Zahlenfiasko

Das Bevölkerungsmysterium Nordmazedoniens

Die offizielle Bevölkerungsstatistik Nordmazedoniens ist nicht nur ungenau — sie ist völlig falsch. Und das hat Folgen.

Nach Angaben des staatlichen Statistikamts betrug die Bevölkerung Nordmazedoniens zum 31. Dezember 2018 knapp 2,08 Millionen – genauer gesagt 2.077.132 – Menschen. Doch diese Zahl ist schlichtweg falsch.

Zumindest nach Ansicht von Apostol Simovski, dem Direktor des Statistikamts. „Ich fürchte, es leben nicht mehr als 1,5 Millionen Menschen im Land, ich kann es aber nicht beweisen.“ Wenn Simovski recht hat – manche meinen, er sei zu pessimistisch – dann wäre die Bevölkerung Nordmazedoniens seit der Unabhängigkeit 1991, als 1,99 Millionen Menschen im Land lebten, um 24,6 Prozent zurückgegangen.

Dieser Prozentsatz wäre weitaus höher als in jedem anderen Land Ex-Jugoslawiens – sogar höher als in Bosnien und Herzegowina, wo vier Jahre lang Krieg herrschte. Der Verlust wäre sogar noch dramatischer als im benachbarten Bulgarien, das in den vergangenen 30 Jahren knapp 21 Prozent seiner Bevölkerung verloren hat.

Manche Ökonomen vermuten, dass die Bevölkerung Nordmazedoniens tatsächlich zwischen 1,6 Millionen und 1,8 Millionen liegt, was immer noch bedeuten würde, dass das Land seit 1991 zwischen 19,6 Prozent und 9,5 Prozent seiner Bevölkerung eingebüßt hat. Stimmt die letztgenannte Zahl, dann entspricht der Bevölkerungsrückgang Nordmazedoniens in etwa dem in Serbien und Kroatien, wo die Verluste zwischen acht und neun Prozent liegen.

Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Bevölkerungsveränderung in Nordmazedonien. Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Das Problem ist, dass niemand die wahre Zahl kennt, und es kommt selten vor, dass der Leiter eines nationalen Statistikamts zugibt, die wichtigste Basisgröße seines Landes sei nicht nur ungenau, sondern völlig falsch. „Glauben Sie mir“, sagt er, „Ich bin frustriert.“

Kein Konsens

Es hat einen guten Grund, warum Simovski nicht mit Sicherheit sagen kann, wie viele Menschen in Nordmazedonien leben. Im Jahr 2011 mischten sich mazedonische und albanische Politikerinnen und Politiker dermaßen in die Durchführung der Volkszählung ein, dass das Unterfangen misslang. Im Interesse der mazedonischen Nationalisten sei ein Ergebnis gelegen, das die albanische Minderheit des Landes mit weniger als 20 Prozent der Bevölkerung bezifferte, so Simovski. Das ist die Schwelle, ab der ethnischen Albanern nach dem Friedensabkommen von Ohrid 2001, das das Land vor dem Ausbruch eines Bürgerkriegs bewahrte, bestimmte Rechte eingeräumt werden.

Im Gegensatz zu den mazedonischen Nationalisten war den ethnischen Albanern wenig überraschend daran gelegen, ihren Anteil an der Bevölkerung so hoch wie möglich zu deklarieren. Beide Seiten hätten ihre Unterstützer animiert, derart viele im Ausland lebende – und daher eigentlich nicht in die Zählung einzubeziehende – Familienangehörige hinzuzufügen, dass ihnen noch vor Abschluss der Volkszählung klar geworden sei, die aufgebauschten Zahlen würden dermaßen unglaubwürdig sein, „dass niemand sie akzeptieren würde“, und so hätten sie den Prozess abgebrochen, berichtet Simovski.

Eine neue Volkszählung, die im April dieses Jahres hätte stattfinden sollen, wurde auf 2021 verschoben, da für denselben Monat vorgezogene Wahlen angesetzt wurden. Diese wurden dann aufgrund der Coronavirus-Pandemie ebenfalls verschoben. Infolgedessen werden in Nordmazedonien nach wie vor die Bevölkerungszahlen der Volkszählung des Jahres 2002 als Basis für alle anderen Daten herangezogen. Obwohl es auch damals Versuche einer politischen Einmischung gegeben hätte, sei die Volkszählung laut Simovski ordnungsgemäß durchgeführt worden und gelte als zuverlässig.

Die heutige offizielle Bevölkerungszahl von knapp 2,08 Millionen ergibt sich dadurch, dass die mittels Volkszählung von 2002 errechnete Einwohnerzahl von 2,02 Millionen um Geburten und Todesfälle sowie eine sehr geringe Anzahl von Zuwanderern und offiziell registrierten Auswanderern ergänzt wurde. Das Hauptproblem besteht darin, dass Hunderttausende ausgewandert sind, jedoch nicht zahlenmäßig erfasst wurden – die genauen Zahlen sind also nicht bekannt.

Verica Janeska vom Wirtschaftsinstitut der Universität St. Kyrill und Method in Skopje warnt jedoch davor, für die Berechnung der Gesamtbevölkerung ausländische Daten über die Zahl der im Ausland lebenden Mazedonierinnen und Mazedonier heranzuziehen. Diese Zahlen würden laut Janeska nämlich häufig jene Personen inkludieren, „die das Land im Laufe der letzten vier oder fünf Jahrzehnte verlassen haben, sowie Emigranten der zweiten und dritten Generation“. Auch wenn es möglich wäre, auf Grundlage verschiedener nationaler Datenbanken grobe Bevölkerungsschätzungen vorzunehmen, so ist doch keine von ihnen – für sich genommen – völlig zuverlässig. Steuerrelevante Daten erfassen beispielsweise keine in der Schattenwirtschaft tätigen Personen. Die Volkszählung von 2021 wird jedoch erstmalig mit sechs nationalen Datenbanken abgeglichen werden. Bis dahin „kann niemand eine realistische Schätzung der Gesamtbevölkerung abgeben“, so Janeska.

Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Nordmazedonien – Demografische Kennzahlen. Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Bis zum Abschluss der Volkszählung 2021 ist also nicht nur die offizielle Bevölkerungszahl Nordmazedoniens falsch, sondern es stimmen auch alle anderen Daten nicht, die auf der Grundlage der Einwohnerzahl des Landes berechnet werden, wie etwa das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Die Fertilitätsrate Nordmazedoniens ist ein weiteres Beispiel. Offiziell liegt sie bei 1,42 Kindern pro Frau, aber wenn im Land weniger als 2,08 Millionen Menschen und damit weniger Frauen im gebärfähigen Alter leben, wäre die Fruchtbarkeitsrate höher.

Zahlenbelege

Seit dem späten 19. Jahrhundert emigrieren Mazedonierinnen und Mazedonier, aber niemand weiß genau, wie viele in der Diaspora leben bzw. wie viele Bürgerinnen und Bürger sich im Ausland befinden (siehe Kasten). Laut einer jugoslawischen Volkszählung lebten 1921 knapp 809.000 Menschen im heutigen Nordmazedonien. Bis 1971, so Janeska, die die Zahl der im Ausland lebenden, in die Gesamtzahl der Volkszählung einbezogenen Personen nicht mitgerechnet hat, hatte sich die Bevölkerung des Landes auf 1,64 Millionen verdoppelt. Im Jahr 2002 waren von den 2,02 Millionen Einwohnern des Landes 64 Prozent mazedonischer und 25 Prozent albanischer Herkunft. Der Rest waren Roma, Türken, mazedonische Muslime und andere Minderheiten.

Wie überall in Jugoslawien stand die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg im Zeichen der Industrialisierung, Urbanisierung, Bildung und sozialen Emanzipation, insbesondere was Frauen anbelangte. Weltweit haben diese Entwicklungen stets zu dramatischen Rückgängen der Geburtenziffern geführt, und das jugoslawische Mazedonien bildete da keine Ausnahme. Gleichzeitig stieg die Zahl der Lebendgeburten und aufgrund der Verbesserung der Gesundheitsversorgung auch die Lebenserwartung. All dies lässt sich anhand der Daten nachvollziehen.

EUROPE’S FUTURES

Europa erlebt seine dramatischste und herausforderndste Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Das europäische Projekt steht auf dem Spiel und die liberale Demokratie wird sowohl von innen als auch von außen gefordert. Von allen Seiten der staatlichen und nicht-staatlichen Akteure ist es dringend erforderlich, sich mit den brennenden Problemen zu befassen und das, was durch das politische Friedensprojekt sorgfältig erreicht wurde, zu bekräftigen.

Zwischen 2018 und 2021 engagieren sich jedes Jahr sechs bis acht führende europäische Expertinnen und Experten als Europe’s Futures Fellows. Sie schaffen damit eine einzigartige eine Plattform der Ideen, um grundlegende Maßnahmen zu präsentieren, deren Ziel es ist, die Vision und Realität Europas zu stärken und voranzutreiben. Europe’s Futures basiert auf eingehenden Untersuchungen, konkreten politischen Vorschlägen und dem Austausch mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, dem öffentlichen Diskurs und Medien.

Mit knapp über 51.000 erreichte die Zahl der Lebendgeburten 1952 einen Höchststand. Das natürliche Wachstum der Republik – d.h. Geburten minus Sterbefälle – war 1954 mit fast 34.300 am höchsten. Seitdem sind beide Zahlen zurückgegangen.

Im vergangenen Jahr gab es nach vorläufigen Daten 687 mehr Sterbefälle als Geburten, womit 2019 die Zahl der Verstorbenen erstmalig die der Neugeborenen im Land übertroffen hätte.

Auch wenn keine separaten Daten zu den Geburtenziffern von Mazedoniern, Albanern und anderen ethnischen Gruppen vorliegen, teilt Simovski die Meinung anderer Experten, dass sich die zu Zeiten Jugoslawiens völlig unterschiedliche Bevölkerungsentwicklung dieser Volksgruppen in den letzten Jahren einander angeglichen hat. Er hielt jedoch fest, dass die ethnische Zugehörigkeit im Gegensatz zum religiösen und damit kulturellen Hintergrund in Nordmazedonien nicht der wichtigste Faktor sei.

So bekamen mazedonische Christen viel früher weniger Kinder als Muslime, ein Kulturphänomen, das auch in anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens, einschließlich des Kosovo und Bosniens, zu beobachten war. Gewiss besteht der größte Teil der muslimischen Bevölkerung Nordmazedoniens aus ethnischen Albanern.

Izet Zeqiri von der Südosteuropäischen Universität in Tetovo ist der Ansicht, dass die demografische Entwicklung der albanischen Bevölkerung in Nordmazedonien jener der Kosovo-Albaner entspricht, d.h. es gab zuvor hohe Geburtenrate, die in den vergangenen 30 Jahren drastisch zurückgegangen ist.

Während also die offizielle, wenn auch unpräzise Fertilitätsrate Nordmazedoniens bei 1,42 liegt, betrug sie 2018 in der überwiegend von Albanerinnen und Albanern bewohnten Region Polog 1,17, was sogar noch niedriger ist als in einigen mehrheitlich mazedonischen Regionen. Dies weist nicht nur auf einen starken Rückgang der Geburten hin, sondern auch auf die Abwanderung von Frauen im gebärfähigen Alter.

Aufgrund der hohen Abwanderungszahlen werden in Nordmazedonien nun auch die Daten von im Ausland geborenen Babys, die als Staatsbürgerinnen und -bürger registriert sind, erhoben. Da anderswo kein Informationsaustausch über Neugeborene stattfindet, die auch die Staatsbürgerschaft dieser Länder haben und nicht jeder im Ausland geborene Säugling den mazedonischen Behörden gemeldet wird, handelt es sich nur um eine grobe Schätzung. Dennoch wächst die Zahl mit jedem Jahr. 2008 wurden rund 3.700 Babys im Ausland geboren, 2018 waren es etwa 5.000. Das bedeutet, dass auf jedes vierte im Land geborene Baby beinah ein mazedonisches Baby kommt, das im Ausland zur Welt kam. Wie überall in Europa werden auch die Mazedonierinnen und Mazedonier immer älter. Die Lebenserwartung liegt heute bei 75,95, während sie 1960 noch bei 60,6 Jahren lag.

Am anderen Ende der Altersskala bedeuten die sinkenden Zahlen, dass es jedes Jahr weniger Schülerinnen und Schüler gibt. Im Jahr 2018 waren es 188.500; 2009, nachdem die Sekundarstufe II verpflichtend wurde, belief sich die Zahl auf 209.000. Das ist ein Rückgang von knapp 10 Prozent in weniger als einem Jahrzehnt. Gleichzeitig haben fast alle Regionen des Landes mit Ausnahme von Skopje an Bevölkerung verloren. Laut Nikola Naumoski, dem Stabschef des Bürgermeisters von Skopje, stagniere mittlerweile auch die Bevölkerung der Hauptstadt bei rund 600.000. Es würden zwar nach wie vor Menschen aus dem Rest des Landes in die Stadt ziehen, doch gleichzeitig verlassen viele Bewohner Skopjes das Land, so Naumoski.

Besonders stark betroffen sei der Dienstleistungssektor, insbesondere der Tourismus. Arbeitskräfte fehlen auch im IT-Bereich und im Einzelhandel. Ärztinnen und Ärzte, medizinisches Fachpersonal und Bauarbeiter ziehen ebenfalls weg, zumindest taten sie dies bis zum Ausbruch der Coronavirus-Pandemie. In den letzten Jahren ist das BIP Nordmazedoniens in keinem Jahr um mehr als 3,8 Prozent gestiegen – und das sei einfach nicht genug, so Janeska. Es müsste durchweg doppelt so hoch sein, damit die Wirtschaft schnell genug wachsen kann und es für die Bevölkerung attraktiver wird, im Land zu bleiben, als es zu verlassen.

Die Wirtschaftslage Nordmazedoniens dürfte sich nach der globalen Pandemie wohl kaum verbessern und die Auswirkungen auf den Rest Europas und die Welt werden auch die Abwanderung beeinflussen. Für eine Abschätzung der weiteren Entwicklung ist es jedoch noch zu früh. Wie auch anderswo in der Region haben die Menschen bis zum Ausbruch der Pandemie das Land verlassen und werden es vermutlich auch danach wieder tun. Sie täten dies laut Janeska nicht nur aus Geldgründen, sondern auch wegen der besseren Berufschancen, Bildungsmöglichkeiten und Gesundheitsversorgung und um in einem weniger korrupten und politisch stabileren Umfeld zu leben.

Nordmazedonien in Zahlen

Ein Grund, warum niemand weiß, wie viele Menschen in Nordmazedonien leben, besteht darin, dass niemand weiß, wie viele Menschen das Land verlassen haben, insbesondere seit der letzten Volkszählung im Jahr 2002. Das Problem bei dem Versuch herauszufinden, wie viele Mazedonier im Ausland leben, ist, dass es davon abhängt, wer als Mazedonierin oder Mazedonier zu zählen ist. Und selbst wenn damit nur jene Personen gemeint sind, die die mazedonische Staatsbürgerschaft besitzen, wird man rasch feststellen, dass die verfügbaren Daten lückenhaft und unzuverlässig sind.

In politischen Debatten kursieren unbestätigte Zahlen, als ob sie akkurat und verifiziert wären. Es herrscht wenig Verständnis dafür, dass die von ansonsten seriösen Organisationen wie der Weltbank oder den Vereinten Nationen genannten Zahlen zwar Richtwerte angeben, jedoch äußerst ungenau sind. Das hat damit zu tun, dass diese Organisationen die von ihnen verwendeten Daten nicht selbst erheben, sondern auf Zahlen von anderen Instanzen angewiesen sind. Zunächst ist zu klären, von wem die Rede ist bzw. wer überhaupt erfasst wird. Geht es um ethnische Mazedonierinnen und Mazedonier, Bürgerinnen und Bürger Mazedoniens oder um die Nachkommen von Personen, die Mazedonien in der Vergangenheit verlassen haben?

Wenn Letztere gemeint sind, dann ist zu bedenken, dass viele ihrer Vorfahren aus einer Region ausgewandert sind, die weit größer ist als das heutige Nordmazedonien. Mazedonierinnen und Mazedonier sind seit dem späten 19. Jahrhundert in großer Zahl ausgewandert, woraus folgt, dass es im Ausland zwangsläufig eine große Zahl von Menschen mazedonischer Abstammung oder Personen mit mazedonischen Wurzeln gibt. Die Vereinigte Mazedonische Diaspora (United Macedonian Diaspora) mit Sitz in Washington, D.C. vertritt ethnische Mazedonierinnen und Mazedonier. In ihren groben Schätzungen der Auslandsmazedonier bleiben daher Albaner, Türken, Roma und andere Minderheiten aus dem heutigen Nordmazedonien unberücksichtigt. Den Angaben der UMD zufolge leben bis zu 250.000 Menschen mazedonischer Herkunft in Kanada, bis zu 300.000 in Australien, bis zu 600.000 in Europa (ohne Nordmazedonien) und 500.000 in den Vereinigten Staaten. Insgesamt sind es also 1,65 Millionen.

Ein bedeutender, jedoch zahlenmäßig unbekannter Anteil dieser Menschen stammt jedoch von Auswanderern ab, die das osmanische Mazedonien, zu dem auch Thessaloniki, die heute zweitgrößte Stadt Griechenlands, gehörte, verlassen haben. Im Zuge der Balkankriege 1912-13 wurde dieses Gebiet in drei Teile gesplittet. Während ein kleiner Teil an Bulgarien fiel, wurde der Großteil zwischen Griechenland und Serbien aufgeteilt. Der serbische Teil Mazedoniens wurde Ende des Zweiten Weltkriegs zu einer der sechs jugoslawischen Teilrepubliken und schließlich zum heutigen Nordmazedonien. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs brach in Griechenland ein Bürgerkrieg aus, der Zehntausende ethnische Mazedonier, häufig als Ägäis-Mazedonier bezeichnet, zur Flucht bewog. Wie auch griechisch-mazedonische Flüchtlinge landeten viele dieser Menschen in der Sowjetunion (insbesondere in Taschkent in Usbekistan) und in anderen Ostblockländern. Andere flohen nach Australien, in die Vereinigten Staaten und nach Kanada.

Tausende ließen sich jedoch unmittelbar im jugoslawischen Mazedonien nieder, aber viele kamen in den zwei Jahrzehnten nach dem Krieg erst nach und nach aus der Sowjetunion und von anderswo ins Land. Schätzungen zufolge haben bis Mitte der 1960er-Jahre rund 50.000 Ägäis-Mazedonier hier ihr Zuhause gefunden. Einige wurden jedoch auch in der Vojvodina in Nordserbien angesiedelt. Bis Mitte der 1960er-Jahre war die Auswanderung aus Jugoslawien entweder illegal oder zumindest äußerst schwierig. Für Mazedonien gab es allerdings eine große Ausnahme. Ein Abkommen zwischen der Türkei und Jugoslawien gestattete es Türkinnen und Türken, ungehindert aus Mazedonien auszureisen. Zwischen 1953 und 1968 sind nach Angaben des türkischen Außenministeriums 170.000 Türkinnen und Türken ausgewandert. Dazu zählten zwar mehrheitlich ethnische Türken, viele andere, wie Albaner und mazedonische Muslime, deklarierten sich jedoch als Personen türkischer Herkunft, um auswandern zu können. Der Unterschied zwischen diesen Menschen und den ausgewanderten ethnischen Mazedoniern besteht darin, dass letztere ihre mazedonische Identität in der Diaspora häufig vehement hochhalten, während diejenigen, die in die Türkei gingen, sich bald vollständig als Türkinnen und Türken identifizierten.

Ab Mitte der 1960er-Jahre begannen Mazedonierinnen und Mazedonier, wie andere Jugoslawinnen und Jugoslawen auch, nach Deutschland und in andere europäische Länder zu ziehen, um dort zu arbeiten. Damit begann ein neues Kapitel in der Geschichte der mazedonischen Emigration. Heute sind, abgesehen von den Schätzungen der Diaspora-Organisationen, verschiedene Angaben über die Zahl der Mazedonierinnen und Mazedonier im Ausland im Umlauf. Im März 2019 veröffentlichte die Regierung ihre Nationale Strategie für die Zusammenarbeit mit der Diaspora, der zufolge „grobgeschätzt“ von 700.000 Auswanderern „auszugehen ist“. Diese Zahl basiere jedoch nur auf „ausländischen Datenquellen“, heißt es. Laut UN-Angaben, die ebenfalls auf ausländischen Daten beruhen, waren es 2019 exakt 658.264, während die Weltbank von rund 500.000 Mazedonierinnen und Mazedoniern im Ausland spricht. Edmond Ademi, der für die Diaspora zuständige Minister, ist der Ansicht, dass es in Wirklichkeit 500.000 bis 600.000 Menschen seien. Wirtschaftswissenschaftler Izet Zeqiri, der sich die Zahlen genau angesehen hat, spricht jedoch von 600.000 bis 640.000.

Scheinen im Ausland lebende Mazedonierinnen und Mazedonier in ausländischen Statistiken auf, bedeutet dies, dass sie Staatsbürgerinnen und -bürger sind und die ethnische Zugehörigkeit somit kein Faktor ist. Es ist jedoch zu beobachten, dass einige Nationalitäten gewisse Zielländer bevorzugen. Albanerinnen und Albaner zählen beispielsweise in der Schweiz zur überwiegenden Mehrheit der dort ansässigen mazedonischen Bevölkerung. Mazedonische Muslime gehen nach Italien, und ethnische Mazedonier wandern in der Regel nach Slowenien und Schweden aus. Haben die Auswanderer auch die Staatsbürgerschaft eines anderen Landes erworben, scheinen sie meist nicht mehr in den Zahlen auf. Australien spricht dagegen von etwas mehr als 49.000 Einwohnern, die im heutigen Nordmazedonien geboren wurden.

In Europa lebten am 1. Jänner 2019 laut Eurostat-Daten, die wiederum von den nationalen statistischen Ämtern stammen, 102.000 Mazedonierinnen und Mazedonier in Deutschland, 66.600 in der Schweiz, 63.600 in Italien, 23.400 in Österreich und 12.300 in Slowenien. Insgesamt hielten sich 2010 laut Eurostat 156.900 mazedonische Staatsbürgerinnen und -bürger in der EU auf. 2019 waren es 220.400. Aber wie bei allen diesen Statistiken sind auch diese Zahlen mit Vorsicht zu genießen. Erstens besitzen zumindest 81.000 Mazedonierinnen und Mazedonier bulgarische Pässe und können deshalb problemlos in der EU arbeiten. Somit scheint jede Mazedonierin und jeder Mazedonier, die oder der in der EU als Bulgarin bzw. Bulgare registriert ist, in den Statistiken nicht als Mazedonierin bzw. Mazedonier auf. Zweitens, so Apostol Simovski, der Direktor des staatlichen Statistikamts, würden ausländische Daten über im Ausland lebende Mazedonierinnen und Mazedonier keine Auskunft darüber geben, aus welchem Land sie kommen.

Beispielsweise sinkt die Zahl der Mazedonierinnen und Mazedonier in Italien, während sie in Deutschland steigt. Es wäre daher falsch anzunehmen, dass Zuwanderer in Deutschland oder anderswo unmittelbar aus Nordmazedonien eingewandert sind, wodurch die Bevölkerung Mazedoniens um die gleiche Zahl gesunken sein müsste, weil die Neuankömmlinge das Land vielleicht bereits vor Jahren verlassen haben. Drittens sind die Eurostat-Zahlen – und damit auch die nationalen Daten, auf denen sie basieren – überraschenderweise lückenhaft. Eurostat gibt die Zahl der Mazedonierinnen und Mazedonier in Griechenland, Spanien, Großbritannien, Malta und Kroatien mit Null an.

Tatsächlich leben etwa schätzungsweise 3.000 Mazedonierinnen und Mazedonier in Großbritannien, wobei diejenigen, die als Bulgarinnen und Bulgaren registriert sind, nicht mitgerechnet sind, wie das Office for National Statistics mitteilt. Ende 2018 gab es 1.591 mazedonische Staatsbürgerinnen und -bürger mit einer Aufenthaltsgenehmigung für Malta. Googelt man „Wie groß ist die irische Diaspora“, verweist das oberste Suchergebnis auf einen Artikel der Irish Times, in dem es heißt: „drei bis 70 Millionen, je nachdem, wen man fragt“. In der irischen Republik leben 4,83 Millionen Menschen. Was die Mazedonierinnen und Mazedonier im Ausland betrifft, so scheinen sie die Rolle der Irinnen und Iren auf dem Balkan zu übernehmen, nur dass sie im Gegensatz zu den Iren nicht einmal wissen, wie viele Menschen im eigenen Land leben.

Auch die zunehmende Umweltverschmutzung würde selbst hoch bezahlte Fachkräfte zur Abwanderung bewegen, so Mojsovska. Sie würden an die Gesundheit ihrer Kinder denken, auch wenn ihr Lebensstandard außerhalb des Landes schlechter ist. Saisonarbeit im Ausland hat in Nordmazedonien eine lange Tradition, die augenscheinlich bis heute anhält, obwohl dazu keine konkreten Daten vorliegen.

Offiziell haben beispielsweise knapp 1.600 Mazedonierinnen und Mazedonier eine Aufenthaltsgenehmigung für Malta. Edmond Ademi, der für die Diaspora zuständige Minister, berichtet jedoch, dass er bei seinem Besuch auf Malta erfahren habe, dass diese Zahl im Sommer auf bis zu 7.000 ansteigt. Da viele dieser Personen jedoch bulgarische Pässe benutzen, sei dies unmöglich nachzuweisen. „Wie lässt sich Wirtschaftspolitik gestalten, wenn man nicht weiß, wer hier ist und wer nicht?“, fragt sich Janeska.

“Wie lässt sich Wirtschaftspolitik gestalten, wenn man nicht weiß, wer hier ist und wer nicht?“

— – Verica Janeska, Universität St. Kyrill und Method

Länder wie Deutschland, die ihre Märkte öffnen, locken Arbeitskräfte aus Nordmazedonien, einem EU-Beitrittskandidaten, an, die gleichzeitig aufgrund der niedrigen Löhne und schlechten Arbeitsbedingungen dem eigenen Land den Rücken kehren. Laut Janeska errege dies unter anderem den Unmut ausländischer Investoren. „Sie sagen: ‚Ihr habt uns Arbeitskräfte versprochen, aber nun gibt es keine‘“. Und dies, fügt sie hinzu, „ist ein großes wirtschaftliches Problem“.

Im Unterschied zu reicheren Balkanländern wie Kroatien will niemand aus dem Ausland in Nordmazedonien zu mazedonischen Löhnen und Bedingungen arbeiten. Die demografische Situation in Nordmazedonien ist zweifellos dramatisch, aber solange es keine Volkszählung gibt, kann niemand wissen, wie schlimm die Lage wirklich ist. Und ohne korrekte Statistiken wird eine vernünftige Planung für das Land weiterhin schwierig bleiben. Indes geben Demografen zu bedenken, dass es um Menschen geht – nicht nur um Zahlen.

Janeska besucht häufig Familie und Freunde in und um Gostivar im Nordwesten des Landes. Im Winter sei die Stadt „mehr oder weniger leer“. Erst wenn die Diaspora für den Sommer zurückkehrt, füllt sie sich. Die meisten Menschen, die das ganze Jahr über dort leben, sind alt. Die Stimmung ist denkbar schlecht, berichtet Janeska. „Die Leute sagen: ‚Wir sind allein. Unsere Kinder und Enkelkinder sind im Ausland. Sie schicken uns Geld, aber wir wollen kein Geld. Wir wollen unsere Familien zurück.‘“

Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 14. Mai 2020 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Judah. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Illustration: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

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