Westbalkan-Diaspora
Ungenutztes Potenzial und Bereicherung für die Region
Man kann ohne Übertreibung behaupten, dass die Zukunft des Westbalkans vom Engagement der Diaspora in ihren Herkunftsländern abhängt. Das Potenzial der Diaspora, die im Ausland gewonnenen Erfahrungen, das Wissen, die Netzwerke und die Visionen auf kreative Weise in ihr Land einzubringen, ist enorm und wohl der Schlüssel zum Erfolg der Region. Die Mehrheit der abgewanderten Bevölkerung, die von den Chancen eines Arbeitsaufenthaltes im Ausland profitiert hat, hat nach wie vor eine enge Bindung zum Heimatland und will ihr Wissen und ihre Erfahrungen mit ihren Landsleuten teilen.
Damit die Westbalkanstaaten jedoch in vollem Umfang von der Dynamik der internationalen Diaspora profitieren können, müssen seitens der Regierungen eindeutige und transparente Strukturen die Emigration betreffend geschaffen werden, die eine rasche Informationsweitergabe zwischen den Gemeinschaften sowie die Portabilität von Sozialleistungen zwischen Staaten ermöglichen. Mit anderen Worten: Um das Potenzial, die Ressourcen und Kapazitäten der Diaspora zur Unterstützung der Entwicklung ihrer Heimatregion nutzen zu können, muss sie in alle entsprechenden politischen Dialoge miteinbezogen werden. Politische Entscheidungsträger müssen einen klaren Rahmen für die Diaspora vorgeben, damit sie bei wichtigen und strategischen Entscheidungen auf staatlicher Ebene ein Mitspracherecht hat, was auch zur Schaffung eines förderlichen und positiven Umfelds zwischen Regierungen und ihrer Diaspora beitragen wird.
Dieses Unterfangen ist eine anspruchsvolle Aufgabe für jede Regierung, aber je früher die Westbalkanstaaten damit beginnen, das Potenzial der Diaspora zu erschließen, desto eher ist ein Nutzen zu erwarten. Wie auch andernorts zu beobachten ist, zeigt eine Diaspora-Politik erst Jahrzehnte später messbare Ergebnisse.
Um zu verdeutlichen, wie wichtig eine enge Verbindung zur Diaspora ist und um aufzuzeigen, wie die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften unmittelbare negative Folgen in den Herkunftsländern haben kann, wird in dieser Arbeit besonders auf die aktuelle Krise eingegangen, die durch die globale Covid-19-Pandemie verursacht wurde, sowie auf deren Auswirkungen in Ländern mit hohen Abwanderungsraten. Insbesondere mit Verweis auf die massive Abwanderung von medizinischem Personal wird hier die Ansicht vertreten, dass in den westlichen Balkanländern Möglichkeiten und Anreize geschaffen werden müssen, um Talente in der Region zu halten, aber auch enge Kontakte zu denjenigen zu pflegen sind, die das Land verlassen haben.
„Unser Gesundheitssystem ist stark belastet. Wenn sich das Virus weiterhin mit dieser Geschwindigkeit ausbreitet, werden wir nicht in der Lage sein, allen, die sie benötigen, eine angemessene und schnelle medizinische Versorgung zukommen zu lassen.“ Dieser Appell stammt von Marko Lugonja, einem praktischen Arzt und Spezialisten für Bauchchirurgie in der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, vom Juni 2020. Ähnliche Appelle waren auch anderswo in der Region zu hören.
Während die Zahl der Infizierten jeden Tag zunimmt, schlagen Ärztinnen und Ärzte aus den Westbalkanländern aufgrund ihrer zunehmenden Überforderung und der Überlastung des Gesundheitssystems Alarm. „Wir sind seit Langem am Limit”, erklärten junge, in den Kliniken der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina tätige Medizinerinnen und Mediziner.
Mit über 300 neuen Covid-19-Fällen pro Tag im August 2020 und mittlerweile Hunderten Toten haben die Länder der Region, insbesondere Serbien und Bosnien, mit den Auswirkungen der Pandemie schwer zu kämpfen. Die Kapazitäten der Krankenhäuser sind ausgelastet, es fehlt an medizinischem Personal, und die Ressourcen des Gesundheitssystems sind erschöpft.
Für Expertinnen und Experten der Region ist das Unvermögen des Gesundheitssystems des Westbalkans, mit den Folgen der globalen Pandemie fertig zu werden, nicht überraschend. Die Qualität der Gesundheitsversorgung in der Region nimmt bereits seit mehr als einem Jahrzehnt stark ab, was auf veraltete und desolate Ausstattung und medizinische Einrichtungen, aber auch auf den Rückgang hochqualifizierter Fachärztinnen und -ärzte zurückzuführen ist. Die massive Abwanderung gut ausgebildeter Ärztinnen und Ärzte war für die Region schon vor der Pandemie nicht unproblematisch; Covid-19 hat den Ernst der Lage jedoch deutlich gemacht.
Mit finanzieller Unterstützung der Europäischen Union wurden in den ersten Monaten der Pandemie Teilmaßnahmen zur Stärkung der Kapazitäten des Gesundheitssektors in der gesamten Region ergriffen. In Albanien wurden beispielsweise Mittel in Höhe von 3,5 Milliarden Lek (1 Million US-Dollar) für den Ankauf von persönlicher Schutzausrüstung (PSA) für das Gesundheitspersonal bereitgestellt. Ärztinnen und Ärzten erhielten Zulagen in Höhe von 1.000 Euro, Pflegekräfte 500 Euro. Nationale Regierungen wandten sich außerdem an alle verfügbaren medizinischen Fachkräfte. Am 10. März rief [Albaniens] Präsident Ilir Meta pensionierte albanische Ärztinnen und Ärzte dazu auf, ihre berufliche Tätigkeit wieder aufzunehmen. Fachkräften im Gesundheitsbereich und Studierenden der Medizin wurden Gehaltserhöhungen und Boni angeboten, und Ärztinnen und Ärzte im Ruhestand aufgefordert, wieder zu arbeiten. Ähnliche Aufrufe gab es in Bosnien, Serbien und dem Rest der Region, wo Regierungen verzweifelt versuchten, ausreichendes medizinisches Personal bereitzustellen. Tatsache ist jedoch, dass es nur noch eine begrenzte Anzahl an verfügbaren Ärztinnen und Ärzten, Pflegekräften und medizinischem Personal in der Region gibt, und dass auch die, die noch hier sind, möglicherweise ebenso mit dem Gedanken spielen, auszuwandern.
Export von medizinischem Personal
Die Gesundheitsversorgung der Bürgerinnen und Bürger der westlichen Balkanländer finanziert sich durch eine verpflichtende Krankenversicherung, die über ein Netzwerk von Gesundheitseinrichtungen organisiert ist. Aufgrund der jahrelangen Unterfinanzierung ist die Qualität des öffentlichen Gesundheitssystems gesunken. Gesundheitsfachkräfte sind zwar gut ausgebildet, die Ausstattung ist jedoch oft mangelhaft oder veraltet und die Gehälter niedrig. Daher ist die Abwanderung von Ärztinnen und Ärzten in westliche Länder ein zunehmendes Problem. Auch wenn die westlichen Balkanländer nicht zur EU gehören, ist es für Ärztinnen und Ärzte, Pflegekräfte und Gesundheitspersonal relativ einfach, in ein EU-Land zu ziehen, wo die Gehälter und Bedingungen weitaus besser sind.
Laut Angaben der Ärztekammer von Bosnien und Herzegowina haben im Jahr 2016 rund 300 hochqualifizierte Ärztinnen und Ärzte das Land verlassen. Im September 2019 gab das Kantonskrankenhaus Zenica in Bosnien in einer öffentlichen Erklärung bekannt, dass in der über 100.000 Einwohnerinnen und Einwohner zählenden Stadt Zenica keine neuropädiatrische Versorgung mehr gewährleistet ist. Zum Zeitpunkt der Ankündigung waren zahlreiche Kinder zu Kontrolluntersuchungen angemeldet, was dazu führte, dass diese Termine bis auf Weiteres verschoben wurden.
Die Ärzteflucht in den Westen in den vergangenen Jahren lässt sich in allen ehemals sozialistischen Ländern Südosteuropas und des Balkans beobachten. Ärztinnen und Ärzte aus Polen, Rumänien, Moldawien, Bulgarien, Slowenien, Kroatien, Bosnien, Serbien, Nordmazedonien, Albanien und dem Kosovo wandern zu Tausenden aus.
Zwischen Juni 2013 und März 2016 traten 4.213 Bosnierinnen und Bosnier eine Stelle im deutschen Gesundheitswesen an, wodurch sich die Gesamtzahl der in diesem Sektor in Deutschland tätigen Bosnierinnen und Bosnier auf 10.726 erhöhte. Nach Angaben der deutschen Bundesagentur für Arbeit waren im März 2016 in Deutschland 1.102 bosnische Ärztinnen und Ärzte beschäftigt, was einen Anstieg von 20 Prozent im Zeitraum von Juni 2013 bis März 2016 bedeutet. In den letzten Jahren hat sich dieser Anteil stark erhöht. Schätzungen zufolge arbeitet von sechs Ärztinnen und Ärzten in Bosnien eine bzw. einer in Deutschland.
Eine kürzlich in Albanien durchgeführte Studie der gemeinnützigen Organisation „Together for Life“ und der Friedrich-Ebert-Stiftung ergab, dass 78 Prozent der Ärztinnen und Ärzte Albanien verlassen wollen, davon 24 Prozent so schnell wie möglich. Als Hauptgründe wurden in der Studie mangelnde Professionalität am Arbeitsplatz, unzureichende Bezahlung und schlechte Arbeitsbedingungen genannt. Während Gesundheitsfachkräfte im Kosovo bestenfalls mit ein paar hundert Euro im Monat rechnen können, liegt das Einstiegsgehalt in Deutschland bei 2.000 Euro monatlich. Am Universitätsklinikum in Pristina, dem größten Krankenhaus des Kosovo, beträgt das Monatsgehalt einer Ärztin oder eines Arztes gerade einmal 632 Euro, das einer Pflegekraft 403 Euro.
Die serbische Ärztekammer stellt pro Jahr etwa 800 Unbescholtenheitsbescheinigungen aus. Der Gewerkschaft der Gesundheitsberufe im Kosovo zufolge hat das Land 400 medizinische Fachkräfte allein im Jahr 2013 verloren, ein Trend, der sich in den Folgejahren weiter fortgesetzt hat. In Nordmazedonien verließen Schätzungen zufolge 2013 und 2014 etwa 300 Ärztinnen und Ärzte das Land.
Harun Drljević, Präsident der Ärztekammer der bosnischen Föderation, meint dazu: „Die EU-Staaten bekommen ‚fertige‘ Mediziner, ohne irgendetwas in deren Aus- und Weiterbildung zu investieren. Fertig ausgebildet und kostenlos! Das ist ein großes Geschenk für die Gesundheitssysteme der EU-Länder.“
Bereits vor der Covid-19-Krise waren die Folgen der massiven Abwanderung des Gesundheitspersonals vor Ort spürbar. Mangels adäquatem Ersatz ist die Gesundheitsversorgung in diesen Regionen unzureichend oder schlichtweg nicht existent. Darüber hinaus führt die Abwanderung von Fachkräften im Gesundheitswesen zu einer sektoralen Unterversorgung, die besonders in Randregionen und bei älteren Menschen, Kindern und Frauen offenkundig ist. Die Ärzteflucht wirkt sich auf die Kapazitäten der Gesundheitssysteme ihrer Herkunftsländer aus und bringt diese Systeme an den Rand des Zusammenbruchs, führt aber auch zum Verlust von gesundheitlichen Versorgungsleistungen, Qualitätseinbußen in der Gesundheitsversorgung, fehlendem Mentoring, Forschung und Supervision.
Auf EU-Ebene hat man das Problem zumindest ansatzweise erkannt und vereinzelt diskutiert. Gleichzeitig profitiert die EU aber stark von dieser Abwanderung. Deutschland, die reichste Volkswirtschaft der EU, zählt zu jenen Ländern, die diesen Trend am stärksten forcieren. Heute werden im Rahmen des neuen deutschen Gesundheitsplans Personen mit neu zugewiesenen Mitteln im Ausland ausgebildet und auf die Arbeit im deutschen Gesundheitswesen vorbereitet. Neun Millionen Euro werden zusätzlich in die Ausbildung von Personal in anderen Sektoren für die Arbeit in Deutschland investiert. Kosovo, Nordmazedonien, Bosnien, die Philippinen und Kuba werden üblicherweise als mögliche Kooperationspartner aufgeführt. Angesichts der Tatsache, dass es in Deutschland derzeit mindestens 36.000 unbesetzte Stellen im Gesundheitswesen gibt, davon 15.000 in Seniorenheimen, überrascht dieses Projekt nicht. Zudem wird sich die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland voraussichtlich bis zum Jahr 2060 von 2,86 Millionen auf 4,5 Millionen erhöhen.
In den Monaten März und April 2020, als klar wurde, dass sich die Pandemie mit beispielloser Geschwindigkeit ausbreitet, ließ man in Österreich Pflegekräfte aus der bulgarischen Hauptstadt Sofia und der rumänischen Stadt Timisoara mit Charterflügen einfliegen, um eine 24-Stunden-Betreuung in Österreich weiterhin sicherzustellen. Interessant ist hier ein europaweiter Vergleich. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) gab es 2016 österreichweit knapp 52 Ärztinnen und Ärzte pro 10.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Das sind beinahe drei- bis viermal mehr als in Albanien und Bosnien und Herzegowina, wo es 12 bzw. 21 sind.
Was nun?
Wie lange noch kann der Westbalkan das anhaltende Problem der herausfordernden demografischen Entwicklung und hohen Abwanderungsraten ignorieren? Die Bevölkerung der Region altert: 15 Prozent sind 65 Jahre und älter; dieser Anteil wird bis zur Mitte des Jahrhunderts auf 26 Prozent ansteigen. Angesichts der Anzahl älterer Menschen, die mit Beginn der Pandemie zu einer gefährdeten Bevölkerungsgruppe zählen, ist die demografische Lage in den Balkanländern problematisch. Wenn die Region weiterhin qualifizierte Bürgerinnen und Bürger an ausländische Arbeitsmärkte verliert, wird dies wirtschaftliche, finanzielle und soziale Kosten verursachen, die nur sehr schwer zu bewältigen sein werden.
Angesichts eines prognostizierten Wirtschaftswachstums von weniger als 3 Prozent vor der Pandemie, das aufgrund der neuen Covid-19-Bedingungen stark rückläufig ist, kann sich kein Land in der Region eine derart starke Abwanderung wirklich leisten.
Um auf solche Herausforderungen reagieren zu können, müssen die Regierungen der Westbalkanregion die Talente hochqualifizierter Bürgerinnen und Bürger, die nicht ausgewandert sind, halten und nutzen. Die Einführung attraktiver Programme sowie die Förderung ihrer persönlichen Entwicklung sind maßgebend, um einen Braindrain zu verhindern. Programme, um die Abwanderung von Fachkräften zu verlangsamen, sind überfällig und müssen in die Politik der einzelnen Regierungen der Westbalkanstaaten einbezogen werden.
Zirkuläre Migration als Ausweg?
Während Rücküberweisungen nach wie vor einen wichtigen Beitrag zur finanziellen Unterstützung der Daheimgebliebenen auf dem Westbalkan leisten, haben diese Gelder bislang nur begrenzt dazu beigetragen, wesentliche Veränderungen in der Region anzustoßen, insbesondere im Bereich der Forschung und Wissenschaft. Das ist umso erstaunlicher, wenn man bedenkt, dass das durchschnittliche Bildungsniveau der Migrantinnen und Migranten aus Bosnien und Herzegowina nach der Emigration in ein anderes Land anstieg und die meisten ihre Ausbildung in ihrem jeweiligen Zielland fortsetzten. In ihrer jetzigen Form ist die zirkuläre Migration lediglich ein unstrukturierter Prozess, der von den Migrantinnen und Migranten selbst herbeigeführt und aufrechterhalten wird, wobei diese sowohl in ihren Herkunfts- als auch in den Zielländern Netzwerke unterhalten und von diesen Netzwerken auch unabhängig von jeglicher Beziehung oder Verbindung zur Regierung ihres Herkunftslandes profitieren.
Die bekannteste Form einer geregelten Migration im ehemaligen Jugoslawien waren die Gastarbeiterprogramme in den 1950er-, 1960er- und 1970er-Jahren, im Zuge derer Deutschland gezielt gering qualifizierte Arbeitskräfte im Industriesektor einsetzte. In jüngerer Zeit waren die Bemühungen der EU-Kommission, die zirkuläre Migration zu regulieren, relativ erfolgreich. Die Wirtschaftskrise im Jahr 2008 veränderte jedoch den Verlauf dieser Bemühungen.
Förderliches Milieu für die Diaspora
Mehr als 80 Millionen Europäerinnen und Europäer leben im Ausland. Zusammen würden sie den größten Staat innerhalb der EU bilden. Dazu kommt, dass die Emigration mittlerweile weit weniger dauerhaft ist als in früheren Jahrzehnten. Die Wahrheit ist, dass viele, die auswandern, ihrer Heimat nicht für immer den Rücken kehren, sondern im Zuge einer sogenannten Vertragsmigration ihr Land für eine begrenzte Anzahl von Jahren verlassen und später zurückkehren. Virtuelle Arbeitsplätze und die Zunahme von online verfügbaren Jobs tragen zu einer stetigen Verschiebung hin zu einer weniger dauerhaften Migration bei. In den Industrieländern ist die temporäre Migration dreimal so hoch wie die Dauermigration, und zwischen 20 und 50 Prozent der Migrantinnen und Migranten verlassen ihr Zielland innerhalb von drei bis fünf Jahren.
Regierungen können die Arbeits- und Abwanderungsdynamik innerhalb einer Gesellschaft grundlegend verändern, indem sie die Portabilität von Sozialleistungen über Ländergrenzen hinweg, Zusatzausbildungen und Spezialisierungen zulassen, aber auch dafür sorgen, dass die im Ausland erworbenen Fähigkeiten in der Heimat anerkannt und gewürdigt werden. Besonders in manchen Branchen war es noch nie so einfach wie heute, in ein anderes Land zu ziehen und dort zu arbeiten.
Es ist äußerst wichtig, umfassende Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, wie zirkuläre Migration funktionieren könnte und wie sie an ein bestimmtes Umfeld angepasst werden kann. Das ist umso wichtiger für kleinere Länder mit höheren Abwanderungsraten qualifizierter Fachkräfte und weniger Möglichkeiten, diese schnell zu ersetzen.
Die Grundprämisse, dass Migrantinnen und Migranten das Recht haben sollten, in das Zielland zurückzukehren und sich zu jedem Zeitpunkt wieder in ihrer Heimat niederzulassen, ist zumindest die Grundlage für zirkuläre Migration. Rechte, die mit einer solchen Regelung einhergehen, müssen rechtzeitige und vollständige Informationen über Gegebenheiten, Arbeits- und Pensionsrechte sowie die Möglichkeit einer Doppelstaatsbürgerschaft und eines Daueraufenthaltsrechts sicherstellen.
Zirkuläre Migrationspolitik muss realitätsnah sein, damit sie umgesetzt werden kann. Tiefgreifende und langfristige Änderungen in der Gesetzgebung und des Sozialsystems, Dienstleistungen zur Unterstützung der zirkulären Migration, offene und zugängliche Unternehmensnetzwerke, gemeinnütziges Engagement, Ausweitung von Programmen im Ausland, Diaspora-Forschung, Diaspora-Kongresse, das Experimentieren mit neuen sozialen Technologien und die Förderung von Verbänden und Organisationen des Westbalkans im Ausland sind nur einige der Maßnahmen, die ergriffen werden sollten. Mit ihrer Hilfe könnten die Länder des Westbalkans Kompetenzen und Know-how rasch in konkrete Ergebnisse umsetzen. Die Einrichtung nationaler und globaler elektronischer Datenbanken, die alle Mitglieder der Diaspora und Diaspora-Organisationen umfassen, würde einen effizienten Wissens- und Erfahrungsaustausch zwischen den Gemeinschaften ermöglichen. Die bestehende Infrastruktur in der Region kann neben den nationalen Regierungen dabei eine wichtige Rolle spielen.
Im Falle des Westbalkans sollte jedes Land aktiv an der Entwicklung und Umsetzung von politischen Programmen zur Förderung einer zirkulären Migration mit jenen Ländern zusammenarbeiten, in denen die meisten seiner ausgewanderten Bürgerinnen und Bürger leben: Deutschland, Österreich, Slowenien, die Vereinigten Staaten und Kanada. Serbiens neues Projekt, die Einrichtung einer Agentur für zirkuläre Migration, klingt vielversprechend, da nicht nur Erfahrungen an einem Ort gesammelt werden sollen, sondern auch das Modell der Zusammenarbeit zwischen Bevölkerung und Regierung getestet wird, die oft durch gegenseitiges Misstrauen gekennzeichnet ist.
Emigration sollte Teil eines umfassenden außenpolitischen Dossiers werden, dem höchste Priorität einzuräumen ist. Regierungen sollten ihre Ressourcen mobilisieren, um mit ihrer Diaspora in Kontakt zu treten und die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit auszuloten. Derzeit ist das Wissen über die Mitglieder der Diaspora, ihre Netzwerke und Qualifikationen verstreut und sehr uneinheitlich. Die Lehren aus den Erfahrungen anderer EU-Länder zu ziehen, wäre für den Westbalkan ein Schritt in die richtige Richtung. Dies gilt insbesondere für eine sektorale und wirtschaftliche Analyse der Migration.
Zu guter Letzt liegt der Schlüssel zum Erfolg darin, tatkräftige Personen und Organisationen in der Diaspora zu identifizieren und sie mit den entsprechenden Personen und Organisationen in ihrem Heimatland zu vernetzen. Ein kleiner Beitrag kann einen großen Unterschied machen und persönliche Beziehungen sind essenziell. Die auf individueller Ebene gewonnenen Ressourcen können leicht skaliert werden, sofern eine gewisse strukturelle Unterstützung vorhanden ist. Es gibt sehr reale Vorteile, erfahrene Leute temporär oder dauerhaft in ihr Heimatland zurückzuholen. Allerdings erfordert dieser Ansatz auch, mit genügend Ressourcen und der uneingeschränkten Mithilfe der lokalen Regierung die nötige Unterstützung für die Diaspora innerhalb des Landes aufzubauen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass angesichts der derzeitigen restriktiven Einwanderungspolitik und der demografischen Herausforderungen, mit denen die Region konfrontiert ist, die zirkuläre Migration möglicherweise die sinnvollste Strategie ist, die ein Land auf dem Westbalkan verfolgen kann.
Fazit und Empfehlungen
Die Covid-19-Pandemie hat die von den Westbalkanländern seit geraumer Zeit ignorierten Unzulänglichkeiten des öffentlichen Systems mehr als deutlich zutage treten lassen. Hohe Abwanderungsraten hochqualifizierter Arbeitskräfte, insbesondere Ärztinnen und Ärzte, gepaart mit der begrenzten Kapazität des Gesundheitssektors, haben viele Länder an den Rand gedrängt und die Krise ist noch lange nicht vorbei. Tatsächlich verdeutlichte die Pandemie, dass wichtige Themen in der Region jahrelang notorisch vernachlässigt wurden, und zeigte, wie wichtig es ist, gut ausgebildete Fachkräfte im Land zu halten.
Aber genau diese Krise kann zu einer politischen Wende führen. Bei kritischer Analyse ist die Covid-19-Krise eine wichtige Chance für Regierungen, ihre Strategien zu überdenken, die vorhandene öffentliche Kompetenz zu stärken, in Wissenschaft und Forschung zu investieren, die Gesundheitssysteme in der Region zu reformieren und zu konsolidieren und sich darauf zu konzentrieren, Fachkräfte in der Heimat zu halten, aber auch Kontakte zu jenen herzustellen und zu pflegen, die ausgewandert sind. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist die zirkuläre Migration.
In den Industrieländern ist die temporäre Migration dreimal so hoch wie die Dauermigration. Zwischen 20 und 50 Prozent der Migrantinnen und Migranten verlassen ihr Zielland innerhalb von drei bis fünf Jahren. Die Regierungen der westlichen Balkanländer können die Arbeits- und Abwanderungsdynamik innerhalb einer Gesellschaft grundlegend verändern, indem sie die Portabilität von Sozialleistungen über Landesgrenzen hinweg, Zusatzausbildungen und Spezialisierungen zulassen, aber auch dafür sorgen, dass die im Ausland erworbenen Fähigkeiten in der Heimat anerkannt und gewürdigt werden.
Dieses System kann den Westbalkanländern helfen, Fähigkeiten und Know-how schnell in sichtbare Resultate umzusetzen. Beziehungen zur Diaspora erfordern, dass die Regierungen ihre Denkweise und Politik ändern. Derzeit wird die Diaspora des Westbalkans, abgesehen von den Rücküberweisungen und vereinzelten, unregulierten (nicht-institutionellen) Verbindungen, nicht in die Politikplanung die Zukunft ihrer Herkunftsregion betreffend einbezogen. Um die Diaspora zu ermutigen, die Zukunft der Region kontinuierlich mitzugestalten, bedarf es einer bewussten Entscheidung politischer Entscheidungsträger, diesem Thema Priorität einzuräumen.
Die EU könnte die Beteiligung von Diaspora-Organisationen erheblich unterstützen, indem diese in bilaterale Gespräche zur Auswanderungspolitik einbezogen werden. Schließlich sind die westeuropäischen Länder politisch und wirtschaftlich in der Region engagiert, und es liegt im gegenseitigen Interesse, dass der Westbalkan prosperiert.
Der Artikel gibt die Meinung der Autorin wieder und repräsentiert nicht die Standpunkte des Europe’s Futures Ideas for Action Projekt, des Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) oder der ERSTE Stiftung.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 14. Oktober 2020 auf Europesfutures.eu. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
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