Ums nackte Leben
Für viele Arbeiterinnen und Arbeiter der rumänischen Bekleidungsindustrie ist die Abwanderung der letzte Ausweg.
Während den meisten westlichen Konsumentinnen und Konsumenten Geschichten von ausgebeuteten süd- und südostasiatischen Textilarbeiterinnen und -arbeitern bekannt sind, glauben sie, Etiketten mit der Aufschrift „Made in the EU“ seien gleichzusetzen mit „Fair Trade“. Es mag daher überraschen, dass die Situation rumänischer Fabriksarbeiterinnen und -arbeiter, die in der Herstellung von Kleidungsstücken sowohl für Discount- als auch Luxusmodehäuser tätig sind, nicht viel anders ist. Viele andere ziehen es vor, ihr Zuhause und ihre Familien auf der Suche nach einem besseren Leben zurückzulassen.
Im Jahr 2015 begann ich meine Recherche über die Arbeitsbedingungen in osteuropäischen Bekleidungsfabriken, insbesondere in Rumänien, und ließ mich auch in einem dieser Betriebe anstellen, um mir selbst ein Bild zu machen. Die Veröffentlichung meiner Ergebnisse löste heftige Kritik seitens der nationalen Behörden und einiger Labels aus. Ich wurde attackiert und von einer der größten Fabriken Rumäniens sogar verklagt, weil ich meine Quellen preisgegeben hatte, auch wenn die Klage schließlich fallengelassen wurde.
Ich verstand, warum viele Arbeiterinnen und Arbeiter sich weigerten, mit mir zu sprechen; sie fürchteten, entlassen zu werden. Einige willigten dennoch ein, und die Geschichten, die ich zu hören bekam, waren in ganz Rumänien und Bulgarien die gleichen. Dutzende erzählten mir von Menschen, die aufgrund der Hitze und harten Arbeit in Ohnmacht fielen, von Beleidigungen und Einschüchterungen durch Vorgesetzte, unmöglichen Quoten und den Schwierigkeiten aufgrund der niedrigen Löhne, die entweder spät oder gar nicht ausgezahlt wurden, über die Runden zu kommen. Auch NGOs wie die Clean Clothes Campaign berichten in ihren Untersuchungen von ähnlichen Zuständen.
Niedrige Löhne, hohe Auswanderung
Der dreiunddreißigjährige Cristi Deseanu arbeitete in vier rumänischen Bekleidungsfabriken, ehe er sich trotz fehlender Qualifikationen dazu entschloss, nach Großbritannien zu gehen. Mit Anfang zwanzig und geringen Jobchancen heuerte er in einem der größten Bekleidungsunternehmen seiner Region an; das war etwa zu jener Zeit, als Rumänien der EU beitrat.
Das in italienischem Besitz befindliche Unternehmen produzierte Kleidung für Dutzende internationale Marken des mittleren bis gehobenen Marktsegments. Cristi sah Pullover, die aus feinem Goldgarn gestrickt waren. Nicht verwendete Fäden mussten zur Ausschussminimierung sorgfältig in kleine Plastiktüten gesteckt werden. Er erinnert sich an Anzüge im Wert von knapp 2.000 Euro – ein Betrag, der mehr als einem Jahreslohn einer Arbeitskraft in der Bekleidungsindustrie entspricht.
Im April 2014 wurde er aufgrund seiner Teilnahme an einem spontanen Streik entlassen, der von Mitarbeitern initiiert worden war, die keinen Lohn bekommen hatten. Ich fand offizielle Unterlagen der Fabrik, die Cristis Geschichte bestätigen – es kommt vor, dass Fabriken Informationen dieser Art innerhalb der Belegschaft in Umlauf bringen, um ein Exempel zu statuieren, dass Proteste ein Entlassungsgrund sind, um zukünftigen Unruhen entgegenzuwirken.
Zu jener Zeit bezog Cristi als Mechaniker ein monatliches Nettogehalt von 240 Euro; er wohnte bei seinen Eltern, da er es sich nicht leisten konnte, eine eigene Familie zu gründen. Zum Vergleich: Einfache Näherinnen und Näher erhielten nur 150 Euro, den gesetzlichen Mindestlohn. Es gab auch Monate, in denen er nur 130 Euro verdiente.
Nach seiner Entlassung fand Cristi Arbeit in einer kleineren Bekleidungsfabrik, wo er noch weniger verdiente, bevor er in einer anderen Stadt eine besser bezahlte Stelle fand, diesmal in einer Fabrik, die für Luxusmarken produziert. Sie war 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche in Betrieb. Cristi verdiente rund 550 Euro monatlich, aber seinen Angaben zufolge würden die meisten Bekleidungsarbeiterinnen und -arbeiter nach wie vor den Mindestlohn bekommen. Dies wird von zwei Angestellten und einem ehemaligen Abteilungsleiter bestätigt.
Beleidigungen und Verletzungen
Im Jahr 2019 waren in Rumänien über 180.000 Menschen in der Bekleidungsindustrie beschäftigt. Den meisten wird der gesetzliche Mindestlohn gezahlt, der in den vergangenen Jahren auf rund 250 Euro gestiegen ist, aber immer noch unter dem geschätzten Existenzminimum liegt. Die durchschnittlichen Kosten eines rumänischen Haushalts belaufen sich nach Angaben des nationalen Statistikamts derzeit auf 1.170 Euro im Monat. Offizielle Angaben zu einem existenzsichernden Lohn gibt es seitens der Regierung jedoch nicht. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 betrug der Durchschnittslohn einer chinesischen Bekleidungsarbeiterin bzw. eines Bekleidungsarbeiters 270 Dollar pro Monat, kann aber in einigen Regionen auch über 500 Dollar pro Monat liegen.Sheng Lu, Lohnniveau für Bekleidungsarbeiterinnen und -arbeiter weltweit (aktualisiert 2017).
Wenn ein Sektor auf billige Arbeitskräfte setzt, gibt es keine nachhaltige sozioökonomische Entwicklung, meint Cornelia Staritz, Professorin für Entwicklungsökonomie an der Universität Wien. In vielen Ländern gehört die Bekleidungsherstellung zu den wichtigsten Sektoren eines exportorientierten Industrialisierungsprozesses. „Da keine hochentwickelten Technologien zum Einsatz kommen“, erklärt Staritz, „ist diese Branche sehr arbeitsintensiv, weshalb niedrige Löhne wichtig sind, und Länder können ausgehend von diesem Sektor Tätigkeitsbereiche mit höherer Wertschöpfung entwickeln.“ Danach können kapitalintensivere Sektoren mit Bezug zur Bekleidungsindustrie, wie der Textilsektor, aufgebaut werden.
In Rumänien verlief die Entwicklung umgekehrt. Im Jahr 1989 gab es im Land sowohl kapital- als auch arbeitsintensive Betriebe im „Textil- und Bekleidungssektor“. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurde der kapitalintensivere Textilsektor aus dem Markt gedrängt. Im Prinzip ging es darum, dass rumänische Fabriken Bekleidung für westliche Käufer unter speziellen Handelspräferenzen produzierten und dafür Textilien verwendeten, die ursprünglich aus westeuropäischen Ländern bezogen wurden. So konzentrierte sich die rumänische Textilindustrie zunehmend auf die Konfektionierung von Bekleidung, wodurch meist schlecht bezahlte Arbeitsplätze entstanden. Niedrige Löhne sind heute einer der Hauptgründe, warum Rumäninnen und Rumänen nach Westeuropa abwandern.
Cristi war noch nicht lange in der neuen Fabrik tätig, als man ihn nur noch für die Nachtschicht einteilte. Er sollte von 21 Uhr bis 8 oder 9 Uhr arbeiten, habe man ihm gesagt. Er weigerte sich. „Die Arbeitszeiten waren unzumutbar“, erinnert sich Cristi. „Ich fühlte mich müde und benommen. Ich war ‚fertig‘, wie man sagt.“ Er kündigte seinen Job nach einem Telefonat, bei dem ihn der Abteilungsleiter beschimpfte. „Nachdem ich meine Kündigung eingereicht hatte, erwartete ich, dass der Eigentümer mich anrufen würde, um herauszufinden, was passiert war, aber das geschah nicht“, so Cristi.
Cristi erzählte mir diese Geschichten, während wir an der Baustelle im Londoner Bezirk Nine Elms standen, auf der er derzeit arbeitet. Hier wird mit dem Bau von 18.000 Wohnungen eines der größten Stadterneuerungsprojekte Europas verwirklicht. Cristi ist froh, hier arbeiten zu können, zumal seine ersten Jobs in London entweder illegal oder kräftezehrend waren und gerade so viel einbrachten, dass er knapp über die Runden kam.
Rumänen im Ausland
Laut einer Studie der OECD ist Großbritannien nach Deutschland zum zweitbeliebtesten Zielland für rumänische Zuwanderer geworden.OECD, Talent Abroad: A Review of Romanian Emigrants, OECD, 2019. Rumänien hat eine höhere Abwanderungsrate als Mexiko, China und Indien, erklärt der Soziologe Dumitru Sandu. Schätzungsweise leben 17 Prozent der in Rumänien geborenen Bürgerinnen und Bürger derzeit im Ausland. Im Rahmen des europäischen Forschungsprogramms Ymobility fand Sandu heraus, dass knapp die Hälfte der rumänischen Jugendlichen im Alter von sechzehn bis fünfunddreißig Jahren vorhat auszuwandern.Ymobility
Cristi sagt, er beabsichtige nicht, in absehbarer Zeit nach Rumänien zurückzukehren. Er werde höchstwahrscheinlich nach Deutschland ziehen, wo seine Freundin arbeitet. Sie war in derselben Bekleidungsfabrik beschäftigt, lehnte ein Interview aber mit der Begründung ab, dass sie sehr unter den Arbeitsbedingungen in der Fabrik gelitten habe und sich nicht mehr daran erinnern wolle.
Silvia (Pseudonym) ertrug die Arbeitsbedingungen in der Fabrik, die Cristi entlassen hatte, weitere drei Jahre lang. Sie musste zusehen, wie ihre Kolleginnen im Büro des Chefs in Tränen ausbrachen und um ihre Löhne bettelten, damit sie ihre Kinder ernähren konnten. Sie bestätigte die Geschichten über Frauen, die in Ohnmacht fielen und ständig beleidigt wurden.
Silvia lebte mit ihrem Partner, ihrem Sohn und ihrer Schwiegermutter in einer Zweizimmerwohnung. Sie war die Einzige, die Vollzeit arbeitete, und ihre Verzweiflung war groß, als am Ende des Monats das Geld, für das sie geschuftet hatte, ausblieb. In den sechs Monaten vor unserem ersten Gespräch erhielt sie insgesamt nur etwa 340 Euro. Trotzdem schätzte sie sich glücklich, denn sie musste keine Kredite bei der Bank tilgen und konnte in ihrem Garten selbst Gemüse anbauen.
Nachdem ich diese Missstände aufgedeckt hatte, wurde die fragliche Fabrik mit einer Geldstrafe belegt. Seitens einiger Labels hieß es auch, sie würden den Betrieb bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen unterstützen. Von der Belegschaft wurde mir berichtet, dass dies auch eine Zeit lang zutraf: Die Löhne wurden pünktlich bezahlt – es wurden sogar Essensbons ausgegeben – und die Beschimpfungen hörten auf. Die Situation verschlechterte sich nach einigen Monaten jedoch wieder, so Silvia. Sie entschied, dass sie nicht länger zuwarten konnte und beschloss, ins Ausland zu gehen. Bei unserem letzten Gespräch war sie in Italien. Es ging ihr gut und sie fühlte sich respektiert. Sie gehörte zu jenen Rumäninnen und Rumänen, die das Glück hatten, eine Stelle im Ausland gefunden zu haben.
Für die meisten rumänischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die ich befragte, war ein Umzug ins Ausland ihre letzte Option. Sie wollten nicht wirklich auswandern und fühlten sich innerlich zerrissen, weil sie ihre Familien und ihr Zuhause zurückließen. Sie hatten das Gefühl, aufgrund des Geldmangels und mehr noch aufgrund des mangelnden Respekts ihres Landes keine andere Wahl zu haben, als zu gehen.
Einige Studien haben gezeigt, dass ein paar Cent mehr pro Kleidungsstück bei den Löhnen der Arbeiterinnen und Arbeiter tatsächlich etwas bewirken könnten. Vielleicht wären Konsumentinnen und Konsumenten bereit, für ein Kleidungsstück etwas mehr auszugeben, wenn sie wissen, dass dadurch eine Arbeitskraft in einem anderen Land einen existenzsichernden Lohn erhalten würde. Man hat sie aber nicht gefragt. Die Fabriken konkurrieren weiterhin untereinander darum, den Labels die niedrigsten Preise anzubieten, während immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter dieses Spiel nicht länger mitspielen und auf der Suche nach einem besseren Leben ins Ausland gehen.
Mittlerweile ist Silvia nach Norditalien gezogen, hat einen Führerschein und wurde als Haushälterin bei mehreren Familien eingestellt. Cristi wanderte nach Deutschland aus und ist derzeit aufgrund der Covid-Pandemie arbeitslos. Keiner von beiden plant, bald nach Rumänien zurückzukehren.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert in der IWMpost Nr. 124 (Herbst / Winter 2019).
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