Die Mär von der gleichberechtigten Frau im Osten

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Chancengleichheit in Osteuropa – ein Realitätsabgleich

An ihren ersten Tag als Chefin hat Olga Grygier-Siddons nur gute Erinnerungen – vor allem wegen der Reaktion der Mitarbeiterinnen. Wie sie Grygier-Siddons im Lift anlächelten, wie sie besonders stolz durch die Gänge gingen, das „war ein großartiges Gefühl“, erklärt die Managerin vergangenes Jahr der Financial Times. Sie leitet seit 2014 die Osteuropasparte des global tätigen Unternehmensberaters PricewaterhouseCoopers (PwC). Dass die anderen Frauen sie im PwC-Sitz in Warschau so herzlich begrüßt haben, mag daran liegen, dass sie noch nicht viele Chefinnen gesehen haben. In Polen nicht und in den anderen jungen EU-Ländern und EU-Anwärtern noch weniger.

Am 8. März feiert die Welt den Frauentag. Besonders in den sozialistisch geprägten Ländern wird er mit Pomp begangen, der Frau wird an diesem Tag der Vorhang geöffnet. Und danach? Die Stellung der Frau im Osten sei, so geht ein gängiges Narrativ – politisch und ökonomisch – vielfach besser als im Westen. Schließlich hätten die sozialistischen Regierungen in der Vergangenheit für mehr Chancengleichheit gesorgt und Frauen professionell gefördert sowie die Kinderbetreuung flächendeckend geregelt. Ingenieurinnen kannte man im Osten tatsächlich viele. Doch inwieweit wirken diese Maßnahmen bis heute durch?

Kinder

Die EU-Kommission hat das Ziel ausgegeben, dass zumindest ein Drittel der europäischen Kinder unter drei Jahren institutionell betreut werden. De facto aber bleiben die meisten bei der Mama zuhause. Nur in zehn Mitgliedsländern gehen die Kleinkinder in die Krippe oder zu einer Tagesmutter, allen voran in den skandinavischen. Von den jungen EU-Staaten reiht sich nur Slowenien hier ein. Die restlichen sind am anderen Ende der Skala zu finden: Ausgerechnet in Rumänien, Polen und der Slowakei – Länder, die vor 1989 ein gut ausgebautes Netzwerk an staatlichen Kinderbetreuungsstätten hatten – werden 90 Prozent der unter Dreijährigen zuhause betreut. In Rumänien und Polen spielen wohl auch traditionelle, von der Kirche vorgegebene Rollenbilder hier hinein.

Politik

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte der Einfluss der Sowjetunion in der Region verhindert, dass die ehemaligen – männlich dominierten – Zwischenkriegseliten wieder an die Macht gelangten und die Stellung der Religion zurückgedrängt. Für Frauen war in der sich neu konfigurierenden politischen Landschaft Platz: Elf Ministerinnen wurden von 1945 bis 1950 in Bulgarien, Rumänien, dem damaligen Jugoslawien und der damaligen Tschechoslowakei sowie in Estland ernannt. Von den Schalthebeln der Macht blieben die Frauen trotzdem meist entfernt – ab den 1960er Jahren fielen auch keine Regierungsämter mehr für sie ab. Eine Ausnahme bildet hier Milka Planinc, die in den 1980er-Jahren Regierungschefin Jugoslawiens war.

Auch nach dem Fall der Mauer war in den jungen Demokratien vorerst wenig Raum für weibliche Gestaltung. Die weibliche politische Repräsentanz nahm erst zu, als sich die Länder in Richtung Europa bewegten. Von 1999 bis 2009 zählten die heute jüngeren EU-Mitglieder 157 Frauen in Ministerämtern. So ist es eher die jüngere Vergangenheit und nicht das sozialistische Erbe, das Frauen den Zugang zur Macht zugesteht. Gerade die Annäherung an die EU habe den Frauen mehr Raum verschafft, argumentiert die Politikwissenschafterin Maxime Forest von der Universität SciencesPo in Paris: Die EU als Anziehungspunkt habe die Frage nach Gleichberechtigung zumindest auf die politische Agenda gebracht. In manchen Fällen habe die „Feminisierung der Politik“ als Beweis des Bekenntnisses zu Europa gedient, als Trumpfkarte, die man in Brüssel ausspielen konnte. Und manchmal findet diese schlichtweg nicht statt. Bei den bevorstehenden Parlamentswahlen in Ungarn stellt die regierende Fidesz-Partei in allen 106 Wahlbezirken jeweils einen Kandidaten – darunter befinden sich nur sechs Frauen.

Wirtschaft

Ende der 1980er-Jahre waren 80 bis 90 Prozent der Frauen in den sozialistischen Ländern in den Arbeitsmarkt integriert – auch wenn sie kaum in die oberen Segmente der Jobhierarchie vorstoßen konnten und wesentlich magerer als die Männer verdienten: 20 bis 30 Prozent weniger stand damals auf den weiblichen Gehaltszetteln. Weibliche Angestellte in Slowenien, Polen und Rumänien müssen sich darüber heute nicht mehr ärgern – in diesen Ländern verdienen Frauen fast gleich viel wie Männer – auch die weibliche Teilzeitquote ist vergleichbar gering. Anders sieht die Lage etwa in Österreich aus: Hier arbeiten knapp die Hälfte der weiblichen Bevölkerung nicht in Vollzeit – entsprechend groß ist die Einkommensschere. Besonders drastisch ist die Einkommensschere aber in Bosnien und Herzegowina: Hier verdienen Frauen nur die Hälfte dessen, was Männer bekommen. Und: Laut dem Gender-Equality-Index des Europäischen Instituts für Gleichstellungsfragen können Frauen in den jungen Mitgliedsländern aber auch in Österreich insgesamt wenig wirtschaftliche Macht auf sich vereinen. Sie sitzen selten in den Vorständen der Unternehmen oder führen Institutionen wie die Nationalbank.

Die tschechische Erste-Group-Tochter Česká spořitelna konnte vor drei Jahren mit Daniela Pešková ihr erstes weibliches Vorstandsmitglied seit ihrer Privatisierung im Jahr 2000 begrüßen. In Rumänien wird in Kürze mit Mariana Gheorghe die langjährige Chefin des Erdgaskonzerns Petrom ihr Büro räumen. Gheorghe hat die Geschicke der Tochter der österreichischen OMV mehr als zehn Jahre geleitet. Sie gilt als Grande Dame der rumänischen Wirtschaftselite. Ihr nachfolgen wird mit Christina Verchere ebenfalls eine Frau. Im Petrom-Vorstand kennt man Frauen also. Die Unternehmensberater von PricewaterhouseCoopers haben sich ebenso längst an Olga Grygier-Siddons gewöhnt. Diese Frauen an der Spitze bleiben trotzdem die Ausnahmen. In Osteuropa. Und in weiten Teilen des Westens auch.

Dieser Text und die Infografiken sind unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: CC BY-NC-ND 3.0. Der Name der Autorin/Rechteinhaberin soll wie folgt genannt werden. Autorin: Eva Konzett / erstestiftung.org, Infografiken und Illustration: Vanja Ivancevic / erstestiftung.org
Titelbild: © nito100/iStock.

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14 Jahre sind vergangen, seit sich die Europäische Union in der ersten Runde Richtung Osten aufgemacht hat. Die anfängliche Euphorie ist erst dem Alltag und nun Ernüchterung auf beiden Seiten gewichen. Man ist sich manchenorts fremd geworden oder fremd geblieben, trotz der sichtbaren und verborgenen, der privaten, offiziellen und geschäftlichen Beziehungen. Trotz der vielen Gemeinsamkeiten, trotz der Wertschöpfungsketten, die keine Grenzen mehr kennen. Und manchmal genau deswegen.

Kopf und Zahl möchte im Kleinen die politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Lebensrealitäten im jüngeren Teil der EU und der Beitrittskandidaten Südosteuropas beleuchten und sie mit der westeuropäischen Verfassung zumindest in österreichischer Ausformung abgleichen. Sind diese denn wirklich immer meilenweit voneinander entfernt? Wo scheitert der Blick von oben herab?

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