Person, die sie vertreten.
Das durchschnittliche Nettogehalt in Rumänien beträgt rund 510 Euro im Monat.

Einige Monate später beging Panait Selbstmord. Manche Zeitungen schrieben seinen Tod dem politischen Druck zu, der auf ihn ausgeübt worden war: Er hätte in einem separaten Fall Ermittlungen gegen einen Kollegen anstellen sollen. 2015 brachte der rumänische Regisseur Tudor Giurgiu einen Film heraus, der lose auf den letzten Monaten des Lebens Panaits basiert. Wie auch immer Panaits Verhalten einzustufen ist: Tarau glaubt, dass der Staatsanwalt ihre Rechte mit Füßen getreten habe. Als sie im November 2002 schließlich wegen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten auf Bewährung verurteilt wurde, war sie bereits 21 Monate in einer Polizeizelle in Untersuchungshaft gesessen.

„Besorgniserregend aus unserer Sicht ist, wie unverhältnismäßig lange jemand in Untersuchungshaft genommen werden kann“, sagte Nicoleta Andreescu, Leiterin der rumänischen Vereinigung zur Wahrung der Menschenrechte – Helsinki-Komitee, einer Nichtregierungsorganisation aus Bukarest. „Die Untersuchungshaft ist meist Formsache, weil der Staatsanwalt 30 Tage fordert und der Richter dem stattgibt und im Grunde wird das dann automatisch verlängert. Vom Gesetz her darf man nicht länger als 180 Tage in Untersuchungshaft genommen werden, ohne einem Richter vorgeführt zu werden.“ Die fünf weiteren Personen, die man beschuldigte, die Kunden der Personalagentur betrogen zu haben – darunter eine im Unternehmen tätige Putzfrau und ihr Ehemann, ein Chauffeur – wurden ebenso verurteilt.

Nach ihrer Freilassung wandte sich Tarau mit Dutzenden Beschwerden an das Parlament, das Büro des Präsidenten und die Gerichte, beteuerte ihre Unschuld und suchte um Überprüfung ihres Falls an. Um herauszufinden, ob überhaupt jemand ihre Beschwerden las, kam ihr die Idee, die Seiten in der Mitte zusammenzuheften. „Ich bin dann in das Gerichtsarchiv gegangen … und sie waren noch immer zusammengeheftet“, erzählt sie.

Tarau legte Beschwerde beim EGMR ein, der 2009 urteilte, dass gegen ihr Recht auf ein faires Verfahren verstoßen worden war. Im Entscheid hieß es, man habe ihr einen angemessenen Rechtsbeistand verweigert und verhindert, dass Opfer ins Kreuzverhör genommen oder Zeugen aufgerufen wurden. Das Gericht war auch der Ansicht, dass die Dauer der Untersuchungshaft unverhältnismäßig lang war. Sechs Jahre später wurde ihr Fall vor Gericht in Bukarest neu aufgerollt und sie wurde freigesprochen. Tarau forderte daraufhin 900.000 Euro Schadensersatz und bekam schließlich 100.000 Euro zugesprochen.

„Gerechte Entschädigung“

Tarau erhielt außerdem eine „gerechte Entschädigung“ von 4.000 Euro, eine Form der Wiedergutmachung, die vom EGMR zugesprochen wird, jedoch vom betreffenden Land zu bezahlen ist. Der Betrag ist üblicherweise viel geringer als die Entschädigungssummen inländischer Gerichte. Dem Europarat zufolge, der als Menschenrechtsorganisation die Zahlung gerechter Entschädigungen überwacht, musste Rumänien in den vergangenen zehn Jahren 53,7 Millionen Euro an solchen Entschädigungen leisten.

Im Jahr 2017 zahlte Rumänien nach EGMR-Urteilen gerechte Entschädigungen in Höhe von 2,6 Millionen Euro. Demgegenüber stehen Dänemark und Norwegen, die keine Zahlungen leisten mussten, und Schweden, das letztes Jahr 5.000 Euro zahlte. Am anderen Ende der Skala befinden sich Russland und die Türkei mit 15 Millionen bzw. 12 Millionen Euro.

In Rumänien werden alle Schadensersatzzahlungen vom Finanzministerium getragen. Richter Danilet erklärte, dass das Ministerium Richter oder Staatsanwälte, die für Fehlurteile verantwortlich sind, theoretisch verklagen kann, um Geld zurückzufordern, in der Praxis passiere dies jedoch nie. „Ein Fehlurteil ist die Entscheidung eines Staatsanwalts oder Richters, die dem Gesetz oder dem Beweismaterial des Akts deutlich zuwiderläuft, ob vorsätzlich … oder aufgrund erheblichen Unvermögens“, meinte er.

Zu viele Fälle

In Rumänien sind Richterinnen und Richter gesetzlich verpflichtet, bestimmte Zeiten pro Woche spezifischen Aufgaben zu widmen: zwei Tage, um Akten zu lesen, zwei Tage, um Urteile zu schreiben und einen Tag für öffentliche Anhörungen. In der Praxis sind viele durch die hohe Anzahl von Fällen überlastet und gezwungen, sich nicht lange mit spezifischen Details aufzuhalten, meinen Befürworter von fairen Verfahren.

Den Daten des Obersten Rats der Magistratur zufolge, der das Justizsystem überwacht, befassen sich die Richterinnen und Richter des Obersten Gerichts- und Kassationshofs durchschnittlich mit etwa 1.000 Fällen pro Jahr.

Rumänische Richter: Durchschnittliche Anzahl der Fälle pro Jahr. Amtsgerichte / Landgerichte / Berufungsgerichte / Oberster Gerichts- und Kassationshof. Quelle: Oberster Rat der Magistratur

Im Vergleich dazu behandeln ihre Kolleginnen und Kollegen am Obersten Gerichtshof in Schweden dem schwedischen Zentralamt für Gerichtsadministration zufolge jährlich weniger als 500 Fälle.

Schwedische Richter: Durchschnittliche Anzahl der Fälle pro Jahr. Bezirksgericht / Berufungsgericht / Oberstes Gericht. Quelle: Schwedischer Justizkanzler

Richter und Staatsanwälte können mittels Disziplinarmaßnahmen oder Strafverfahren zur Rechenschaft gezogen werden, so Danilet weiter. Disziplinarstrafen reichen von Verwarnungen und Gehaltskürzungen bis zu Suspendierungen und dem Ausschluss aus dem Richteramt. Strafdelikte werden mit Haft geahndet. Der CSM hat 2017 eigenen Berichten zufolge 22 Disziplinarstrafen für Richter und zehn für Staatsanwälte verhängt. Der Rat machte keine genauen Angaben darüber, welche Strafen mit Fehlurteilen oder anderen Verfehlungen in Verbindung standen.

Gesetzgeber beriefen sich auf Fälle wie jene von Manolachi und Tarau, um die 2016 durch das Parlament gepeitschten Justizreformen zu rechtfertigen. Kritiker sehen in den Reformen eine offenkundige politische Reaktion auf eine Reihe von Korruptionsfällen, die ein Köpferollen unter hochrangigen Beamten zur Folge hatten – darunter PSD-Chef Liviu Dragnea, der im Juni wegen Amtsmissbrauchs zu dreieinhalb Jahren Haft verurteilt wurde. Die Berufung ist noch anhängig.

Internationale Stimmen, wie die Europäische Kommission und das US-Außenministerium, haben sich dem Chor der Kritiker angeschlossen. „Sie [die Reformen] enthalten eine Reihe von Maßnahmen, die die rechtlichen Garantien für die Unabhängigkeit der Justiz schwächen und geeignet sind, die tatsächliche Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten und damit das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Justiz zu untergraben“, schrieb die Europäische Kommission in einem Bericht Mitte November. Als problematisch aufgezeigt wurden unter anderem die Einrichtung einer besonderen staatsanwaltschaftlichen Abteilung für die Untersuchung von durch Richter und Staatsanwälte begangene Straftaten sowie die „Ausweitung der Gründe für die Abberufung von Mitgliedern des Obersten Richterrats“.

Im September protestierten etwa 300 Richterinnen und Richter schweigend vor dem Bukarester Berufungsgericht. Sie hielten Plakate hoch, auf denen „Für eine unabhängige Justiz“ zu lesen war. In Iaşi nimmt Petrică Manolachi jeden Baustellenjob an, den er kriegen kann, während er weiter für Schadensersatz kämpft. In seiner Freizeit bastelt er an seinem Auto herum und besucht Treffen eines Rover-Automobilklubs. Der EGMR sprach ihm eine gerechte Entschädigung von 3.000 Euro zu, er fordert jedoch weiteren Schadensersatz vor rumänischen Gerichten.
Im März entschied das Landgericht in Suceava gegen ihn, da seine Festnahme bzw. Untersuchungshaft nicht gesetzeswidrig gewesen sei, obwohl er später freigesprochen wurde. Das Berufungsverfahren am Berufungsgericht von Suceava läuft noch.

In Bukarest hat Daniela Tarau eine Vereinigung gegründet, um Opfer von Justizmissbrauch über ihre Rechte zu informieren und sie bei Wiedergutmachungsforderungen zu unterstützen. Sie heiratete einen Polizisten, machte einen Abschluss in Jura und absolvierte einen Masterstudiengang an der Polizeiakademie. Zudem promovierte sie mit einer Arbeit über die Bedingungen in rumänischen Gefängnissen und will ein Buch über das Thema schreiben. Wenn sie auf ihr Martyrium zurückblickt, kommt sie zu dem Schluss, dass ihr Fall einfach unbedeutend genug gewesen war, um durch die Risse eines kaputten Systems zu schlüpfen — mit verheerenden Folgen für sie selbst. „Es war kein wichtiger Fall“, meinte sie. „Es war einer jener Gerichtsakte, die einfach automatisch abgewickelt werden … ‚Wer ist das? Ein Niemand‘“.

Schweden leistet Wiedergutmachung für Justizirrtum

Fünftausend Kilometer von Rumänien entfernt auf El Hierro, der kleinsten der zu Spanien gehörenden Kanarischen Inseln, erinnert sich Kaj Linna, wie er, zu Unrecht des Mordes beschuldigt, 13 Jahre lang in einem schwedischen Gefängnis saß. „Ich war viele Monate, Jahre lang isoliert“, erzählt der 56-jährige Schwede. „Ihr könnt mich wütend machen, ihr könnt mich traurig machen, ihr könnt mich zum Weinen bringen, aber ihr könnt mich nicht brechen.“

Kaj Linna steht vor der Mauer eines Hauses auf der spanischen Kanareninsel El Hierro, das er wieder aufbauen will. Hier soll mit der höchsten je in Schweden für einen Justizirrtum ausbezahlten Entschädigungssumme ein Hotel entstehen. Foto: © Lorelei Mihala

Linna steht neben einer halbfertig gebauten Steinmauer auf einem Hügel mit Blick auf das Meer und erklärt, wie er mit der höchsten je in Schweden für ein Fehlurteil ausbezahlten Entschädigungssumme – 1,8 Millionen Euro (18 Millionen schwedische Kronen) – ein Hotel baut. Schwedens Justizkanzler erklärte BIRN, es habe sich dabei um eine „gütliche Einigung“ gehandelt, um Linna für seine Zeit hinter Gittern zu entschädigen, nachdem er 2017 entlastet worden war.

Sein Urteil wurde aufgehoben und Linna aus der lebenslangen Haft entlassen, nachdem Anton Berg, Produzent eines öffentlichen Radiosenders in Stockholm, begonnen hatte, selbst in diesem Fall zu ermitteln. „Ich fand heraus, dass es keine wirklich handfesten Beweise gab, keine DNA-Spuren oder Fußabdrücke“, erzählte Berg via Skype. „Tatsächlich hat niemand Herrn Linna am Tatort gesehen.“ Berg hat die Aussage eines Zeugen auf Band, der zugab, Linna zu Unrecht eines Raubmords im entlegenen Dorf Kalamark im Norden Schwedens beschuldigt zu haben. Das reichte aus, um eine Wiederaufnahme des Verfahrens vor dem Obersten Gerichtshof zu bewirken. „Ich wusste die ganze Zeit, dass ich freikommen würde, aber nicht, dass es 13 Jahre dauern würde“, sagt Linna. Während er im Gefängnis saß, wandte sich Linna an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, das Gericht entschied jedoch, dass seine Beschwerde unzulässig sei.

Vergangenes Jahr heiratete Linna seine Spanischlehrerin Petra Wullrich. Die beiden hatten sich während seiner Haft kennengelernt und verliebt. Als es mit ihrer Beziehung ernst wurde, kündigte sie und besuchte ihn weiterhin als seine Verlobte. Nach seiner Entlassung zogen die beiden nach El Hierro, um ein neues Leben zu beginnen. Linna hofft, dass auch in Schweden eines Tages ein gesetzliches Organ wie die britische Criminal Cases Review Commission (Kommission zur Überprüfung von Strafsachen) eingerichtet wird, die sich mit der Untersuchung mutmaßlicher Justizirrtümer befasst. Auch in Rumänien gibt es kein solches Gremium.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 18. Dezember 2018 auf Balkaninsight.com.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Lorelei Mihala, bearbeitet von Timothy Large. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Daniela Tarau wartete 21 Monate in einer Polizeizelle auf ihren Prozess – für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatte. Foto: © Robert Kallos

Dieser Artikel entstand im Rahmen des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence, unterstützt von der ERSTE Stiftung und den Open Society Foundations in Kooperation mit dem Balkan Investigative Reporting Network.

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

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