29. September 2022
Erstmals veröffentlicht
01. November 2018
Jedes Jahr wüten in Russland Wald- und Torfbrände auf mehreren Millionen Hektar. Der Staat tut kaum etwas und spielt die Ausmaße herunter. Jetzt stellen sich Gruppen von Freiwilligen dem Feuer entgegen. Und der Ignoranz, die sie entfacht.
Andrey Borodin, Kommandeur der freiwilligen Feuerbekämpfer, bahnt sich einen Weg durch den geschundenen Wald. Könnte ja so schön sein hier. Doch unter ehrwürdigen Pinien, Fichten und Erlen rosten tonnenweise Autoteile, daneben zerborstene Fenster und schmierige Bierflaschen. Kann den Waldboden entzünden wie ein Brennglas, sagt Andrey. Und überall das trockene Reisig, dass die illegalen Holzfäller zurücklassen, die hier ihren Raubbau betreiben. Zunder, sagt er. Für die Gegend um seine sibirische Heimatstadt Ulan Ude hat der Wetterdienst die Tage wieder Rauch angesagt.
Mit Händen, die früher eher an Tastaturen gewöhnt waren, drückt Andrey die starken Äste einer Zirbelkiefer zur Seite und tritt auf eine Lichtung. Ein weites Brandloch eigentlich. Flammen haben es unlängst ins Grün gefressen, nur einzelne verkohlte Baumgerippe ragen noch in die Höhe. Von einer Fläche so groß wie ein Fußballstadion scheint jedes Leben gewichen. „Die Zeit ist reif für eine neue Generation“, sagt Andrey, 42 Jahre alt, in die Stille hinein. „Wir müssen ihr beibringen, wie man die Feuer vermeidet und die Natur beschützt.“ Hundert Meter weiter hat jemand einen Haufen Elektroschrott abgefackelt.
In Russland verbrennen jedes Jahr Millionen Hektar Wald und ausgetrocknete Sümpfe. Für neun von zehn Bränden sind Menschen verantwortlich. Sie setzen nach alter Sitte Grasland in Flammen, um den Boden fruchtbarer zu machen. Sie verbrennen ihren Müll weil es keine geregelte Abfallversorgung gibt. Sie legen Feuer in Waldstücken, um einem größeren Brand vorzubeugen oder die verkohlten Bäume gegen eine niedrige Gebühr fällen zu dürfen. Sie verlieren oft die Kontrolle.
„Ich habe vor zwei Jahren verstanden, dass wir uns nicht nur auf den Staat verlassen können“, sagt Andrey Borodin im Taxi durch Ulan Ude. Russlandweit brannten 2016 mal wieder rund 85.000 Quadratkilometer ab, was in etwa dem Staatsgebiet Österreichs entspricht.8,5 Millionen Hektar Brand vs. 83.879 km² Österreich. Quelle: https://www.washingtonpost.com/world/europe/russian-volunteers-seek-a-foothold-as-wildfires-rage-in-siberia/2016/06/24/ad2a6178-37c0-11e6-af02-1df55f0c77ff_story.html (zuletzt abgerufen am 29. September 2022). Wir fahren vorbei an der größten Portraitbüste der Welt – einem 7,70 Meter hohen Leninkopf im Stadtzentrum. Man hat die Augen mandelförmig gestaltet, auf dass sich auch die indigene burjatische Bevölkerung mit dem Kommunismus identifizieren würde. Als der Rauch über die Stadt kam, konnte man den großen Lenin nicht mal mehr von der anderen Straßenseite aus sehen. Sechs Wochen lang.
Russlandweit brannten 2016 mal wieder rund 85.000 Quadratkilometer ab, was in etwa dem Staatsgebiet Österreichs entspricht.
Andrey war früher PR-Mann bei einer Telefonfirma, Chef des städtischen Tourismusbüros und hat in einem Hotel die ersten Raves organisiert, als im postsowjetischen Ulan Ude noch tote Hose war. Heute ist er hauptberuflich mit der Entwicklung der russischen Republik Burjatien betraut. „Ich habe mich der Feuer angenommen, weil ich die einflussreichen Leute der Gegend kenne“, sagt er. Sie muss er auf seine Seite bringen. Und das möglichst diplomatisch. Keine Behörde lässt sich gerne von einem Freiwilligen erklären, dass sie ihre Arbeit nicht richtig macht. Er fand schnell Gleichgesinnte und Gefallen an der körperlichen Arbeit. Sie löschten erste Brände, beseitigten Flutschäden und suchten verschollene Menschen in der Taiga. Sie gingen in Schulen, Dörfer und Universitäten, um mit den Menschen über das Feuer zu sprechen. Wie man es vermeidet. Wie man es löschen kann. Ihr Name, ins Deutsche übersetzt: Freiwillige Feuerbekämpfer Transbaikal. Sie waren zu fünft – heute haben sie 150 Mitglieder. Und das soll erst der Anfang sein.
Die Vorboten der neuen russischen Zivilgesellschaft stehen am Sandstrand des Baikalsees und eröffnen das Trainingscamp. Das Wasser erstreckt sich bis zum Horizont, kalt und klar wie die Wahrheit. Andrey Borodin demonstriert das Ritual seiner burjatischen Ahnen mütterlicherseits, das die Geister dieses Ortes gnädig stimmen soll: Eine Tasse mit Milch, den Ringfinger der linken Hand hinein tunken, dann ein Tropfen in jede Himmelsrichtung. Zum Schluss die Tasse in Richtung Sonne leeren. Dabei nur positive Gedanken. Gut drei Dutzend Menschen tun es ihm gleich. Die meisten von ihnen sind Mitte zwanzig oder jünger. Sie sind Greenpeace-Aktivisten, Studierende und Mitglieder von Freiwilligentrupps aus anderen Regionen. Es ist die nächste Generation, in die Andrey Borodin seine Hoffnung setzt. Er träumt von einem Schulungszentrum, das die Helfer landesweit vernetzt. An vielen Orten Russlands haben sich kleine Gruppen wie seine formiert. Keine Selbstverständlichkeit: In der Sowjetunion gab es keine solchen Graswurzelbewegungen und in der Zeit danach waren die Leute erstmal mit der wirtschaftlichen Krise und sich selbst beschäftigt. „Noch immer können viele Menschen in Russland nicht verstehen, warum jemand arbeiten sollte, ohne dafür bezahlt zu werden“, sagt Andrey.
Das Trainingscamp ist straff organisiert. Die Freiwilligen Feuerbekämpfer Transbaikal kooperieren dafür mit den olivgrün uniformierten Vollprofis von Greenpeace Russland aus Moskau, die wirken wie ein Sondereinsatzkommando im Ferienlager. Lehr- und Praxiseinheiten von 7.30 Uhr bis 21.30 Uhr, striktes Alkoholverbot, Nachtruhe um 23 Uhr. Disziplin und klar verteilte Verantwortung sind in der brennenden Taiga überlebenswichtig. Yura Kostenko ist 22 Jahre alt und bewegt sich mit der selbstgewissen Gelassenheit eines sibirischen Braunbären durch den Pinienwald, in dem sie ihre Zelte aufgeschlagen haben. Er liebt Rapmusik, den lieben Gott und seine Heimat – auch wenn er findet, dass die russische Politik sich nicht um die einfachen Leute schert. Vor zwei Jahren kam Andrey Borodin an die Universität, an der Yura Rettungsingenieurwesen studierte. „Er lud uns ein, mit ihm zu den Feuern zu fahren und zu lernen, wie man sie bekämpft“, sagt Yura. Er und ein paar Freunde machten mit. Die Freunde blieben irgendwann Zuhause. Yura hatte das Gefühl, er würde noch gebraucht.
Wird er. An professionellen Feuerbekämpfern fehlt es den staatlichen Stellen ebenso wie an Ausrüstung und Benzin für die Einsätze. Vielleicht fehlt es auch an Motivation: Die Regierung Wladimir Putins hat den Schutz russischer Wälder zu wirtschaftlichen Zwecken gelockert und die Waldaufsicht auf die unvorbereiteten Regionalverwaltungen übertragen. In den ohnehin unterbesetzten Forstbehörden, die für die Brandbekämpfung in den Wäldern zuständig sind, wurden gleichzeitig 70.000 Stellen gestrichen. Nur die Feuer wurden nicht weniger. Yuras pausbäckiges Lächeln: noch das eines Jungen. Sein abgebrochener Schneidezahn: schon der eines Mannes, der sich im Wehrdienst mit einem Offizier geprügelt hat. Auf seinen Unterarmen prangen tätowierte Portraits von Jesus Christus und der heiligen Jungfrau Maria. Trotzdem besteht Yura darauf, dass wir mit ihm in den eiskalten Baikalsee steigen und das Mantra des Mitgefühls und der Liebe rezitieren, das er von den buddhistischen Burjaten gelernt hat: Om mani padme hum. Es gibt viele Wege zu Gott.
Bildung ist im Kampf gegen das Feuer wichtiger als Wasser.
Sieben Tage lang lernen die Freiwilligen hier, wie sich Feuer ausbreiten, wie sie Geld für Löschaktionen über Fundraising-Plattformen im Internet sammeln können und wie sie am besten mit der Presse umgehen. Sie schmettern Kommandos durch den Wald, weichen kippenden Baumstämmen aus und bergen Verletzte mit aufgeschminkten Brandmalen inmitten qualmender Rauchbomben. Nicht alle, die hier mitmachen, werden später Brände bekämpfen. Doch alle werden ihr Wissen weitergeben. Bildung ist im Kampf gegen das Feuer wichtiger als Wasser. In einer Übung muss Yura eine Gruppe von zehn Leuten kommandieren, deren Augen verbunden sind. Sie sollen eine benzinbetriebene Pumpe am See aufbauen, einen dicken Feuerwehrschlauch daran befestigen, diesen ausrollen und an einem Aufsatz anbringen, von dem dann drei weitere Schläuche abgehen. Yura darf nur über einen Laut seiner Wahl mit ihnen kommunizieren: Huh. Er rennt hin und her, dirigiert durch Intonation, sammelt die Verirrten ein. „Sieg! Sieg! Siiiiiieg!“ brüllt der Übungsleiter von Greenpeace, als nach fünfzehn Minuten das Seewasser aus den hundert Meter langen Schläuchen in Richtung Pinienwald spritzt. Yura lächelt und wischt sich den Schweiß von der Stirn.
Bei den Freiwilligen Feuerbekämpfern Transbaikal wurde er aus Versehen Anführer des Suchtrupps für Vermisste. „In der Taiga gehen jeden Tag Menschen verloren“, sagt er. Als ein zweijähriger Junge verschwand, war die ganze Region alarmiert. Yura kam, um dem Hauptverantwortlichen des Freiwilligenkorps zu unterstützen. Ihre Zentrale hatten sie in einem Café im Heimatdorf des Vermissten aufgebaut. Der Verantwortliche musste plötzlich gehen und dann, naja, war da eben Yura. „Weil wir Uniformen anhatten, dachten die Leute, wir wissen schon was wir tun“, sagt er. „Alle haben sich an uns gewandt.“ Am Ende hat er 3.000 Suchende koordiniert.
Obwohl er studiert hat, ist es für Yura fast unmöglich, in den Bereichen Rettung oder Feuerbekämpfung eine bezahlte Arbeit zu finden. Wäre es anders, bräuchte es nicht so viele Freiwillige. Yura wohnt in einer Wohnung mit seiner Mutter, seinen Großeltern und zwei jüngeren Geschwistern. Das Geld ist knapp. Du brauchst bald einen richtigen Beruf, sagt seine Mutter, wenn er wieder hinaus in die Wälder fährt, um tagelang Feuer zu löschen oder Vermisste zu suchen. Das ist mein Beruf, Mama, sagt Yura dann.
Auch Ekatarina Grudininas Berufung ist der Kampf gegen das Feuer. Aber Jobs hat sie viele. Die 36-jährige ist Mutter, IT-Beraterin, Kassiererin im Obstgeschäft und war bis vor Kurzem noch in einem Büro angestellt. Mittlerweile koordiniert sie für Greenpeace die freiwillige Feuerbekämpfung in Burjatien, Irkutsk und der Baikalregion – und arbeitet mit Andrey Borodins Truppe. Ihr letzter Urlaub ist sechs Jahre her. An den Schläfen unter ihrem gelben Kopftuch kräuseln sich die ersten grauen Haare. „Meine Arbeitsplätze habe ich oft gewechselt. Mir wurde immer langweilig, wenn sich die Situationen nur noch wiederholten“, sagt Ekatarina. Mit dem Feuer sei es anders. „Es zwingt mich, jedes Mal neu zu denken.“ Ekatarina hat das Camp schon Tage vor der Eröffnung mit aufgebaut, dann mit geleitet, Vorträge gehalten, und immer wieder Verpflegung im nahen Dorf besorgt. Ihre Mine blieb dabei so ausgeglichen wie das Wasser des Baikalsees an windstillen Sommertagen. Nach dem gemeinsamen Abschluss trommelt sie eine Gruppe zusammen, die mit ihr am nächsten Tag auch noch in Richtung ihrer kleinen Heimatstadt Selenginsk aufbrechen soll, um Torffeuer zu löschen. „Smoketown“, raunt Yura, der natürlich dabei sein wird, wie immer.
Die Feuer brennen unterirdisch, überdauern selbst starken Regen und überziehen die Umgebung mit toxischem Rauch, um ein Vielfaches schädlicher als der von Waldbränden.
Das Städtchen liegt nahe eines bewaldeten Torffeldes, wie es viele in der Region gibt. Zu Sowjetzeiten wurden Sümpfe trockengelegt, um darauf Landwirtschaft zu betreiben, oder Torf als Brennstoff abzubauen. Heute bieten sie den Flammen eine große Angriffsfläche. Die Feuer brennen unterirdisch, überdauern selbst starken Regen und überziehen die Umgebung mit toxischem Rauch, um ein Vielfaches schädlicher als der von Waldbränden. Die Torfschichten sind über Jahrmillionen aus abgestorbenem Pflanzen entstanden. Verbrennt der ausgetrocknete Moor, entweichen große Mengen des Treibhausgases CO2 in die Atmosphäre. Zehn Kilometer von Selenginsk entfernt biegt Ekatrina mit ihrem schaukelnden Lada von der Landstraße in einen Waldweg ein. Der Bus mit den Helfern folgt ihr. Die Leute in Selenginsk fänden schon gut, was sie tut, sagt sie. Auch wenn manche meinten, dies sei kein Job für eine Frau. Viele ihrer Freundinnen und Freunde hätten auch ihre Hilfe zugesichert. „Aber wenn es dann darauf ankommt und ich sie anrufe, haben sie keine Zeit.“ Ekatarina hat gelernt, das nicht persönlich zu nehmen.
Beißender Rauch zieht durch das Birkenwäldchen. Die weißen Stämme sind unten schwarz, Baumriesen mit verkohlten Wurzeln umgekippt. Hier drunter liegt der Torf, bis zu 600 Grad heiß. Mit Thermometerstangen messen die Helfer die Temperaturen im Boden, um die unterirdischen Ränder des Sumpfes zu lokalisieren. Die Helfer bauen die Wasserpumpen am nahe gelegenen Kanal auf und rollen die Schläuche aus. Einer fällt Bäume um den Brandherd herum, die umzufallen drohen. Dann beginnt der Kampf. Bis zu tausend Liter Wasser braucht es, um einen Quadratmeter Torffeuer zu löschen. Doch man kann es nicht einfach auf die Oberfläche spritzen. Du musst den Boden umrühren wie ein Frühstücksporridge, sagen sie, einen Meter tief. Bis auch der letzte Klumpen darin verschwunden ist. Sie treiben ihre Spaten und Schaufeln in den Boden, um alle Schichten zu durchdringen. Das Wasser schießt aus den Schläuchen, mit einem lauten Zischen steigen Dampfschwaden auf. Bald stehen sie bis zum Schienbein im Matsch und arbeiten sich am widerspenstigsten aller möglichen Feuer ab. Nach fünf Stunden haben zwei Dutzend Menschen mit aller Kraft etwa 40 Quadratmeter gelöscht.
Ekatarina hat auf der anderen Seite des Kanals längst neue Brandherde entdeckt. Sie sind größer und es sind viele. „Wir haben Leute, die sie löschen würden“, sagt sie. „Aber wir haben kein Geld mehr.“ Nach dem Feuerjahr 2016 hat die Truppe 1,5 Millionen Rubel von der Republik Burjatien bekommen, umgerechnet etwa 19.000 Euro [2018, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Reportage – Anm. d. Red.]. Das Geld ging für Ausrüstung, Mietbusse, Benzin und Verpflegung drauf. Das Verhältnis der Behörden zu den Freiwilligen ist gespalten. Wie politisch sind ihre Anliegen? Was ist ihre Agenda?
Mit einem neuen Gesetz wollen sie die Gruppen dazu bringen, sich zu registrieren. Sie bekämen dann feste Gebiete zugewiesen. Es winken Krankenversicherungen und finanzielle Unterstützung. Dafür müssen sie sich mit den Behörden abstimmen. Die Freiwilligen sind skeptisch: Wollen sie uns nur unter Kontrolle bringen? Ekatarina sagt, sie könne gut ohne so eine Registrierung leben. Und schließlich ist sie doch müde. Sie freut sich auf ihren Sohn , ein richtiges Bett und Milch, die direkt vom Bauernhof kommt, statt aus dem Karton. In der Dunkelheit biegt sie vom Waldweg auf die löchrige Landstraße, die dem Lada von unten her Schläge versetzt. Das Auto schaukelt wie ein Schiff bei Wellengang. Plötzlich, mit einem Schlag, geht das Licht aus. „Das passiert, wenn ein russisches Auto auf eine russische Straße trifft“, sagt Ekatarina und lacht. Sie fährt rechts ran, steigt aus, öffnet die Motorhaube. Was zu tun ist, weiß sie ja: Ärmel hochkrempeln und ein bisschen an der maroden Maschine rütteln.
Erstmals publiziert in der Ausgabe #06/2018 des Greenpeace Magazin.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Martin Theiss. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Rauch durch Rauchgranaten bei einem Übungseinsatz im Trainingscamp für Freiwillige Waldbrandbekämpfer am Baikalsee in der Nähe von Ust’Barguzin, Burjatien, Russland. Foto: Fabian Weiss