Von passiver Toleranz zur Akzeptanz
Tschechische Aktivistinnen und Aktivisten fordern stärkeres Bekenntnis zu LGBT-Rechte.
Bis zur völligen Akzeptanz von LGBT-Rechten ist es in der säkularisierten Tschechischen Republik, die gemeinhin als das fortschrittlichste Land des ehemaligen Ostblocks gilt, noch ein weiter Weg, warnen lokale Aktivistinnen und Aktivisten.
„Ehrlich gesagt, wünschte ich, ich müsste diese Arbeit nicht machen, aber als ich sah, wie festgefahren die Situation in der Tschechischen Republik war, wusste ich, dass ich etwas tun musste“, meinte Adela Horáková, eine ehemalige Rechtsanwältin, die ihre Karriere aufgab, um sich Jsme Fer („Wir sind fair!“), einer Vereinigung von sechs lokalen Organisationen, anzuschließen, die sich für LGBT-Rechte im Land einsetzen.
Das 2017 gegründete, ehrenamtlich agierende Netzwerk Jsme Fer hat bereits mehr als 100.000 Unterschriften für seine Petition zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe in der Tschechischen Republik gesammelt. Doch mehr als zwei Jahre, nachdem ein Antrag zur Änderung des tschechischen Zivilgesetzbuchs von Abgeordneten aus sechs verschiedenen Parteien im Parlament eingebracht wurde, ist noch immer alles beim Alten. „Es ist absurd“, klagte Horáková. „Der Gesetzesentwurf zur Legalisierung der gleichgeschlechtlichen Ehe ist mittlerweile ein politischer ‚Ladenhüter‘ im Parlament. Die Gesetzgeber haben die Pflicht, über jedes ihnen vorgelegte Gesetz abzustimmen, anstatt es unter den Teppich zu kehren.“
Horáková macht dafür einen Mangel an politischem Willen der regierenden ANO-Partei verantwortlich, auch wenn Premierminister Andrej Babiš den Gesetzesentwurf persönlich unterstützte. Die meisten der tschechischen Großparteien seien in dieser Frage gespalten und würden internen Streitigkeiten lieber aus dem Weg gehen. „Die Tschechische Republik steckt immer noch in der Vergangenheit fest“, so Horáková, die die Chancen auf eine Änderung des Status quo vor den Parlamentswahlen im Oktober immer mehr schwinden sieht.
Nachdem etwa 60 Prozent der Bevölkerung die gleichgeschlechtliche Ehe befürworten, könnte man die Tschechische Republik geradezu als Vorreiterin unter den ehemaligen Ostblockstaaten bezeichnen, was die LGBT-Akzeptanz anbelangt. Homosexualität wurde 1962 legalisiert, früher als in vielen westeuropäischen Ländern. Pro-LGBT-Organisationen florieren seit den frühen 1990er-Jahren.
Laut Michal Pitoňák, Leiter von Queer Geography, dem wissenschaftlichen Arm von Jsme Fer, spiegeln diese ermutigenden Zahlen und die vielen Jahre aktivistischer Arbeit jedoch nicht zwangsläufig die aktive Unterstützung in der heutigen Bevölkerung wider. „Die Tschechische Republik steht dem Thema der sexuellen Minderheiten äußerst gleichgültig gegenüber“, erklärte er. „LGBT-Rechte gehören für den durchschnittlichen Tschechen, die durchschnittliche Tschechin nicht zu den täglichen Sorgen und sind kein diskussionswürdiges Thema. Die meisten glauben, dass LGBT-Personen bereits genug Rechtssicherheit haben und dass die derzeit geltenden Gesetze ausreichend sind.“
Diese Gesetze decken eingetragene Lebenspartnerschaften ab, von denen seit ihrer Einführung in der Tschechischen Republik 2006 mehr als 3.600 homosexuelle Paare profitiert haben, sowie eine Entscheidung des tschechischen Verfassungsgerichts aus dem Jahr 2016, die Personen in eingetragenen Partnerschaften ein Adoptionsrecht einräumt.
Ein zweischneidiges Schwert
Laut Pitoňák, der den wissenschaftlichen Bereich der queeren Geografie in der Tschechischen Republik maßgeblich mitgestaltet hat, leistet die in der tschechischen Bevölkerung weit verbreitete Ansicht, dass LGBT-Personen ohnehin schon genügend Rechte hätten, der gegenwärtigen Untätigkeit und dem allgemeinen Desinteresse Vorschub. „Den meisten Tschechinnen und Tschechen fällt es leichter, LGBT-Menschen zu ignorieren, als ihre Existenz anzuerkennen“, stellte er fest.
Die zehnte Prager Pride-Parade, ebenfalls ein Gründungsmitglied der Jsme-Fer-Vereinigung, wurde vergangenes Jahr aufgrund der Covid-19-Beschränkungen größtenteils online abgehalten. Sie ist zweifellos die sichtbarste und bekannteste Veranstaltung, die dieser allgemeinen Stimmung einer wohlmeinenden Gleichgültigkeit gegenüber LGBT-Themen die Stirn bieten soll.
„Viele Jahre lang waren LGBT-Organisationen eher zurückhaltend, was ihre öffentliche Präsenz angeht. Veranstaltungen wie die Prager Pride-Parade haben jedoch den Zweck, die Menschen daran zu erinnern, dass es uns gibt, und tragen maßgeblich bei zur Aufklärung der Bevölkerung und der Medien über die Herausforderungen, mit denen LGBT-Personen in der Tschechischen Republik konfrontiert sind“, so Pitoňák.
„Sichtbarkeit ist aber ein zweischneidiges Schwert“, warnte er. Das Anstoßen einer öffentlichen Debatte über LGBT-Rechte in der Tschechischen Republik sei zwar für die Stärkung des öffentlichen Bewusstseins und Verständnisses entscheidend, eine stärkere Öffentlichkeit könne jedoch auch dazu führen, das Thema zu politisieren und zu instrumentalisieren, wie das in Ländern wie Polen und Ungarn zu beobachten war.
„Im Vergleich zum Rest der Visegrád-Gruppe ist die Tschechische Republik in Bezug auf LGBT-Rechte und -Lebensumfelder sichtlich besser aufgestellt“, räumte Žaneta Sladká von Amnesty Tschechien ein, der „heterosexuellen Sektion“ von Jsme Fer, wie sie ihre Menschenrechtsorganisation bezeichnet, da sich die fünf anderen Gründungs-NGOs auf LGBT-Rechte konzentrieren.
„Mehr als ein Drittel aller LGBT-Personen hier fühlt sich jedoch noch immer diskriminiert oder schikaniert. Die breite Öffentlichkeit neigt dazu, die Situation tschechischer LGBT-Personen viel positiver zu sehen, als dies der Realität entspricht“, meinte sie und wies darauf hin, dass die Tschechische Republik eines der wenigen EU-Länder ist, in dem Transgender-Personen sich bei einer Änderung des rechtlichen Geschlechts nach wie vor lebensverändernden chirurgischen Eingriffen unterziehen müssen.
Einer der Gründe, die angeführt werden, um die relativ hohe Akzeptanz der Tschechinnen und Tschechen gegenüber LGBT-Personen zu erklären, ist der ausgeprägte Säkularismus des Landes. „Die Beziehung zwischen Religion und LGBT-Toleranz ist komplex“, erklärte Pitoňák. „Untersuchungen zeigen, dass negative Einstellungen und Meinungen gegenüber LGBT-Personen nicht mit dem religiösen Glauben der Menschen an sich zusammenhängen, sondern eher damit, wie oft sie in die Kirche gehen. Als Institution hat die Kirche in der Tschechischen Republik wenig Einfluss, auschlaggebend ist der Einfluss einzelner Geistlicher auf ihre Pfarrgemeinden.“
Hier kommt Logos ins Spiel. Auch Logos ist Gründungsmitglied von Jsme Fer und eine religiöse zivilgesellschaftliche Vereinigung, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, mit Kirchen in ganz Tschechien in einen Dialog über Gleichberechtigung und die Homo-Ehe zu treten. „Es ist uns gelungen, freundschaftliche Beziehungen zu einer Reihe von Kirchengemeinden und religiösen Orden zu knüpfen, darunter auch protestantische und hussitische Kirchen“, erklärte der ehemalige Logos-Leiter Stanislav Kostiha gegenüber BIRN.
„Auf mehr Widerstand sind wir in der römisch-katholischen Kirche gestoßen, wo einige Priester und Bischöfe unsere Sache zwar privat unterstützen, sich aber scheuen, dies öffentlich kundzutun – in erster Linie aus Angst, den konservativeren Flügel und ranghohe Kirchenmitglieder vor den Kopf zu stoßen“, erklärte er.
Die Regenbogenmauer durchbrechen
Trotz des Aktivismus und der radikalen Ansichten einer Reihe von Organisationen, die sich für traditionelle Familienwerte einsetzen, scheint die Tschechische Republik nicht Gefahr zu laufen, dem Beispiel Polens und Ungarns zu folgen, wo LGBT-Gemeinschaften von den Regierungsparteien im Rahmen ihres selbsterklärten „Kulturkriegs“ zur Verteidigung traditioneller christlicher Werte ins Visier genommen werden.
„Am meisten fürchte ich, dass die Debatte ewig dauert und nirgends hinführt“, meinte Kostiha. „Das lässt sich bereits heute erkennen, denn einige tschechische Politikerinnen und Politiker nutzen die aktuelle Pattsituation zur Rechtfertigung der anhaltenden Untätigkeit, indem sie im Wesentlichen sagen: ‚Immer geht es um gleiche Eherechte. Das ist ermüdend, es gibt wichtigere Themen‘.“
Von den Angriffen des Prager Erzbischofs Dominik Duka gegen die „satanistische, totalitäre [LGBT]-Ideologie“ bis hin zum Versprechen von Präsident Miloš Zeman, sein Veto gegen ein Gesetz zur gleichgeschlechtlichen Ehe einzulegen – in der Tschechischen Republik herrscht kein Mangel an ranghohen erklärten Gegnern von LGBT-Rechten. Mehrere von BIRN kontaktierte Jsme-Fer-Aktivisten zeigen sich besorgt, dass Prag allmählich seinen Visegrád-Nachbarn nacheifern könnte.
Auch wenn sich die öffentliche Meinung zugunsten von LGBT-Rechten in den letzten Jahrzehnten deutlich verbessert hat, bleibt die „Regenbogenmauer“ bestehen. Trotz der großen Hoffnung von Aktivistinnen und Aktivisten, dass die Tschechische Republik diese Barriere durchbrechen könne, ist der Titel für das erste ehemalige Ostblockland, das die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert, noch nicht vergeben.
„Letztlich läuft alles auf die grundlegendste Frage hinaus“, resümiert Pitoňák. „Kenne ich jemanden, der schwul oder LGBT ist? In der Tschechischen Republik würden etwa 30 Prozent der Bevölkerung diese Frage bejahen. Das ist der eigentliche Knackpunkt in Europa: ob man solche Menschen kennt oder nicht. Ab diesem Punkt ist es kein abstraktes Konzept mehr und – was noch wichtiger ist – es wird nicht mehr zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ unterschieden.“
Original auf Englisch.
Erstmals publiziert am 13. Januar 2021 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
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