Rückkehr in den Kosovo

Europe outside Europe

Während in Europa vor Kurzem die wichtigsten Wahlen in der Geschichte der Europäischen Union stattgefunden haben – und das Thema Identität erneut eine maßgebliche Rolle spielt –, besuchten wir die Orte, an denen Europas schlimmste Albträume wahr geworden sind. Von Srebrenica bis Kosovska Mitrovica: Manche sind nach Jahren in diese Städte, die dem Nationalismus zum Opfer gefallen waren, zurückgekehrt, um einem Land, das vor 20 Jahren aufgelöst wurde, eine neue Identität zu geben.

„Ich wollte immer schon von hier weg, irgendetwas hat mich aber stets davon abgehalten; als müsste ich noch etwas zu Ende bringen oder hätte noch eine Aufgabe zu erfüllen.“ Zana Syla (26) ist Kodirektorin des Mediation Center, der einzigen NGO in Kosovska Mitrovica, in der beide Volksgruppen im Kosovo gleichermaßen von zwei Vorsitzenden vertreten werden. Das Mediation Center befasst sich mit Rechtsfragen, die in einem Land, in dem die beiden ethnischen Gruppen nicht dieselbe Sprache sprechen, zu den größten Herausforderungen zählen. Zana war 18, als sie zum ersten Mal die Brücke über den Fluss Ibar überquerte, der die Stadt Kosovska Mitrovica in zwei Teile teilt — eines der vielen Symbole, die neben den (serbischen, russischen, amerikanischen und albanischen) Flaggen die Trennung einer vom Konflikt zerrütteten Region markieren.

© Martino Lombezzi

Ein Blick von der Brücke über den Ibar in Kosovska Mitrovica. Es ist mehr Symbol als Bauwerk. Für einige markiert es die Teilung des von Konflikten zerrissenen Territoriums. Andere wiederum gestehen, sie haben erst vor wenigen Jahren mit ein paar Jugendlichen der anderen Seite Kaffee getrunken. Foto: © Martino Lombezzi

Bevor sie 18 wurde, hielt Zana die andere Hälfte der Stadt für feindliches Gebiet. „Als ich zum ersten Mal mit den Menschen aus dem serbischen Stadtteil arbeitete, wurde mir klar, dass sie die gleichen Sorgen haben wie ich. Wir bombardieren uns zwar nicht mehr gegenseitig, aber es herrscht auf beiden Seiten nach wie vor ein Gefühl des Misstrauens. Unser Ziel ist es, die im Laufe der Jahre entstandenen Vorurteile abzubauen, damit wir uns auf das konzentrieren können, was uns alle beschäftigen sollte: unseren Lebensstandard. Wir wurden vom selben politischen Establishment manipuliert, das bereits vor 20 Jahren in Belgrad und Pristina existierte.“

Wer würde schon in ein Land mit 1,8 Millionen Einwohnern von der Größe der italienischen Abruzzen zurückkehren, in dem man verschiedene Pässe und Nummerntafeln braucht, um sich frei bewegen zu können? Ein Land, in dem man das Gefühl hat, die Zeit wäre mit dem Ende des Krieges 1999 stehengeblieben. Und wo sich auf den Stadtmauern noch immer Graffiti wie „Für dieses Land lohnt es sich zu sterben“ finden.

„Ich kam 2008 zurück, als der Kosovo unabhängig wurde. Ich beschloss, Journalismus zu studieren, weil ich frustriert darüber war, wie die Medien in den 1990ern manipuliert worden waren.“ Besa Luci hat das in Pristina ansässige Online-Magazin Kosovo 2.0 mitbegründet — eine der wenigen Publikationen, die in drei Sprachen erscheinen: Serbisch, Albanisch und Englisch.

Mit ihrer Arbeit versuche sie, so Besa, das Bewusstsein der Zivilgesellschaft und eine kosovarische Identität zu stärken: „Die meisten Menschen hier sehen sich eher als Albaner und weniger als Kosovaren. Daran ist nichts auszusetzen, aber wir glauben, dass es auch eine kosovarische Identität gibt, und das ist etwas, was sich erst noch entwickeln muss.“ Besa gesteht, dass sie sich von der EU verraten fühlt, in erster Linie aufgrund der fehlenden Reisefreiheit: „Während der Rest der Region von der Visumpflicht befreit ist, hängen wir immer noch in der Luft.“

Zwanzig Jahre nach dem Krieg ist der Kosovo weder an seinen Grenzen noch was seine Vergangenheit anbelangt zur Ruhe gekommen: Was die Albaner für Völkermord halten, ist für Belgrad die Vereinnahmung eines Teils seiner Geschichte und seines Landes. Am 6. Oktober 2019 wählte der Kosovo ein neues Parlament. Ausgerufen wurden die Wahlen aufgrund des unerwarteten Rücktritts des damaligen Ministerpräsidenten Ramush Haradinaj, nachdem ihn ein in Den Haag angesiedeltes Sondergericht zur Verfolgung von Verbrechen während und nach dem Kosovokrieg zur Anhörung vorgeladen hatte.

© Martino Lombezzi

Ein Blick auf den zentralen Platz von Nord-Mitrovica mit der Statue von Prinz Lazar Hrebeljanović, der im Mittelalter als mächtiger Feudalherr ein großes serbisches Reich schuf. Foto: © Martino Lombezzi

Bei den fünften Wahlen seit der Unabhängigkeitserklärung wurden einige Mitglieder der politischen Elite abgewählt. „Die Beliebtheitswerte von Präsident Hashim Thaçi, einem der Hauptakteure im Kampf für die Unabhängigkeit des Kosovo, sinken aufgrund nicht eingehaltener Versprechen, vor allem, was den komplizierten Weg der EU-Integration des Kosovo und den nie abgeschlossenen Prozess der Visaliberalisierung betrifft”, erklärt Una Hajdari, eine Journalistin, die wir in Pristina trafen. Sie ist ein echtes Sinnbild für die doppelte Identität des Landes. Der Vater ist Kosovo-Albaner, die Mutter Serbin. Sie beherrscht beide Sprachen perfekt und sie repräsentiert das Bindeglied, das der Kosovo so verzweifelt sucht, um einen Dialog zwischen den zwei Seiten herbeizuführen. Im November 2020 beteuerte der ehemalige Präsident Hashim Thaci bei einem Auftritt vor einem internationalen Sondergericht in Den Haag seine Unschuld. Er wurde wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt während des Kosovokrieges angeklagt. Er habe zwischen 1998 und 1999 Morde der UÇK, deren Mitbegründer und Führer er war, an Zivilisten zu verantworten, so der Vorwurf.

„Ich kam vor drei Jahren zurück und ich habe nicht vor, diesen Ort wieder zu verlassen. Ich glaube, dass ich hier wahrscheinlich mehr bewegen kann als in Denver, New York oder Belgrad.”

— Jovana Radosavljevic, NGO New Social Initiative

„Wir warten noch immer darauf, dass Belgrad und Pristina zu einem endgültigen Abkommen gelangen, die Politikerinnen und Politiker beider Seiten profitieren jedoch vom derzeitigen Status quo. In der Zwischenzeit ziehen die Menschen fort. Ganze Familien verlassen auf der Suche nach besserer Bildung und Arbeit das Land.“ Jovana Radosavljevic (30) kehrte nach 15 Jahren Studium in den USA nach Nord-Mitrovica zurück. Mittlerweile arbeitet sie für die NGO New Social Initiative, die den Dialog fördern will. „Ich kam vor drei Jahren zurück und ich habe nicht vor, diesen Ort wieder zu verlassen. Ich glaube, dass ich hier wahrscheinlich mehr bewegen kann als in Denver, New York oder Belgrad. Ich verstehe, warum die Menschen weggehen, aber es gibt noch immer ein paar verrückte Enthusiasten so wie mich, die sich zu einer Rückkehr entschlossen haben. Langweilig wird dir hier nie, soviel ist sicher.“

© Martino Lombezzi

Liza Gashi hat das Land im Alter von 16 Jahren verlassen. Zuerst nach Costa Rica, dann nach Argentinien und schließlich in die USA. Sie kam zurück, um das zu verbessern, was sie “die Identität des Kosovo” nennt. Sie gründete den Verein Germin in Pristina, um sich für eine bessere Vernetzung zwischen der Diaspora und dem Kosovo einzusetzen (ungefähr 800.000 Kosovo-Albaner leben in unterschiedlichsten Ländern der Welt). Foto: © Martino Lombezzi

Liza Gashi kann mit den statistischen Zahlen zur Emigration aufwarten: „Zwischen 2013 und 2017 haben 173.000 Menschen den Kosovo verlassen. Das sind neun Prozent der Gesamtbevölkerung und hauptsächlich Personen zwischen 25 und 44 Jahren. Den Daten der Weltbank zufolge liegt die Jugendarbeitslosigkeit im Kosovo bei knapp 60 Prozent. Die Menschen gehen weg, weil die Politik dieses Land vergiftet: Sogar ein siebenjähriges Kind kennt den Namen unseres Ministerpräsidenten.“ Die 28-jährige Liza Gashi ist Gründerin des Vereins Germin mit Sitz in Pristina, der sich für eine bessere Vernetzung zwischen der Diaspora und dem Kosovo einsetzt. Auch sie hat das Land im Alter von 16 Jahren verlassen. „Heute ermutigen wir die Menschen, zurückzukommen und hier Arbeit zu suchen. Wir laden auch die Kosovo-Diaspora ein, in die Ideen der jungen Menschen hier im Kosovo zu investieren.“

Der Kampf um die Anerkennung des Kosovo geht weiter: Über einhundert Länder weltweit haben seine Souveränität anerkannt, darunter auch 23 der 28 Staaten der Europäischen Union. Belgrad setzt auf eine Aberkennung des Kosovo und wirbt für einen Widerruf der Anerkennung der Unabhängigkeit des Landes. Ende August 2019 hat Togo als eines der letzten Länder die Anerkennung des Kosovo zurückgezogen. Indes erkannte Barbados als 97. Land 2018 den Kosovo als unabhängigen Staat an. Serbien wird vorgeworfen, sich an einer von Russland unterstützten Kampagne zu beteiligen, die eine Rücknahme von Anerkennungen zum Ziel hat. Auch Kosovos Kandidatur für einen Beitritt zu Interpol wurde durch diese Kampagne blockiert. Pristina sah sich infolgedessen veranlasst, einen Handelskrieg mit Serbien zu beginnen und die Zölle auf Waren aus Serbien und Bosnien um 100 Prozent zu erhöhen. Die einzige Hoffnung bestand darin, dass das Ergebnis der letzten Wahl im Kosovo, aus der die linksnationalistische Partei Vetëvendosje und ihr Chef Albin Kurti als Sieger hervorgingen, einige Veränderungen mit sich bringen würde — in einem nach wie vor stark polarisierten Land, das sich einerseits in Geiselhaft Serbiens, das seine Anerkennung ablehnt, befindet und andererseits keine nennenswerten Fortschritte bei der Integration in die EU vorweisen kann.

Offenbar unerwartet kam auch der nächste Schritt Anfang September 2020, diesmal aus Washington. Der derzeitige US-Präsident Donald Trump lud die Staatschefs beider Krisenherde (Kosovo und Serbien) ein, ein Wirtschaftsabkommen im Weißen Haus zu unterzeichnen, das zur Verbesserung der Beziehungen und letztendlich zur Ankurbelung von Investitionen in beiden Ländern beitragen könnte. In Erinnerung bleiben wird es jedoch vor allem deshalb, weil darin eine gegenseitige Anerkennung zwischen dem Kosovo und Israel sowie die Bereitschaft Belgrads und Pristinas vereinbart wurde, ihre Botschaften nach Jerusalem zu verlegen.

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In einem neuen Nutzungsgebiet im Zentrum von Pristina organisierte die Gründerin und Journalistin Besa Luci eine öffentliche Debatte über Stadtentwicklung. Foto: © Martino Lombezzi

Das von den USA unterstützte Wirtschaftsabkommen ist eine Art Dolchstoß für die aktuelle EU-Politik, die seit über zehn Jahren an einer politischen Lösung zwischen den verfeindeten Ländern arbeitet. Im Mittelpunkt der Mediationsbemühungen der EU steht Serbien, das sich nach wie vor weigert, die Unabhängigkeit des Kosovo anzuerkennen. Was der Economist als „eine unbeholfene Umarmung“ bezeichnete, wird wahrscheinlich eine instabile sein. Nach Angaben der Times of Israel, die sich auf Quellen im Umfeld der serbischen Regierung stützt, wird Serbien nicht bereit sein, seine Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, sollte Israel den Kosovo anerkennen. Sicher ist nur, dass aus diesem verzwickten Dreieck (Kosovo-Serbien-Israel) ein Abkommen mit Seltenheitswert hervorgegangen ist. Bleibt die Frage, ob es Bestand haben wird, wenn Donald Trump aus dem Amt gewählt wird.

„Europa wird hier als eine ziemlich schwache Instanz betrachtet. Ich fühle mich jedoch als Europäer, weil wir in Europa leben“

— Lazar Rakic, NGO Mediation Center

„Europa wird hier als eine ziemlich schwache Instanz betrachtet. Ich fühle mich jedoch als Europäer, weil wir in Europa leben“, betont Lazar Rakic, der zweite Vorsitzende der NGO Mediation Center, den die Arbeit seiner Organisation mit Stolz erfüllt. „Wir konnten 1.300 Rechtsstreitigkeiten beilegen. Wir hoffen, dass wir den Dialog zwischen beiden Seiten weiterhin unterstützen können. Es gibt nach wie vor Leute, die wollen, dass diese Stadt funktioniert und die anständig leben wollen. Es bleibt noch viel zu tun, aber ich glaube, dass Veränderungen möglich sind, allein dank der jungen Menschen“, meint Lazar. „Wir sind noch immer Geiseln der älteren Generationen, die dazu beigetragen haben, dass die Konflikte andauern“, bedauert seine Kollegin Zana Syla. „Das ist nicht fair.“

Die Jungen, die sich entschlossen haben, zurückzukehren, eint derselbe Wunsch — dass die Menschen vor Ort mehr in den politischen Prozess miteingebunden werden. Das größte Problem besteht darin, dass auf beiden Seiten die Angst regiert. Die Angst, außerstande zu sein, eine politische Veränderung herbeizuführen — und die Angst, die Namen der politischen Vertreter nicht einmal ab und an vergessen zu können.

Original auf Englisch.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Marina Lalovic. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Das Anwaltsteam der NGO Mediation Center: Albert Feka, Besnik Voca und Ines Aljovic. Das “Mediationszentrum” befasst sich mit Rechtsberatung, dem kompliziertesten Aspekt eines Landes, in dem zwei Bevölkerungsgruppen buchstäblich nicht dieselbe Sprache sprechen. Die NGO hat zwei Präsidenten, Lazar Rakic und Zana Syla, einen Serben und einen Albaner. Beide gestanden, dass sie erst vor wenigen Jahren mit Jugendlichen von der anderen Seite von Kosovska Mitrovica einen Kaffee getrunken hatten. Foto: © Martino Lombezzi

Dieser Text entstand im Rahmen des Milena-Jesenská-Stipendienprogramms Für Journalistinnen und Journalisten am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, unterstützt von der ERSTE Stiftung und Project Syndicate.

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