31. Dezember 2020
Erstmals veröffentlicht
07. September 2020
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Die Pandemie, neue Gesundheitsbestimmungen und das, was manche als Voreingenommenheit der Regierung empfinden – all das bedroht das kulturelle Leben Polens
Nach monatelangen Proben macht sich unter Theaterkünstlerinnen und -künstlern im September traditionell ein Gefühl der Aufregung und des Stolzes breit. In diesem Jahr ist der Beginn der neuen Spielzeit jedoch von Unsicherheit und der Angst geprägt, dass die Branche, die bereits durch den pandemiebedingten Lockdown und den damit einhergehenden Gesundheitsmaßnahmen zum Erliegen gekommen ist, eine zweite Welle des Coronavirus nicht überlebt.
Polens Theater öffneten im Sommer vorsichtig ihre Tore, wenn auch unter strengen Gesundheits- und Sicherheitsauflagen. Die Besucherzahl pro Vorstellung wurde halbiert, jeder zweite Sitzplatz musste freibleiben und das Tragen von Masken auch während der Vorstellung war für Theaterbesucherinnen und -besucher vorgeschrieben.
Viele Kunstschaffende empfinden das als ungerecht. In den vergangenen Monaten strömten die Menschen in Polen unter Missachtung der Abstandsregeln zu Tausenden an die Strände, besuchten Hochzeiten, Nachtlokale sowie politische Kundgebungen im Vorfeld der Präsidentschaftswahl im Juni und Juli. Führende Politikerinnen und Politiker sind in der Öffentlichkeit selten mit Masken zu sehen, und der Ministerpräsident ließ trotz nach wie vor ansteigender Infektionszahlen und Todesfälle mit der Aussage aufhorchen, dass „das Virus rückläufig ist“.
Der Schauspieler Michał Żebrowski ist Geschäftsführer des angesagten privaten Teatr 6. piętro (Theater im 6. Stock) im Zentrum Warschaus. Er erwartet nicht, dass Theater eine Sonderbehandlung bekommen. Bei nicht voller Auslastung sei die Inszenierung von Stücken für sein Haus jedoch unrentabel. „Wenn es keine Zuschauer gibt, gehen wir zugrunde, dann sind wir weg.“ Die letzte Vorstellung in seinem Theater fand am 14. März statt, nur einen Monat, nachdem man das 10-jährige Bestehen des Hauses gebührend gefeiert hatte. Jetzt, da alle Stücke für den Herbst abgesagt wurden, „liegen wir in Agonie“, kommentierte Żebrowski sarkastisch. „Aber wer interessiert sich gerade jetzt wirklich für das Schicksal von Künstlern und Theatern?“
Vorwürfe mangelnder Unterstützung
Wo Vorstellungen nicht abgesagt wurden, war man gezwungen, andere Wege zu gehen. Für die Theaterregisseurin Katarzyna Raduszyńska sollte die Inszenierung von Edmond Rostands Cyrano de Bergerac in ihrer Heimatstadt Walbrzych im Südwesten Polens nach Jahren in Warschau und im Ausland eine zutiefst persönliche Reise werden. Das Konzept war nicht ausgefallen: Geplant war die Inszenierung eines Stücks für 12 Schauspielerinnen und Schauspieler mit Originalmusik und -choreografie. Doch nach dem Ausbruch des Coronavirus wurde ihr stattdessen ein Einpersonenstück ohne Musik und Choreografie vorgeschlagen. Sie hege jedoch keinen Groll, meinte sie. „In vielerlei Hinsicht hat dieses Monodrama das gesamte Projekt und meine Kollegen gerettet, die ihre Arbeitsplätze behalten konnten“, räumte Raduszyńska ein. „Irgendwie wäre ich mit dieser eigenartigen Situation schon fertig geworden, doch vielen Künstlern, die ich kenne, geht es bei Weitem schlechter.“
Raduszyńska ist eine von Tausenden Künstlerinnen und Künstlern – viele mit unsteten Einkommen und fragilen Sicherheitsnetzen –, die von der polnischen Regierung finanzielle Soforthilfe erhalten haben. Sie beantragte einen einmaligen Zuschuss von 1.800 Zloty netto (400 Euro) vom Kulturministerium und 2.400 Zloty netto (540 Euro) vom staatlichen Polnischen Filminstitut. Außerdem erhielt sie ein mit rund 7.500 Zloty netto (1.700 Euro) dotiertes „Kultur im Netz“-Stipendium, das an einzelne Kunstschaffende und Einrichtungen, darunter lokale öffentliche Kulturinstitutionen, NGOs und Kirchen, vergeben wird.
„Das sind nur einige der vielen Formen der Unterstützung für Kunstschaffende und Kultureinrichtungen“, teilte das Kulturministerium BIRN per E-Mail mit. Es gebe noch andere, etwa die Aufstockung der Mittel für Sonderprogramme oder Stipendien, die vom Kulturminister vergeben werden. Selbstständige und Personen in atypischen Beschäftigungsverhältnissen können auch bestimmte Beihilfen im Rahmen der vom Parlament verabschiedeten Wirtschaftshilfspakete beantragen. Im Herbst dieses Jahres werde zudem ein neues Hilfsprogramm im Umfang von rund 425 Millionen Zloty (95 Millionen Euro) bereitgestellt, teilte das Ministerium mit. Bislang habe man seit dem Ausbruch der Krise Mitte März knapp 94,5 Millionen Zloty (21 Millionen Euro) in die Kunst investiert.
Das Kulturministerium wurde von einigen Kommentatoren dafür kritisiert, zu lange mit einer angemessenen Reaktion auf die Krise gewartet zu haben. Das bisherige Paket sei eher ein symbolischer Beitrag, besonders im Vergleich zu den Geldern, die Anfang des Jahres an loyale Medien überwiesen wurden (450 Millionen Euro) oder den Millionen Euro, die für die geplante Präsidentschaftswahl ausgegeben wurden, auf die die rechte Regierungspartei PiS („Recht und Gerechtigkeit“) im Mai in Form einer reinen Briefwahl gedrängt hatte, die aber schlussendlich nicht stattfand.
Laut Jerzy Hausner, Ökonom und Koautor des Alert Kultura Bulletins, ist das Kulturministerium seiner Verantwortung faktisch nicht nachgekommen. Das Paket des Ministeriums sei „eine kurzfristige Lösung“ gewesen, die „nicht dem Ernst der Lage entsprach“.Unter der PiS-Regierung „wird die Kultur als Erstes geschlossen und als Letztes wieder geöffnet“, fügte Hausner hinzu.
Politisches Desinteresse?
Seitens der seit fünf Jahren regierenden PiS wird stetig versucht, das kulturelle Leben Polens in eine nationalistischere Richtung zu lenken. Das führt zu heftigen Konflikten mit einem Großteil der Kunstszene, was den momentanen Frust unter Kunstschaffenden nur verschlimmert hat.
Einige Schritte des polnischen Kulturministers Piotr Gliński, wie die Forderung, die Aufführung umstrittener Stücke zu unterbinden, sowie die Kürzung öffentlicher Ausgaben für liberale und linke Medien, wurden als Zensurversuche angesehen. Von Gliński häufig ohne Ausschreibungsverfahren ernannten Kulturmanagern wurde von lokalen Akteuren der Kunstwelt vorgeworfen, den führenden Institutionen des Landes nationalistische Dogmen aufzwingen zu wollen.
Just in diesem Sommer sorgten Janusz Gajos und Jan Peszek, die zu den bedeutendsten zeitgenössischen Schauspielern Polens zählen, für Kontroversen, als sie in getrennten Interviews ihre Unzufriedenheit mit PiS zum Ausdruck brachten. Die Reaktionen von PiS-Funktionären, darunter Gliński, fielen dementsprechend heftig aus.
BIRNs Versuche, mit acht PiS-Mitgliedern der parlamentarischen Kulturausschüsse – fünf aus dem Sejm und drei aus dem Senat, darunter auch die Leiter der verschiedenen Ausschüsse – in Kontakt zu treten, um das Thema der staatlichen Unterstützung für die Kunst sowie Spannungen zwischen der PiS und vielen Kunstschaffenden zu diskutieren, blieben erfolglos.
Der Wirtschaftswissenschaftler Hausner wirft der PiS zwar vor, keine angemessene finanzielle Unterstützung sicherzustellen, ist aber der Meinung, dass Künstlerinnen und Künstler selbst aktiver werden sollten, sich an das Leben während und nach der Pandemie anzupassen. „Wäre ich der Leiter einer Kulturinstitution, würde ich mir sofort darüber Gedanken machen, wie ich meine künstlerische Arbeit neu organisieren könnte. In den letzten Monaten haben sich sowohl das Publikum als auch die Rahmenbedingungen dramatisch verändert – es wird nie mehr so sein wie vorher.“
„All diese Erfahrungen während der Pandemie haben mein Selbstwertgefühl gestärkt“, bekannte Januszkiewicz. „Ich weiß, dass ich alles schaffen kann, dass ich stark genug bin und dass ich mit allen möglichen Unwägbarkeiten umgehen kann.“
Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 7. September 2020 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Dariusz Kalan / Reporting Democracy. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Schauspieler des Sfinks-Theaters treten während der Premiere von „Forcing Freedom“ unter der Regie von Robert Florczak vor dem Shakespeare-Theater in Danzig auf. Es ist eine Aufführung, die im Rahmen der Feier des 40. Jahrestages der Abkommen vom August 1980 in Danzig, am 28. August 2020, stattfindet. Die August-Vereinbarungen von 1980 zwischen streikenden Arbeitern und den kommunistischen Behörden Polens führten zur Schaffung einer unabhängigen selbstverwalteten Gewerkschaft, der Solidarność. Foto: © EPA-EFE / Adam Warszawa