Rumäniens demografische Talfahrt

Sie läutet einen gesellschaftlichen Wandel ein, sagt Tim Judah.

Niedrige Geburtenraten, massive Abwanderung und eine überalterte Bevölkerung fordern in einem Land mit kritischem Arbeitskräftemangel ihren Tribut.

Prozentual gesehen haben andere ehemals kommunistische Länder Osteuropas in den vergangenen drei Jahrzehnten mehr Einwohner verloren als Rumänien. Was Rumänien von diesen Staaten unterscheidet, ist das schiere Ausmaß des Rückgangs.

Im Jahr 1990 erreichte die Bevölkerung des Landes mit 23,2 Millionen Menschen einen Höchststand. Anfang 2019 waren es nur noch 19,4 Millionen. Seit dem Sturz des Diktators Nicolae Ceausescu im Jahr 1989 hat die Wohnbevölkerung des Landes also um 16,4 Prozent bzw. 3,8 Millionen Menschen abgenommen. Das ist mehr als die Gesamtbevölkerung einiger der anderen ehemals kommunistischen Staaten und ist darauf zurückzuführen, dass Rumänien das zweitgrößte der ehemaligen nicht-sowjetischen Länder Osteuropas ist.

Dennoch geht es hier um ein nationales Trauma, das einen kritischen Arbeitskräftemangel und einen Mangel an Schlüsselpersonal wie etwa medizinischen Fachkräften zur Folge hat. Ländliche Gebiete und viele Kleinstädte werden entvölkert, nur die Alten bleiben zurück. Wie viele andere Länder der Region hat Rumänien mit niedrigen Geburtenraten, Abwanderung und einer alternden Bevölkerung zu kämpfen. Auch sind die Einwanderungsraten bzw. die Zahl der Migranten, die zurückkehren, zu gering, um den Rückgang aufzuhalten.

Die Prognosen sehen ebenfalls düster aus: Nach Angaben des rumänischen Nationalen Instituts für Statistik könnte die Bevölkerung des Landes bis 2050 auf 15 Millionen schrumpfen, was einen Verlust von 35 Prozent im Vergleich zu 1990 bedeuten würde. (Eine UN-Prognose ist weniger pessimistisch und geht für 2050 von einem Bevölkerungsrückgang um etwas mehr als 30 Prozent auf 16,39 Millionen aus.)

Bevölkerungsveränderung in Rumänien von 1930 bis 2050. Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Die schrumpfende Bevölkerung Rumäniens ist heute freilich ein Problem, allerdings eines, das Ceausescu kommen sah und fürchtete. In seinem Bestreben, die Einwohnerzahlen Rumäniens auf 30 Millionen zu erhöhen, ließ er 1967 Abtreibung und Verhütungsmittel praktisch verbieten, was mehr als zwei Jahrzehnte des häuslichen und nationalen Leids zur Folge hatte, einschließlich illegaler Abtreibungen und einer großen Zahl von Kindern, die in triste Waisenhäuser abgeschoben wurden.

Das gesamte Erbe Ceausescus ist einer der Hauptgründe dafür, dass das Land nach dem Ende des Kommunismus in einer tiefen Krise steckte und lange brauchte, um sich davon zu erholen.

Größte demografische Verlierer. Prognostizierte Bevölkerungsveränderung in den Ländern Zentral- und Südosteuropas (1989-2050). Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Während rumänische Frauen 1989 durchschnittlich 2,2 Kinder zur Welt brachten, sank die Geburtenrate des Landes im Jahr 2001 auf einen Tiefststand von 1,27, steigt seitdem aber allmählich wieder an und lag 2017 bei 1,71. Da jedoch viele junge Menschen das Land verlassen haben, reicht das nicht aus, um den natürlichen Rückgang aufzuhalten.

Im Jahr 2018 verzeichnete Rumänien 75.729 mehr Sterbefälle als Geburten und die Überalterung schritt voran. Heute liegt das Medianalter bei 42,1 Jahren und damit knapp unter dem Medianalter für die gesamte EU von 42,6 Jahren. Der Unterschied zu den westeuropäischen Ländern besteht natürlich darin, dass diese signifikante Zuwanderungsraten verzeichnen, um die natürlichen demografischen Defizite auszugleichen.

Rumänien – Demografische Kennzahlen. Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Neben der niedrigen Geburtenrate ist die Abwanderung für die schrumpfende Bevölkerung Rumäniens maßgeblich verantwortlich. Diese hat in den letzten Jahrzehnten mehrere Phasen durchlaufen. Während der Ceausescu-Ära konnten bis auf zwei Ausnahmen nur wenige Rumänen das Land verlassen: Juden und ethnische Deutsche. Eine große Zahl von ihnen wurde faktisch von Israel und Westdeutschland unter verschiedenen Vorwänden mittels Ausreisevisa freigekauft. 1990 waren nur noch relativ wenige Juden übriggeblieben und rund 200.000 der verbliebenen Deutschstämmigen verließen das Land rasch Richtung Deutschland.

Die zweite Phase dauerte von 1990 bis 2002. In dieser Zeit brach die Wirtschaft zusammen, und rund die Hälfte der Arbeitsplätze ging verloren. Für Rumäninnen und Rumänen war es schwierig, Visa für westliche Länder zu bekommen. Dennoch schafften es viele, in den Westen zu gehen, auch wenn sie dann gezwungen waren, dort einer illegalen Beschäftigung nachzugehen. Mit der Abschaffung der Visapflicht für den grenzfreien Schengenraum der EU zu Beginn des Jahres 2002 begann die nächste Phase. Der Weg war frei.

Remus Gabriel Anghel, Leiter des Zentrums für vergleichende Migrationsstudien an der Babes-Bolyai-Universität in Cluj, nimmt an, dass ab jenem Zeitpunkt bis 2007-08 etwa eine Million bis zu 1,2 Millionen Rumäninnen und Rumänen nach Italien gingen. Eine weitere Million zog nach Spanien. Die Situation sei derart dramatisch gewesen, so Anghel, dass ganze Städte in den am stärksten betroffenen Regionen praktisch leergefegt wurden. Diese Periode endete mit der Wirtschaftskrise, von der Italien und Spanien massiv betroffen waren, und dem Beitritt Rumäniens zur EU Anfang 2007. Seitdem habe laut Anghel etwa eine Million Menschen das Land verlassen.

Ursprünglich führten neun der damals 26 EU-Länder vorübergehende Arbeitsbeschränkungen ein, die inzwischen jedoch wieder abgeschafft wurden. Großbritannien hob beispielsweise die Beschränkungen im Jahr 2014 auf, wodurch die rumänische Bevölkerung im Land sprunghaft anstieg. 2018 waren es bereits 415.000 Menschen gegenüber 19.000 im Jahr 2007.

Ein anhaltendes Problem sind Familien, in denen sich ein oder beide Elternteile im Ausland aufhalten, was tiefgreifende und negative Auswirkungen auf die zurückgelassenen Kinder haben kann.

Genaue Zahlen zu den im Ausland lebenden Bürgerinnen und Bürger sind jedoch schwer zu erheben. Im Zeitalter der Billigreisen kommt es verstärkt zu zirkulärer Migration – etwa Männer, die für drei Monate in einem Schlachtbetrieb in Deutschland arbeiten, für ein paar Monate nach Hause zurückkehren und dann erneut das Land verlassen, oder Frauen, die mittels ähnlich kurzfristiger Verträge in Italien ältere Menschen betreuen. Ein anhaltendes Problem sind Familien, in denen sich ein oder beide Elternteile im Ausland aufhalten, was tiefgreifende und negative Auswirkungen auf die zurückgelassenen Kinder haben kann.

Im Jahr 2016 gab es 95.308 Kinder, deren Eltern im Ausland arbeiteten, in 34 Prozent der Fälle waren es beide Elternteile. Heute ändert sich die Situation wieder. Im Jahr 2008 beliefen sich die Rücküberweisungen auf 6,4 Milliarden Euro, was 4,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts entsprach. Bis 2016 war dieser Betrag jedoch auf 3,2 Milliarden Euro bzw. 1,9 Prozent des BIP gesunken.

EUROPE’S FUTURES

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Mit anderen Worten: Die Abwanderung trug zunächst zur Lösung des Problems der Arbeitslosigkeit bei und spielte eine bedeutende Rolle bei der Verringerung der Armut der Zurückgebliebenen. Rumänien wurde reicher, die Rücküberweisungen der Migranten verloren an Bedeutung. Doch der durch die Abwanderung entstandene Fach- und Arbeitskräftemangel betrifft mittlerweile das gesamte Land.

Nach Angaben der Weltbank befanden sich 20,6 Prozent der rumänischen Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Jahr 2017 im Ausland. Die Emigration dauert zwar fort, hat sich aber stabilisiert, doch gleichzeitig nimmt die Migration innerhalb Rumäniens zu. Im Jahr 2007 konzentrierten sich etwa zwei Drittel des Wirtschaftslebens und des rumänischen Bruttoinlandprodukts auf Bukarest, aber jetzt ist dieser Anteil auf 44 Prozent gesunken, so Anghel.

„In der Zwischenzeit wurde in Städten wie Timişoara, Braşov, Sibiu und Cluj vermehrt investiert und es gab mehr Entwicklung als zuvor, und so lässt sich beobachten, dass diese Städte Menschen aus dem Osten des Landes und sogar innerhalb des (reicheren) Siebenbürgen selbst anzulocken begannen.“

Heute, so Anghel, gebe es nur eine geringe Rückwanderung und Zuwanderung, hauptsächlich aus der Republik Moldau, auch wenn viele Moldauerinnen und Moldauer die leicht zu erhaltende rumänische Staatsbürgerschaft nur erwerben, um an eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis für ein anderes EU-Land zu kommen. Aufgrund des zunehmenden Arbeitskräftemangels und der steigenden Löhne hat die Regierung jedoch begonnen, den Arbeitsmarkt für Arbeitskräfte aus anderen Ländern, wie zum Beispiel Vietnam, zu öffnen.

Eine weitere Folge des Arbeitskräftemangels ist, dass Roma, die früher diskriminiert wurden, Beschäftigung in Bereichen finden, in denen es für sie zuvor schwierig gewesen wäre, Arbeit zu bekommen. Während Regierungen in Rumänien, wie auch anderswo in der Region, Pläne für eine Zukunft mit weniger, aber immer älteren Menschen schmieden und Wege finden müssen, Migranten in die Heimat zurückzuholen, sei die Migration laut Anghel zum „wichtigsten Prozess des gesellschaftlichen Wandels“ geworden.

In der Vergangenheit gingen die Menschen weg und das Geld kam zurück. „Die Leute versuchten nur, über die Runden zu kommen.“ Jetzt, so Anghel, hätten sich die Dinge geändert. „Rumänien ist nicht mehr das arme Land, das es einmal war, und es geht jetzt nicht mehr nur um Geld. Die Menschen haben Erfahrungen im Westen gemacht“, sagte er und fügte hinzu, dass sie gute Schulen, Krankenhäuser und Dienstleistungen wollen. Sie haben höhere Erwartungen als früher und „das ist etwas, was die Regierung nicht wirklich versteht“.

Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 28. November 2019 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Judah. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

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