Wie eine Oase in der Wüste
Eszter Neubergers preisgekrönter Artikel über Menschen aus vernachlässigten Vierteln in Ungarn
Staubige Höfe voller Gerümpel und wucherndes Unkraut – in Ungarn ist das der gewohnte Anblick in den Vierteln, in denen die Armen leben. Und das, obwohl ein gepflegter Garten mit Nutzpflanzen gerade bedürftigen Familien nicht nur einen angenehmeren Anblick, sondern auch eine wichtige Lebensmittelquelle bieten könnte. In diesem Bericht stellt Eszter Neuberger Menschen aus vernachlässigten Vierteln vor, die sie stolz durch ihre mit Blumen oder Gemüse bepflanzten Gärten führen. Sie halten sich gern dort auf, weil sie sich für jeden Winkel verantwortlich fühlen. Und ganz gleich wie müde sie nach ihrem Arbeitstag sind: Gartenarbeit bedeutet für sie Erholung.
Tabán gehört zur Gemeinde Monor in Mittelungarn. Nachdem man die staubigen Straßen und die mit Sperrmüll vollgestellten Höfe vor den Häusern der Siedlung verlassen hat, fühlt man sich im Garten von Joli Oláh Józsefné wie in einer Oase. Gerade zu dieser Jahreszeit ist der Garten am schönsten, weil die meisten Pflanzen unter ihrer fürsorglichen Pflege blühen. Ihre Lieblinge: die Rosen. Unser Gespräch führen wir auf einer Terrasse unter Kletterrosen.
Der grünbewachsene Hof gehört offensichtlich zu einer Armeleutebehausung. Anstelle zusammenpassender, moderner Gartenmöbel steht ein ausgemustertes Kanapee in einer schattigen Ecke und es gibt keinen englischen Rasen. Dennoch spürt man, dass die Besitzerin den Garten regelmäßig pflegt, ihn planvoll angelegt hat und wahrscheinlich gerne ihre Zeit in ihm verbringt.
Die 55-jährige Joli ist eine der treibenden Kräfte des Programms Jelenlét („Dort anwesend sein“) des Malteser Hilfsdienstes in der Romasiedlung von Monor. Sie ist bei der Organisation angestellt und kann deshalb, im Gegensatz zu anderen Bewohnern der Siedlung, mit einem einigermaßen sicheren Einkommen kalkulieren. Zusammen mit ihrem arbeitslosen Ehemann verfügt sie über 70–80.000 Forint (210–250 Euro) im Monat und steht damit kaum besser da, als ein durchschnittlicher Bewohner von Tabán. Als wir auf der Straße einer jungen Frau sagen, dass wir arme Haushalte mit einem schönen Garten suchen, sagt sie sofort: „Einen schönen Garten hat hier nur Joli.“
„Es entspannt mich einfach.“
Joli hält nicht nur ihren eigenen Hof in Ordnung. Unter ihrer Leitung wurden auf dem Gelände des Malteserzentrums Beete mit Nutzpflanzen angelegt. Es werden Erbsen, Bohnen, Kartoffeln und anderes Gemüse angebaut, wovon Joli und die anderen Gärtnerinnen und Gärtner einen Teil für den eigenen Bedarf mit nach Hause nehmen können.
Erbsen für einen Eintopf zu haben, die man nicht bezahlen muss, ist eine große Hilfe. Aber Joli macht es nicht nur deshalb. „Es entspannt mich einfach, wenn ich im Garten arbeite“, sagt sie. Auch im eigenen Hof ist sie dauernd aktiv. Wenn sie Zeit hat täglich mehr als eine Stunde, besonders im Sommer, wenn die Pflanzen gegossen werden müssen, damit sie nicht vertrocknen. Joli hat aber keinen Wasseranschluss im Garten. Da sie ihre Wasserrechnung nicht belasten will, holt sie das Wasser von einem Hydranten auf der Straße. Manchmal muss sie diesen Weg fünfzehnmal zurücklegen, bis sie mit ihrer Fünf-Liter-Gießkanne die Badewanne hinten auf dem Hof angefüllt hat, aus der sie die Pflanzen gießt.
„Früher hatte ich auch Gras im Hof, aber vor ein paar Jahren brach die Sickergrube durch und ausfließendes Abwasser zerstörte das Gras. Seitdem baue ich auch nicht mehr so gerne Gemüse an“, erklärt Joli. Wegen der Bewässerungsprobleme kann sie keinen neuen Rasen im Hof anlegen – in der ersten Zeit müsste er nämlich zweimal am Tag gegossen werden, was ohne Wasseranschluss im Garten übermenschliche Kräfte erfordern würde.
„Das habe ich bei meiner Mutter gesehen.“
Joli bezieht ihre Enkelkinder, den älteren Józsi und den jüngeren Krisztián, in die Gartenarbeit ein. Sie nimmt wahr, wie interessiert die beiden daran sind. „Beim Pflanzen und Säen haben die Kinder gestaunt, und gefragt, woher ich das alles weiß. Ich sagte: Das habe ich bei meiner Mutter gesehen“, erzählt Joli. Sie ist der Meinung, dass frühere Generationen, die ebenso arm waren, sehr viel aktiver und anspruchsvoller lebten als die Erwachsenen heutzutage. Ihr Vater beispielsweise war Korbmacher, die Mutter Hausfrau und dazu gehörte eben auch, dass sie einen kleinen Garten bestellte.
Joli möchte die Liebe zum Gärtnern an die Jugend der Siedlung weitergeben. Vielversprechend ist, dass die Nachbarskinder regelmäßig helfen den Garten bei den Maltesern in Ordnung zu halten. Jetzt, in der Ferienzeit, haben sie zwischen den Ferienprogrammen der Nachmittagsbetreuung Zeit ein paar Erbsen zu pflücken oder Unkraut zu jäten.
„Ich poste auch auf Facebook.“
Wir befinden uns in Told im ostungarischen Komitat Hajdú-Bihar, einem Dorf mit 350 Einwohnern an der rumänischen Grenze, wo wir den Hof von Angéla und ihrem Ehemann Imre betreten. Das Ehepaar errötet bei unserer Ankunft und bittet uns ins Haus. Angéla hat es vor einem Jahr von ihrem verstorbenen Vater geerbt. Im Frühling ist die Familie hierher gezogen.
„Am Haus gibt es immer noch viel zu tun, aber Sie können sich nicht vorstellen, wie es vorher hier ausgesehen hat. Hier war beispielsweise ein Rattennest“, sagt Imre und zeigt auf die Wand in der Diele. Das Paar hat selbst die Renovierung des Hauses übernommen, ihr vorheriges Zuhause haben sie ihrer Tochter und deren Familie zum Wohnen überlassen.
Wir verlassen das Lehmhaus, das sich tatsächlich in einem erbärmlichen Zustand befindet, und gehen sofort wieder auf den Hof, denn hier ist Angélas Gemüsegarten und hier halten die beiden auch Tiere.
„Pastinaken, Zwiebeln, rote Zwiebeln, Kartoffeln. Wir hatten heuer auch Salat und Erbsen, aber die sind schon abgeerntet.“ Angéla zählt auf, was sie in diesem Jahr alles angebaut hat. Sie sät einen großen Teil davon schon im November, damit, wie sie sagt, bei ihnen der Garten schon schön ist, wenn die anderen noch am Aussäen sind.
„Ich poste auch auf Facebook. ‚Schaut! So einen Salat habe ich, das ist ein Gemüsegarten!‘ Danach liken das viele. Ich zeige gerne, was ich für schönes Gemüse habe“, erzählt Angéla. Dann zeigt sie auch einen Post auf Facebook mit wild wachsendem grünen Kartoffelkraut.
„Wir haben gelernt viel Geld zu sparen.“
Angéla hat im Gegensatz zu Joli das Gärtnern nicht von ihren Eltern gelernt. Bis zum Alter von zwölf Jahren lebte sie in einem Heim. Dann kam sie zu ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, aber die beschäftigten sich nicht mit der Gärtnerei. „Mein Mann und ich haben das einfach gelernt, um damit Geld sparen zu können. Wenn wir weniger für Gemüse ausgeben, bleibt mehr Geld für Fleisch“, sagt sie.
Die beiden halten auch Tiere, früher Schweine, jetzt aber nur noch Geflügel. Ein Küken kostet 370 Forint (1,20 Euro). Sie ziehen es mit Maisgrieß, Hühnerfutter und Weizen innerhalb von 7–8 Monaten auf. Derzeit besitzen sie junge wie auch ausgewachsene Tiere. Die älteren legen Eier, die Angéla gewöhnlich ihren Töchtern weitergibt, die im Dorf leben.
Die Tierhaltung hat ihren Preis: Futtermittel kosten monatlich 11.000 Forint (34 Euro), Geld, das sie Anfang des Monats zurücklegen. Sie leben von Imres Gehalt als Arbeiter im Arbeitsdienst, dem Kindergeld, das Angéla für ihr zweieinhalbjähriges Kind erhält, Familienbeihilfe und die Waisenrente für Angélas Bruder. Das ergibt insgesamt 130.000 Forint (400 Euro) im Monat für eine vierköpfige Familie.
Die Gartenarbeit verrichtet sie zusammen mit ihrem Mann, vor allem die zeit- und energieaufwendigen Arbeiten wie das Gießen, denn auch Angéla hat keinen Wasseranschluss im Garten, nicht einmal fließendes Wasser im Haus. Die nächste Wasserstelle ist 50 Meter entfernt. Von dort schleppt das Ehepaar täglich in Zehn-Litergefäßen das Wasser für ihre Pflanzen, die Tiere und natürlich für den vierköpfigen Haushalt. Wenn gerade Waschtag ist – und der ist dreimal in der Woche – müssen sogar 100 Liter vom Brunnen geholt werden.
„… sie kommen auch in der größten Armut zurecht.“
„Wer die Fähigkeit hat, sich selbst zu erhalten, der kommt auch in der größten Armut zurecht und kann sich selbst helfen. Sie haben einen Gemüsegarten hinter dem Haus, darin gibt’s Kartoffeln und Gemüse“, erklärt Nóra L. Ritók von der Stiftung Igazgyöngy („Echte Perle“) in Told, die Angéla und ihre Familie gut kennt.
Nóra berichtet von Menschen, bei denen der Gartenbau zur Familientradition gehört – wie wir es bei Joli gesehen haben –, und die seit Generationen wissen, dass es leichter ist, eine Familie zu ernähren, wenn man selbst ein paar Grundnahrungsmittel erzeugt. In vergleichbaren Siedlungen wie denen von Told und Monor gibt es viele Menschen, denen diese Tradition nicht überliefert wurde. Ihre Gärten liegen brach und sind staubüberzogen wie die in Tabán, oder sie sind überwuchert von undurchdringlichem Dschungel wie einige Höfe in der Romasiedlung von Told. Diese Haushalte leiden jedoch die größte Not und es wäre gut, wenn sie am Monatsende nicht im Laden Kartoffeln und Zwiebeln kaufen müssten.
Daran lässt sich etwas ändern. Wie in zahlreichen anderen verarmten Siedlungen gibt es auch in Told einen Gemeinschaftsgarten, der von der Stiftung betrieben wird. Die Dorfbewohner können in einem angemeldeten Arbeitsverhältnis, als Gelegenheitsarbeiter oder freiwillig mitarbeiten. Viele von ihnen lernen hier die Arbeitsabläufe für die Pflanzenzucht, anschließend bekommen sie nach Möglichkeit Saatgut und Pflanzen, die sie bei sich zu Hause im Garten anbauen können. Nóra L. Ritók gibt sich keinen Illusionen hin. Es komme immer wieder vor, dass manche das Saatgut lieber verkaufen und die erhaltenen Kartoffeln nicht einpflanzen, sondern lieber am Wochenende aufessen. Bei unserem Besuch erlebte Nora jedoch eine Überraschung. Als sie auf den nichtumgezäunten Hof eines verfallenen Hauses tritt, findet sie in einer kleinen Ecke hinter Unkraut wild wachsenden Kürbis, Zwiebeln und Karotten. „Schaut, das hier ist ein Gemüsegarten! Damit habe ich nicht gerechnet“
Original auf Ungarisch. Erstmals publiziert am 10. Juli 2017 auf abcug.hu. Aus dem Ungarischen von Zsóka Leposa und Karlheinz Schweitzer.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © Eszter Neuberger. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: © Hajdú D. András.
Journalismuspreis “von unten”
Der Journalismuspreis „von unten“ wurde 2010 von der Armutskonferenz entwickelt. Mit dem Ziel einen Journalismus zu fördern, der den vielen Facetten von Armut gerecht wird, Betroffene respektvoll behandelt, ihre Stimmen hörbar bzw. sichtbar macht und Hintergründe ausleuchtet. Die Jury setzt sich ausschließlich aus Menschen mit Armutserfahrungen zusammen und auch deshalb ist die Würdigung für die bisher 53 ausgezeichneten JournalistInnen etwas Besonderes.
Seit 2015 wird mit Unterstützung der ERSTE Stiftung und des EAPN (Europäisches Armutsnetzwerk) an einer internationalen Verbreitung des Preises gearbeitet und dafür internationale Austausch-Workshops organisiert. Zuletzt wurde der Journalismuspreis für respektvolle Armutsberichterstattung erstmals auch in Ungarn, Kroatien, Finnland und Island verliehen. Dieser Artikel von Sandra Knopp und Udo Seelhofer wurde 2017 in der Kategorie Online ausgezeichnet.