Unberührte Natur, uralte Wälder, malerische Dörfer: Die Karpaten liegen im Herzen von Rumänien, ein letztes Stück Wildnis mitten in Europa – ein grüner Schatz, den es zu schützen gilt.
Nebel hat sich zwischen den Bäumen verfangen. Die „Ballerina der Berge“ weist den Weg, die Kapuze tief über den Kopf gezogen. Geschmeidig bewegt sich Simona Bordea zwischen den Felsen, als würde sie schweben. Leichtfüßig weicht sie Pfützen aus, behände springt sie über Wurzeln und Steine, tänzelt dem Bergkamm entgegen. Plötzlich bleibt sie wie angewurzelt stehen. „Erkennt ihr, wer hier vor uns entlang spaziert ist?“ Sie beugt sich zu einem unübersehbaren Häufchen. „Pilze standen auf dem Speiseplan – und Blaubeeren. Ein Feinschmecker, dieser Braunbär.“ Sie lacht. „Vielleicht sind im Schlamm noch Abdrücke seiner Tatzen zu entdecken.“
Wer durch die rumänischen Fãgãraș-Berge in den südlichen Karpaten geht, begegnet oft keiner Menschenseele. Doch wilde Tiere sind immer in der Nähe. Ihre Spuren verraten die Wölfe und Luchse, die Wildschweine und Füchse. Rund 5000 Braunbären streifen hier durch das Unterholz. So viele wie nirgendwo sonst in Europa. Simona Bordea ist ein Kind der Region, für die „Fundaţia Conservation Carpathia“ arbeitet sie als Tourismusmanagerin und Wanderführerin. Ihre Leidenschaft ist es, Menschen den Zauber ihrer Heimat zu zeigen, sie mitzunehmen auf eine Reise zu einem der letzten wilden Flecken Europas.
Wann immer die 34-jährige Simona Bordea bei ihren vielen Reisen in die USA, in Asien, beim Pilgern auf dem Jakobsweg erzählte, woher sie stammt, witzelten alle nur über Graf Dracula. Heute zeigt Bordea Menschen aus der ganzen Welt, dass ihre Heimat mehr zu bieten hat als blutrünstige Legenden. „Das Land hinter dem Wald“, bedeutet Transsilvanien übersetzt. Ein rund 100.000 Quadratkilometer großer Landstrich mitten in Rumänien, zwischen Ungarn und dem Schwarzen Meer. Umschlossen von den Karpaten, einem 1300 Kilometer langen Gebirgszug mit uralten Bäumen, wo das größte zusammenhängende Waldgebiet Europas steht. Zwei Drittel der verbliebenen Urwälder des Kontinents liegen hier. wo kilometerweit keine Siedlung zu finden ist, keine Straße die Natur zerschneidet. Es ist die Hoffnung von Menschen wie Bordea, mit grünem Tourismus, ökologisch und nachhaltig, aufmerksam zu machen auf die Wunder dieser Wildnis. Und auf die Zerbrechlichkeit.
Wir folgen Simona Bordea einen schmalen Weg entlang. Auf einer Lichtung, umgeben von Wald, fern der Zivilisation steht die kleine Blockhütte Bunea, mit Blick über den Pecineagu-See, der in der Dämmerung verschwindet. Der Vollmond taucht den Wald in silbrig-milchiges Licht. Der Nebel lässt die Bäume wie schwarze Zacken aus der weißen Decke ragen. Aus der Ferne röhren Rothirsche dumpf. In der Blockhütte entfacht Simona Bordea ein Feuer, zündet Kerzen an. In der Hütte gibt es keinen Strom, keinen Handyempfang. Simona schneidet Räucherkäse, säbelt Brot ab, schenkt Wein ein. Was die Landwirte in den kleinen Dörfern rundherum produzieren – eingelegtes Gemüse, Wurst, Brot, Heidelbeer-Marmelade –, das landet auf den Tellern der Touristen, die aus den Hütten beobachten, was es zu bewahren gilt: die rumänische Natur.
Die Gäste, die hier die Nächte verbrachten, haben Aufzeichnungen hinterlassen: Bär gesichtet: „Big Boss“. Wölfe. Füchse. Ein Luchs. Jede Beobachtung ist fein säuberlich aufgeführt, versehen mit der Uhrzeit. Hinter Ferngläsern warten wir darauf, dass sich etwas regt. Doch es bleibt ruhig. „Die Wildnis vergibt keine Bären-Garantie“, sagt Bordea. „Wir können nie versprechen, dass sich ein Tier zeigt.“
Am nächsten Morgen ziehen wir weiter, durch Simona Bordeas „Zauberwald“, wie sie ihn nennt, vorbei an den vielen uralten Buchen. Viele der Riesen ragen 40 Meter in die Höhe, sind mehr als 400 Jahre alt. „Wenn ich mir vorstelle, was diese Bäume alles miterlebt haben, werde ich andächtig“, sagt sie. „Im Wald komme ich bei mir an, hier zu spazieren ist meine Meditation.“ Sie bleibt an einem der Bäume stehen. „Alles ist miteinander verbunden“, sagt sie. „Jeder Ast, jedes Pflänzchen, jeder Pilz erfüllt eine Funktion. Die Bäume kommunizieren miteinander.“ Sie atmet tief ein.
Buchenwälder bedeckten einst weite Teile Europas, heute sind sie weitgehend verschwunden. Nirgendwo sonst auf dem Kontinent haben sich so große Flächen mit Urwald erhalten wie in den Karpaten. 2011 ernannte die Unesco die urtümlichen Buchenwälder zum Weltnaturerbe: so wertvoll, dass die Staaten, auf deren Grund sie wachsen, gemeinsam die Verantwortung tragen, es zu bewahren. Doch der Schatz ist bedroht, die Zerstörung schreitet voran. In den letzten Jahrzehnten wurden Rumäniens Wälder massiv abgeholzt. Die Nachfrage nach billigem Holz steigt – auch aus Westeuropa.
In seinem Geländewagen brettert Mihai Zotta über die schlammigen Pisten durch den Wald. Der technische Direktor der Foundation Conservation Carpathia, ein Kollege von Simona Bordea, zeigt, wo sich die Verwüstung in die Landschaft gegraben hat. Er ist ein großer Mann, die Mütze hat er tief über seine Glatze gezogen. Sorgenvoll blickt er auf die Verwüstung, Baumstümpfe, die der Nebel verschluckt, soweit das Auge reicht. Holzfirmen sehen in den Wäldern nur eines: Bretter, Bauholz und Möbel. „Dabei lassen sich die uralten Buchen mit morschem Kern kaum verarbeiten“, sagt Zotta. „Aus ihnen wird Brennholz. Der ökologische Wert hingegen ist unbezahlbar. Dass der wahre Schatz unser Wald ist, das sehen viele nicht.“
Als 1989 der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu gestürzt wurde, fiel auch das pseudokommunistische System. Mehr als 20.000 Quadratkilometer Land, die bis dahin dem Staat gehört hatten, wurden an Privatpersonen zurückgegeben. Und viele haben ihr Land schnell zu Geld gemacht, erzählt Zotta. Innerhalb und außerhalb von Schutzgebieten verkauften sie den Wald an rumänische Holzeinschlagsfirmen oder internationale Investmentfonds. Satellitenbilder, ausgewertet von Greenpeace, zeigen, dass das Land rund 280 Quadratkilometer Wald pro Jahr verliert, das entspricht etwa der Stadtfläche von München. Der Einfluss der rumänischen Holzmafia, sagt FCC-Direktor Mihai Zotta, erstrecke sich bis in die höchsten Behörden, Förster und Politiker mischen mit. Inzwischen ermittelt sowohl die rumänische Antikorruptionsbehörde als auch die Antimafiabehörde. Im Februar 2020 hat die Europäische Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Rumänien eingeleitet. Aktivisten kämpfen seit Jahren dagegen, oft unter Lebensgefahr. Der WWF sowie rumänische Umweltorganisationen und Stiftungen bemühen sich um den Schutz der Wälder. Früher hat Zotta in Deutschland als Holzfäller gearbeitet. Heute betreut er ein großes Wiederaufforstungsprojekt, führt zu kleinen Baumwinzlingen. Knapp drei Millionen Bäume haben sie gepflanzt.
„Zurück zum Ursprung und Natur Natur sein lassen“, das ist die Vision der Wildbiologen Christoph und Barbara Promberger, die eines der ambitioniertesten europäischen Naturschutzprojekte in den Karpaten vorantreiben. „Wir haben hier eine einzigartige biologische Vielfalt, die es so kaum mehr gibt“, sagt Christoph Promberger. „Rumänien zählt zwar zu den ärmsten Ländern Europas, in Sachen Artenvielfalt ist es eines der reichsten.“ Ursprünglich als Wolfsforscher landeten er und seine Frau in den Karpaten, erforschten das Verhalten der Rudel – und verliebten sich in die schroffe Landschaft, die endlosen Wiesen und Wälder und ineinander. Heute betreiben sie in Siebenbürgen einen Pferdehof.
Das Ehepaar leitet gemeinsam die 2009 von ihnen gegründete Foundation Conservation Carpathia, für die auch Simona Bordea und Mihai Zotta arbeiten. Sie kaufen Wälder auf, um sie vor illegalem Holzeinschlag und Wilderei zu schützen. Bislang mehr als 250 Quadratkilometer stehen unter Schutz, werden aufgeforstet. Weitere 300 Quadratkilometer werden von Rangern der Stiftung überwacht. Ein Netzwerk aus Sponsoren und Mäzenen fördert das Projekt. Der Schweizer Unternehmer Hansjörg Wyss ist einer der Geldgeber, Firmen wie Jack Wolfskin unterstützen das Projekt, und Prince Charles, bekennender Rumänien-Fan, hat mit den Prombergers bereits gespeist. Die Europäische Union fördert das Vorhaben. Mit mehreren hundert Landbesitzern haben sie sich bisher geeinigt, unzählige Gespräche geführt, mit Landwirten, mit Bürgermeistern. Schritt für Schritt, Baum für Baum wollen sie einen Traum wahrmachen: Gemeinsam mit den angrenzenden Făgăras- und Leaota-Bergen soll in Zukunft der größte Wald-Nationalpark Europas entstehen, ein Schutzgebiet von mehr als 250.000 Hektar: zehn Mal größer als der Nationalpark Bayerischer Wald in der Heimat von Christoph Promberger.
Barbara Promberger ist verantwortlich für das Wildtier-Management. Sie forscht zum Verhalten der Luchse und Bären. Immer wieder gibt es „Problembären“, die den Dorfbewohnern zu nah kommen. In den Maisfeldern neben dem Hof der Prombergers fressen die Bären sich an dem Getreide satt. Einmal erwischten die Prombergers eine Braunbär-Mutter mit ihrem Jungen, wie sie sich über eine Sau hermachten. Doch Vorfälle wie diese sind selten. „Wir untersuchen dann Haare der Bären, das Erbgut, um zurückverfolgen zu können, ob es sich um uns bereits bekannte Tiere handelt“, sagt Barbara Promberger. Einer der Bären, das konnten sie auf diese Weise herausfinden, kommt einmal im Jahr aus dem Wald ins Dorf, frisst sich durch – und verschwindet dann wieder. Wichtige Erkenntnisse mit Blick auf die Konflikte zwischen Landwirten, Jägern und Naturschützern.
Unweit von ihrem Pferdehof liegt das Dörfchen Cobor, eine Stunde Fahrt durch das sattgrüne siebenbürgische Hügelland. Auf einer Öko-Farm mit Pferde-Pension züchten Mitarbeiter der Stiftung ungarische Steppenrinder, eine alte Rinderrasse mit imposanten Hörnern. Neben der Weide bellen Karpaten-Hirtenhunde. Eine Hündin liegt im Zwinger, ihre Welpen säugen an ihren Zitzen. Die Hütehunde werden zum Schutz der Schafherden kostenlos an Schäfer verteilt – damit sie die Herden vor Wölfen und Bären schützen. Das Dorf Cobor ist typisch für Transsilvanien, ein Örtchen, das stellenweise wie ausgestorben wirkt – und zugleich voller Leben. Kinder turnen die Straßen entlang, Hunde wühlen im Graben. Hühner picken auf der Straße. Durch das Dorf ziehen Pferdekutschen. Rundherum durchqueren Wanderhirten die sattgrünen Täler. Auf den Weiden grasen magere Pferde und gefleckte Kühe. Sanft erheben sich grüne Hügel, Wiesen soweit das Auge reicht.
Eine Landschaft, so ursprünglich, dass Simona Bordea sie nicht loslässt, auch nicht auf ihren vielen Reisen überall auf der Welt. „Mein Herz hält mich hier“, sagt Bordea. Sie hat lange in den USA gelebt, sämtliche der Nationalparks dort besucht. Sie hat geforscht, inwieweit sich die Konzepte vom Yellowstone übertragen lassen auf Rumänien. Es ist der Traum für die Zukunft: In den kommenden Jahren soll in Rumänien ein riesiges Wildnisgebiet entstehen. „Wer hierherkommt, mehr über das Ökosystem lernt, Tiere beobachtet, denkt danach anders über die Natur“, sagt Simona Bordea. Am frühen Abend erreichen wir den Gipfel von Comisu, das Lager für die nächste Nacht. Kaum angekommen in der Hütte legt Simona Bordea den Zeigefinger an die Lippen, wispert leise: „Schaut mal, da draußen.“ Vor der Hütte hat eine Wisent-Kuh begonnen zu grasen, ein zottliger Europäischer Bison. 2020 hat die Stiftung begonnen, sie wieder auszuwildern. Sie kommen aus Wildtierreservaten in Deutschland, Polen, Skandinavien und finden nun in den Wäldern eine neue Heimat. Die Kuh ist Simona Bordea bereits bekannt: Damine stromert allein, ohne Herde, durch das Gebiet. Sie hat sie kurz nach der Ankunft verlassen, und wartet auf den Kontakt zu anderen Wisenten. Damine schaut zur Hütte herüber. Ob sie die Menschen sieht, die hinter dem Fenster gebannt mit dem Fernglas auf sie blicken? Sie senkt den Kopf, grast ungerührt weiter – und verschwindet wenig später zwischen den Bäumen.
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