Auf seiner Reise nach Budapest sprach der aus Warschau stammende Kunstkritiker, Kurator und Chefredakteur des Magazins BLOK Adam Mazur mit Künstlerinnen und Künstlern über ihre Sichtweise und ihr Erleben des Kunstschaffens in illiberalen Zeiten.
Als ich mit einem Stipendium des International Visegrad Fund an meinem Artikel für die East Art Mags (EAM) Plattform arbeitete, ließ ich mich von Timothy Garton Ash inspirieren. In seinem Kommentar unter dem Titel Europe Must Stop This Disgrace: Viktor Orbán Is Dismantling Democracy, erschienen am 29. Juni 2019 in der britischen Tageszeitung “The Guardian”, liefert Professor Ash eine kritische Analyse der derzeitigen ungarischen Führung, die er „hybrides Regime“ nennt.
Ich wollte eine Woche in Budapest bleiben und ungarische Künstlerinnen und Künstler treffen, um einen besseren Einblick in die aktuelle Lage der bildenden Künste und der Kulturszene Ungarns zu gewinnen. Ist die Situation wirklich so schlimm, wie es scheint? Wie geht es gesellschaftlich und politisch sensiblen Künstlerinnen und Künstlern in einer Atmosphäre vergleichbar mit einem autoritären Regime? Sind sie überhaupt politisch interessiert?
Die EAM-Plattform wird von zwei befreundeten ungarischen Experten der bildenden Künste geleitet: Gergely Nagy, Chefredakteur von Artportal.hu, und Barnabás Bencsik, Gründer und Eigentümer der Galerie Glassyard. Zu dritt stellten wir eine Liste der Künstlerinnen und Künstler zusammen, die ich während meines Aufenthaltes treffen wollte. Ich legte großen Wert auf eine möglichst repräsentative Gruppe von Malerinnen und Malern, Performancekünstlerinnen und -künstlern, Fotografinnen und Fotografen, jüngeren wie älteren Kunstschaffenden. Es war relativ einfach, interessante zeitgenössische Kunstschaffende zu kontaktieren, die Orbáns Regime kritisch gegenüberstehen. Aber aufgrund der Spaltung innerhalb der bildenden Kunstszene befindet sich kein einziger Name von Kunstschaffenden auf der Liste, die sich mit der Politik ihres Ministerpräsidenten identifizieren. Darüber hinaus beschloss ich, mich auf die Budapester Kunstszene zu konzentrieren, die einen übermächtigen Schatten über die kleineren Kunstszenen des Landes, wie etwa in Pécs oder Kecskemét, wirft.
Anfang Dezember 2019. Ankunft in der Stadt. Zur Verwunderung der regimekritischen Kunstszene hat Orbáns Regierung Pläne für weitere Reformen im Kulturbereich fallen gelassen. Die Auflösung des Nemzeti Kulturális Alap / National Cultural Fund of Hungary wurde gestoppt, und damit auch der Zerstörungsprozess der Autonomie in der Kunst gebremst. Ähnlich wie die Ernennung des wenig bekannten Oppositionellen Gergely Karácsony zum Budapester Bürgermeister stießen auch diese Erfolge auf Skepsis und sind Hauptgesprächsthema. Durch diese Veränderungen herrscht bei meinen Treffen eine gewisse Leichtigkeit; die fröhliche Stimmung passt gut zur vorweihnachtlichen Atmosphäre der letzten Ausstellungen des Jahres.
Ich werde nicht nur Kunstschaffende treffen, sondern auch Kuratorinnen und Kuratoren sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kunsteinrichtungen. Darüber hinaus werde ich an Veranstaltungen wie der Verleihung des Esterházy Art Awards im Museum Ludwig teilnehmen. Die Kuratorin und Kunstkritikerin Andi Soós wird mich zu manchen meiner Termine begleiten. Ihre Hilfe ist von unschätzbarem Wert, da sie mir als Übersetzerin zur Seite steht und mich darüber hinaus auf unzählige Details im künstlerischen Leben der Stadt aufmerksam macht. Wie sich herausstellen soll, ist die Sichtweise der Künstlerinnen und Künstler der interessanteste Aspekt für mich und wird zum Kernthema meines Artikels.
Die Freude am Prozess
Ich treffe Sándor Pinczehelyi in der Galerie acb, die sich in einem entzückenden, wenn auch ziemlich verfallenen Wohnhaus befindet, mit einem unglaublich schönen Innenhof, wie man ihn in einem Palais erwarten würde. Dies ist die wichtigste privatgeführte Galerie in Ungarn. Unser Treffen findet mitten im geschäftigen Festtagstreiben statt. Der Korridor ist vollgeräumt mit verpackten Werken, die darauf warten, an die jeweiligen Käuferinnen und Käufer verschickt zu werden. Paradoxerweise könnten das jene Werke sein, die die Zeit überdauern.
Sándor Pinczehelyi ist aus Pécs, wo er lebt und arbeitet, in die Hauptstadt gereist. Er wird seine neuesten Arbeiten im Frühjahr 2020 in der Galerie acb ausstellen. Er zeigt sich von der Atmosphäre beeindruckt und ist eher zurückhaltend. Das ist überraschend, zumal er in der Kunstszene als eine Legende und einer der profiliertesten Künstler der Avantgarde der Nachkriegszeit gilt. Einst ein mutiger Kritiker des kommunistischen Regimes meidet er heute die Politik: „Die Jugend soll die Welt retten. Ich habe meinen Beitrag schon geleistet“, sagt er.
In seiner künstlerischen Arbeit konzentriert sich Pinczehelyi auf die Massenproduktion und den Einsatz verschiedener Techniken. Seine Arbeiten stehen somit stark in der Tradition der Pop-Art. Er greift auf Motive und Bilder aus seiner Kindheit zurück, die er überarbeitet und aktualisiert. Es entsteht eine auf ihre eigene Art existenzialistische Kunst, wobei sich einige Werke auf seine Anfänge beziehen. Im Vergleich zu seinen früheren ikonenhaften Arbeiten mit Hammer-und-Sichel-Motiven und den Nationalfarben Ungarns wirken seine aktuellen Werke geradezu bunt und vermitteln eine eigene Art von Fröhlichkeit. Man könnte sie sogar als dekorativ bezeichnen. Pinczehelyi setzt sich mit dem kreativen Prozess und der Freude, die damit einhergeht, auseinander. Dieser Ansatz mag naiv oder gar konservativ erscheinen, aber bei einem erfahrenen Künstler, der jahrzehntelang den Kommunismus und dann die Wende überstanden hat, ist das authentisch und verdient Respekt.
„Ist Kunst wichtig?“ lautet seine rhetorische Frage. „Kann das Werk eines Künstlers irgendetwas verändern?“ Er fügt hinzu, dass die Verquickung von Kunst und Politik in Ungarn ein Fluch ist, da politisches Engagement in gewissem Maße Provinzialität zur Folge hat. Er stellt sich mit Leichtigkeit, Ironie und Distanz gegen die Besessenheit der Ungarn vom „Ungarischsein“. Und trotzdem steht er noch zu seinen früheren, politischen Arbeiten, in denen nationale Motive und Politik eine wichtige Rolle spielten.
Sanfter Humor
Gábor Erdélyi treffe ich in der Galerie Neon, in der seine aktuellen Arbeiten ausgestellt sind. Erdélyi arbeitet langsam. Ein Bild pro Monat, manchmal alle zwei Monate. Ich rechne das schnell aus: Sagen wir, zehn Bilder pro Jahr mal fünfzig Jahre Schaffenszeit, das ergibt insgesamt 500 Werke. Für Erdélyi sind seine Bilder wie seine Kinder, ihr Entstehen vergleichbar mit einer Geburt. Dennoch fällt es ihm nicht schwer, sich von seinen Arbeiten zu trennen. Wenn sie fertig sind, werden sie ausgestellt und in die Welt hinaus verkauft. Die Titel seiner abstrakten, kleinformatigen Kompositionen sind auf Ungarisch und klingen mitunter recht witzig. Zumindest in der Übersetzung. Wie zum Beispiel Sanfter Humor.
Die Galerie Neon befindet sich in einer adaptierten Wohnung in einem alten Wohnhaus. Im großen Ausstellungsraum sind die Bilder symmetrisch, in einer an eine Kapelle erinnernden Anordnung gehängt. Während wir von Bild zu Bild gehen, sprechen wir über Spiritualität und auch Religion. Meine Frage, ob er denn an Gott glaube, findet Erdélyi eher überraschend und befremdlich. Er beschäftigt sich lieber mit sich selbst, mit seinen Gedanken und Gefühlen und mit seiner Arbeit im Kontext der Kunstgeschichte. Die hier ausgestellten Arbeiten sind nicht so sehr Zeugnis der Malerei, als vielmehr die Erforschung von Zwischenräumen. Eigentlich gilt sein Interesse mehr den Ecken und Kanten, der Unterlage und den Schichten des Bildes, geht aber auch darüber hinaus. Das ist postmoderne Kunst. Aber hat die Postmoderne im 21. Jahrhundert noch irgendeine Bedeutung? Ist es denn überhaupt möglich, der eigenen Lebensauffassung durch diese Art von Kunst Ausdruck zu verleihen? Die Antwort ist zweifelsfrei ja.
Erdélyi interessiert sich nicht für Politik. Umso mehr für Fußball. Er spielt selbst sehr gerne, ich habe aber völlig vergessen, ihn zu fragen, auf welcher Position. Er begreift die Ausstellung seiner abstrakten Bilder nicht als ein politisches Statement. Ist es denn heute noch möglich, solche Bilder zu schaffen? In diesen verrückten Zeiten, mit der im Verfall begriffenen Politik, ist es nicht einfach, sich mit dieser Aufmerksamkeit und Hingabe der eigenen Arbeit zu widmen. Und doch scheint Erdélyi genau das zu gelingen.
Bei meinem Gespräch mit Erdélyi werde ich von Tóth Árpád unterstützt, dem Eigentümer der Galerie Neon und eines Auktionshauses. Auf meine Frage nach der Marktsituation antwortet er mit einem Lächeln, dass das Geschäft boome und die Leute sehr kauffreudig seien. Der Taxifahrer, der mich zu diesem Treffen fuhr, traf also mit seiner Aussage den Kern: Viktor Orbán war genau zur richtigen Zeit am richtigen Ort, nämlich in Zeiten der Hochkonjunktur, wenn es den Leuten gut geht und sie gern bereit sind, den Populisten ihre Sünden zu verzeihen. Aber eben nur solange das Geld fließt.
Sackgasse
Für mein Treffen mit dem Duo von Little Warsaw fahre ich über die Donau nach Buda in ein Atelier in einem alten Reihenhaus. Unser Gespräch dauert über eine Stunde und wird von Bálint Havas dominiert. András Gálik ist ebenfalls anwesend und hört aufmerksam zu, beteiligt sich aber erst gegen Ende an der Unterhaltung.
Das Gespräch beginnt mit einem Rückblick, bei dem es hauptsächlich um den Zusammenbruch der bildenden Kunstszene nach Viktor Orbáns Machtübernahme vor zehn Jahren geht. Als die Verantwortlichen in Kunsteinrichtungen von regierungsnahen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ersetzt wurden, war für das Duo von Little Warsaw, das in den Nullerjahren eine steile Karriere gemacht hatte, eine wachsende Leere spürbar. Die Kuratorinnen und Kuratoren, mit denen das Duo zusammenarbeitete, gingen nach und nach ins Ausland. Ankäufe von Arbeiten von Little Warsaw für öffentliche Sammlungen ließen nach, Einladungen zur Teilnahme an Ausstellungen und internationalen Veranstaltungen wurden immer seltener.
Zu allem Überfluss gab es noch einen Generationenwechsel. Junge Kunstschaffende und Kuratorinnen und Kuratoren haben natürlich wenig Interesse an früheren Stars, die nicht mehr ganz so hell glänzen. Bálint Havas vergleicht die Situation, in der sie sich plötzlich befanden, mit einer Sackgasse. „Was bleibt zu tun, wenn plötzlich eine Mauer den Weg versperrt?“, möchte ich wissen. „Gar nichts“, antwortet Havas. „Oder fast nichts“. Das Duo betrachtet eine derartige Sackgasse aber auch als etwas Positives und Inspirierendes, denn sie lässt es zu, einen Gang zurückzuschalten und in Ruhe über die eigene Arbeit nachzudenken. Die beiden finden aber nicht, dass diese Haltung der typisch ungarischen Melancholie oder gar Depression zuzuschreiben ist. Sie haben die derzeitige Hoffnungslosigkeit satt und möchten daher einen Blick auf die Geschichte der postkommunistischen Transformation werfen, um die Ursachen des Stillstands zu erforschen.
Als ich die beiden bitte, eine ihrer aktuellen Arbeiten zu nennen, die sie als besonders wichtig erachten, erwähnen sie ein Buch, oder genauer gesagt, ein Foto-Comicbuch. Der Band mit dem Titel rebels befasst sich mit einem Aufstand an der Ungarischen Akademie der Bildenden Künste zu der Zeit, als der Kommunismus zerfiel. Das Buch enthält Screenshots von VHS-Aufzeichnungen mit eingefügten Sprechblasen, ergänzt durch Essays und Kommentare. Es ist die Erforschung eines gescheiterten Aufstands und der Wende von 1989. Der erklärte Wunsch des Duos nach Aktualität und grenzübergreifender Relevanz scheint im Widerspruch zu dieser hermetischen Arbeit zu stehen. Die ungarische Kunst ist ihnen offenbar ein Anliegen, weiter gefasste Themen interessieren sie aber nicht.
Nach einer Definition der Kunst gefragt, meint das Duo von Little Warsaw, dass Kunst alles sein kann. Kunst kann Erzählen sein, sie kann Forschung sein. „Wenn das so ist,“ frage ich, „was ist Kunst nicht?“ Für Havas „ist sie zum Beispiel nicht Familie und Kinder“. Wenn es um Engagement geht, fällt es den beiden also nicht schwer, das Persönliche vom Politischen und der künstlerischen Arbeit zu trennen. Feminismus und LGBTQ-Themen interessieren sie nicht, obwohl sie beispielsweise die Arbeit von Dominika Trapp sehr schätzen. Auf meine Frage nach der jungen Kunst erhalte ich eine launische Antwort. Sie seien selbst jung und fühlen sich sogar jünger als die jüngste Künstlergeneration. Zum Schluss dreht sich unser Gespräch um ungarische Nachnamen. Die zwei häufigsten sind „Nagy“ und „Kis“ oder „Kiss“. Ersterer bedeutet groß und letzterer klein.
Volk, Kunst & Prolaps
Dominika Trapp ist in aller Munde. Wenn man nach interessanten, angesagten Kunstschaffenden fragt, oder „was hip ist und was nicht“, fällt immer ihr Name. Ich treffe mich mit ihr in ihrem Lieblingslokal Kelet Café auf der Buda-Seite des Flusses. Sie kommt gerade aus New York zurück und steckt in den Vorbereitungen für eine Ausstellung in der Galerie Trafó, einer der interessantesten Adressen auf der Budapester Landkarte der bildenden Künste.
Also vereinte Trapp Klimaaktivismus und politisches Engagement, indem sie sich die Diskurse der regierungsnahen Ideologen aneignete. Um ihr eigenes Narrativ dagegenzuhalten, startete sie das Projekt Peasants in Atmosphere, im Rahmen dessen sie eine „Konzept-Volksmusik-Band“ gründete, die sie nach dem Projekt benannte. In ihren Liedtexten spricht die Band Themen an, die absolut untypisch für dieses Musikgenre sind.
Angesichts der planetaren Katastrophe erscheint Orbáns Regime wie eine Lappalie und daher steht für Trapp nicht so sehr Aktivismus im Mittelpunkt, sondern eher die Auseinandersetzung mit einer Art Trauer, als ob das Ende der Welt schon gekommen wäre. In ihrer wissenschaftlichen Arbeit an der Moholy-Nagy-Universität zitiert sie jene Theorien, wonach es bereits zu spät für die Rettung des Planeten ist. Vielleicht ist mit den in der traditionellen Kultur schlummernden Denk- und Handlungsmustern und lang vergessenen Techniken und Werkzeugen ein Überleben noch möglich. Trapp ist eine Verfechterin von Jem Bendells „Deep Adaptation“. „Ich denke, es werden höchst wahrscheinlich nur kleinere Volksgruppen überleben,“ erklärt sie. „Aber vielleicht nicht ausschließlich aus Ungarn,“ denke ich.
Im zweiten Teil unseres Gesprächs geht es um Trapps neuere Arbeiten. Während ihres Aufenthalts in New York befasste sie sich mit Choreographie und der Überarbeitung von patriarchalen Mustern in der Volkskultur. Für die Ausstellung in der Galerie Trafó bereitet sie einige Arbeiten zum Thema Pornographie vor. Dabei konzentriert sie sich auf den Einzug von BDSM in den Mainstream und die Rolle der Frauen in der Pornoindustrie. Einer der weniger bekannten Aspekte der ungarischen Kultur und der Budapester Szene ist nämlich ihre Auseinandersetzung mit Pornographie. Ähnlich wie Prag ist Budapest eines der globalen Zentren der Pornoindustrie.
Trapp tells me that she is particularly interested in “prolapse”. I am forced to confess; “I’m not sure what you mean. You’ll have to explain it to me”. Rectal prolapse, where the rectum, located at the end of the large intestine, becomes displaced and slips downwards to protrude through the anus, creates a fairly specific iconography, which converges with her folk-orientated work in an unexpected way.
Vielleicht findet sich irgendwo versteckt in Trapps Kunst die Lösung des Problems der Regionalität, des Ungarischseins, das wiederum die Antwort zu den universellen Problemen der Menschheit in sich birgt, aber auch zu jenen existenziellen Fragen, die viele beschäftigen. Und zwar nicht nur in Ungarn. Das erinnert mich an Béla Bartóks ethnographische Forschungen. Trapp gibt mir eine plastische Darstellung von den Auswirkungen eines Prolapses. Als wir uns verabschieden, überkommt mich ein Gefühl des Unbehagens beim Gedanken daran, im Internet zu recherchieren, wie so etwas aussehen kann.
Zeitlos
Imre Bak hat für die bildende Kunstszene Ungarns den gleichen Stellenwert wie Frank Stella für die amerikanische. Mit einem einzigen Unterschied: Der 80-jährige Bak ist noch sehr aktiv und erfreut sich bester Gesundheit. Wir sind in der Galerie acb verabredet, wo gerade seine neuesten Bilder ausgestellt sind. Helle, fröhliche Arbeiten, die Lebensenergie ausstrahlen – emotional anspruchsvoll und doch durchaus ansprechend.
Bak beginnt, von den Anfängen seiner Kunst zu sprechen, auf meinen Wunsch hin wechseln wir aber bald in die Gegenwart. Jahre zurückliegende Erinnerungen und oft besprochene Überlegungen interessieren mich nicht. Vielmehr möchte ich wissen, was er heute denkt und woran er arbeitet. Er erzählt mir, dass er sich über aktuelle Trends in der Malerei und der bildenden Kunst im Internet informiert. Sofern es ihm möglich ist, besucht er Ausstellungen in Budapest und auch im Ausland. Er ist bemüht, den Zeitgeist zu vermitteln, in Dialog mit der Gegenwart zu treten, und gleichzeitig mit seinen Arbeiten die Zeit zu überwinden. Die aktuelle Situation in Ungarn interessiert ihn kaum.
Bak spricht von Béla Bartók, dessen Genie er in der Verschmelzung des Ungarischen mit dem Universellen verortet. Das erinnert mich an Dominika Trapp. Er sucht in der Kunst die Spiritualität und möchte durch seine Bilder Energie vermitteln. Die Metaphysik weicht aber dem Interesse an Abstraktion, Geometrie und einer sehr eigentümlichen Ordnung der Dinge und der von ihm angestrebten Harmonie. Er ignoriert meine Frage nach der aktuellen politischen Lage. Er möchte lieber über Kunst sprechen, zitiert Matisse. Zur Zeit des Kommunismus galt Abstraktion als politisch, da sie mit Einflüssen aus der westlichen Kunst in Verbindung gebracht wurde. „Kann sie auch heute eine politische Bedeutung haben?“, möchte ich wissen, und er antwortet: „Natürlich. Als ein Raum für künstlerische Freiheit, als eine Reaktion auf Krisen und politische Dominanz. Dabei erhebt uns Kunst über das Hier und Jetzt, sie überwindet all die vergänglichen, flüchtigen und profanen Grenzen und Probleme.“
Wir gehen gemeinsam durch die Ausstellung. Bak beschreibt seine Arbeiten als Selbstporträts oder innere Landschaften. Er arbeitet nicht an einer Staffelei, sondern legt die Leinwand flach auf einen Tisch. Die Größe seiner Bilder wird durch die Reichweite seines Armes bestimmt. Sein Maßstab ist der Mensch. Die meisten seiner Werke bestehen aus mehreren kleineren Bildern. In den anderen beiden Ausstellungsräumen sind einige seiner älteren Arbeiten, vor allem aus den 1980er-Jahren, zu sehen. Diese Arbeiten sind eher figurativ, beinahe narrativ. „So verhielten sich die Dinge damals und so hat man damals gemalt“, erklärt er. Die Arbeiten stehen natürlich zum Verkauf. Vor vielen Jahren wäre der Preis seiner früheren Werke nicht der Rede wert gewesen. Heute ist jedes einzelne Bild von ihm ein Vermögen wert. Diese hat er aus seiner Privatsammlung zur Verfügung gestellt. „Die Idee, einige meiner Arbeiten als Altersvorsorge aufzubewahren, war eine geniale Eingebung. Ich hätte noch mehr behalten sollen“, fügt er lächelnd hinzu.
Unter Druck
Die Direktorin der Galerie acb, Orsolya Hegedüs, ist bei meinem Treffen mit Bak anwesend. Sie erzählt, dass sie in den letzten Jahren sehr viel zu tun hatten. Das liegt nicht nur am wachsenden Interesse an zeitgenössischer Kunst und den steigenden Preisen, sondern auch daran, dass die privaten Galerien nolens volens die Rolle öffentlicher Einrichtungen übernahmen. Bürokratisierung und Politisierung haben dazu geführt, dass Kuratorinnen und Kuratoren, Kritikerinnen und Kritiker sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich eher auf Einrichtungen wie die acb konzentrieren, die jetzt zu Zentren des künstlerischen Lebens avanciert sind.
Hegedüs’ Worte werden vom geschäftigen Treiben in der Galerie untermauert. Überall sind Leute, es herrscht ein Kommen und Gehen, es wird geplaudert, gegrüßt, es werden Verabredungen getroffen … Als es also Zeit wird für meinen Termin mit Ágnes Eperjesi, suchen wir uns einen ruhigen Winkel, wo wir uns ungestört unterhalten können. Schließlich landen wir im weitläufigen Lagerraum der Galerie und ich bekomme die Gelegenheit, einen weiteren Bereich dieses außergewöhnlichen „Kunstpalais“ zu erkunden.
Eperjesi startete ihre Karriere als Fotografin und konzentrierte sich auf Fotogramme und Abstraktionen. Sie wurde zunehmend politisch aktiv und nahm auch an Protesten gegen Orbáns Maßnahmen teil. Auch ihre Kunst hat sich stark gewandelt. Fotografie hat nun Platz gemacht für Aktionskunst, Installationen und öffentliche Auftritte.
Sie steht den vorherrschenden Mechanismen der Macht und der männlichen Dominanz, die nicht nur an den konservativen Hochschulen für bildende Kunst, sondern in der gesamten bildenden Kunstszene Ungarns vorherrschen, kritisch gegenüber. Eperjesi verarbeitet die aktuelle Situation, indem sie auf die jüngere Geschichte in den 1980er-Jahren zurückgreift, konkret auf 1989, den entscheidenden Wendepunkt. Ähnlich wie Little Warsaw geht sie der Frage nach, was seitdem schiefgelaufen ist. Warum folgte der für die Wende gewählte Weg einem derart konservativen und im Grunde frauenfeindlichen Muster? Sie weiß sehr genau über die Schwächen der feministischen Bewegung in Ungarn Bescheid. Als Hochschuldozentin ist ihr vollkommen bewusst, dass Universitäten und Hochschulen die letzten Bastionen der Freiheit sind. „Trotzdem wäre so etwas wie #MeToo auch hier notwendig, wenn man bedenkt, wie männerdominiert diese Einrichtungen sind,“ merkt sie an.
Während wir über die Situation in Ungarn sprechen, fügt Eperjesi hinzu: „Ich würde nicht auswandern wollen, weil ich in der Szene hier verwurzelt und mit sehr vielen Kunstschaffenden befreundet bin.“ Es ist als ob sie ihre persönliche Karriere hinten anstellt, weil sie sich verantwortlich fühlt und für eine Alternative kämpfen möchte. Dennoch scheint sie unter Druck zu stehen und genug vom Aktivismus und dem Kampf gegen Populismus zu haben. „Wie viele andere Kunstschaffende nehme auch ich an Protesten und Demonstrationen teil,“ erzählt sie, „in meiner Kunst bin ich aber an einem Punkt angelangt, an dem ich mich gern auf etwas anderes konzentrieren möchte.“ Und deshalb hat sie auf ihre früheren Werke zurückgegriffen und ihre abstrakten Fotogramme in Buchform herausgebracht. Das sind großartige Arbeiten, die über die Grenzen von Sex und Politik hinausgehen und an die große Tradition von László Moholy-Nagy anknüpfen.
Das größte Problem im Leben
Unter den Kunstschaffenden, die ich traf, ist Miklós Erhardt der Einzige, der sich für Emigration entschieden hat. Er arbeitet zwar in Budapest an der Moholy-Nagy-Universität für Kunst und Design, lebt aber mit seiner Familie im zwei Stunden entfernten Wien. „Wien ist extrem bürgerlich und engstirnig,“ erzählt er mir, „aber es ist eine angenehme Stadt mit vielen Kunsteinrichtungen und Galerien von internationalem Format.“
Wir sitzen im Lumen-Café und unterhalten uns über Politik und die Rolle der Kunstschaffenden in der aktuellen Situation. Erhardt merkt an, dass Orbáns Regierung für viele Künstlerinnen und Künstler nicht zwangsläufig schlecht ist. Damit meint er nicht nur die Angepassten, die jetzt Teil des Staatsapparats geworden sind, oder die Institutionen, die klein beigegeben haben, sondern auch die vielen Kunstschaffenden, die in ihrer eigenen Blase leben und ihre Freiheit in ihren Ateliers und an den Hochschulen ausleben.
„Vor allem junge Kunstschaffende lassen die Politik komplett außer Acht,“ fügt er hinzu. Er meint, dass er in der Zeit vor Orbán in seiner Kunst politisch aktiver war als jetzt, also bevor politisches Engagement, oder die Behauptung davon, zur Mode wurde. Er befasste sich mit der Kritik am Neoliberalismus und der Scheinheiligkeit sozialdemokratischer Regierungen. Das Fiasko, das dem Machtwechsel folgte, und das Versagen aller Beteiligten brachten Orbán an die Macht. Erhardt beschäftigte sich mit sozialen Ungerechtigkeiten und arbeitete, sowohl im Kollektiv als auch allein, mit sozial benachteiligten Gruppen und Obdachlosen.
In den letzten Jahren hat sich einiges verändert. Einerseits versucht er jetzt als Hochschuldozent etwas zu bewirken, indem er die nächste Generation von Kunstschaffenden auf die Indoktrinierungsmechanismen der Machthaber aufmerksam macht. Andererseits ist er nachdenklicher geworden und man könnte sagen, er hat einen existenzialistischen Zugang zur bildenden Kunst entwickelt. Ich frage ihn, welche Arbeit derzeit für sein Werk repräsentativ ist. „Die Video-Installation mit dem zehnminütigen Monolog des Rom, der die zentrale Figur in István Dárdays Film Rongyos hercegnö (Prinzessin in Lumpen) ist.“ Dárdays Video in Schwarz-Weiß ist 1974 entstanden. Das Video von Erhardt, ebenfalls in Schwarz-Weiß, stellt den Monolog nach, wobei er die Rolle des anonymen Protagonisten einnimmt, sich in seine Lage versetzt und seinen sozialen Verhältnissen nachspürt.
Der Rom und Erhardt erzählen beide über ihr jeweiliges Leben, über ihre Probleme, ihren Alltag und über die Gründe, warum sie vom Scheitern verfolgt sind statt vom Erfolg. Es geht nicht um eine spektakuläre Niederlage, sondern um das ganz gewöhnliche Versagen eines Menschen in seinem Leben. Das Dahinvegetieren kann genauso als Versagen empfunden werden wie das Fehlen von besonderen Leistungen, die Monotonie des Alltags oder der Zwang, sich seiner Umgebung anpassen zu müssen. Wenn das aber das größte Problem im Leben jenes ungarischen Rom oder dieses ungarischen Künstlers ist, dann kann es nicht so schlecht um sie bestellt sein.
Careerist
Am Tag nach der Verleihung des Esterházy Art Awards befinde ich mich wieder im Museum Ludwig, um dort Péter Puklus zu treffen. Er ist einer der drei Preisträger von 2019, war aber bei der Gala nicht anwesend, da er gerade einen Kurs in Deutschland hielt. Eigentlich ein Zufall, aber derartigen Vorkommnissen werden in der kleinen ungarischen Kunstszene symbolhafte Bedeutung beigemessen. Es überrascht also kaum, dass ich da und dort Kritik an Puklus vernehme. Der international anerkannte Künstler selbst ist darüber amüsiert und nimmt das Gerede nicht allzu ernst.
Der 40-jährige, gutaussehende Puklus hat gerade eine persönliche Krise überwunden, aus der er als ganz neuer Mensch hervorgeht. In der Ausstellung im Museum Ludwig zeigt er seine neuesten Arbeiten. Puklus war bereits ein bekannter Fotograf, als er sich auch Installationen und Objekten widmete. Jetzt stellt er aber erstmals als Maler aus und gewinnt gleich den mit fünftausend Euro dotierten Esterházy-Preis. Auf meine Frage, warum er zu malen begonnen habe, erwidert er: „Ich wollte schon immer ein Maler sein.“ In einem Schaukasten neben seinen Bildern sind Notizhefte mit Entwürfen zu sehen. Ein Entwurf ist ein Selbstporträt mit dem Title Careerist. Er hörte, wie ein eifersüchtiger Kollege ihn so nannte und übernahm den Beinamen.
Wir überqueren den Fluss und gehen nach Buda in sein Atelier in einer alten Fabrik und zu seinen noch expressiveren und wilderen Bildern, die von einer überströmenden Farbenfülle und Energie sind. In seinem Atelier gibt es verschiedene Räume, die Puklus gerade umbaut, um sie als Arbeitsbereiche und Lagerräume zu nutzen. Seine Bilder sind so groß wie sein Bett und haben englische Titel.
Auch Puklus ärgert sich über die Situation in Ungarn. In der Kunstszene, die er als provinziell beschreibt, komme man nur durch Beziehungen voran, was wiederum durch politische Kontakte verstärkt werde. Das allein bestimmt, wer was mit wem macht und wer nicht dazugehört. Für Kunstschaffende, die ausgeschlossen werden, ist die einzige Lösung eine Karriere im Ausland. Für Puklus’ Generation gibt es keine Grenzen (nach oben) und er ergreift ohne Zögern jede Chance, die sich ihm bietet, ob in Budapest, Düsseldorf, Warschau, Paris oder New York.
Als Künstler ist Puklus nicht sonderlich an Politik interessiert. In den meisten seiner Arbeiten behandelt er seine persönliche Situation. Er selbst und seine Familie sind seine zentralen Motive. Dabei entsteht eine sehr intime Kunst, die aber dadurch überzeugt, dass sie viele Themen aufgreift, die Vertreterinnen und Vertretern seiner Generation und gesellschaftlichen Schicht vertraut sind. Durch die Einbeziehung von Erotik vermeidet er Monotonie. Er hat einen Wandel vollzogen, von einem Künstler, der ein Projekt nach dem anderem abarbeitet, zu einer komplett anderen Person, einem Künstler, dem es nicht auf das Timing ankommt oder darauf, eine Arbeit zu vollenden oder weitere Bücher herauszubringen. Seine neuen Bilder sind provokativ und kontrovers, aber das ist durchaus in seinem Sinne. Puklus strebt vieles an … aber bestimmt nicht Berechenbarkeit.
Die Präsentation und Sichtbarmachung von Nichts
Ich bin im Két Szerecsen, einem wunderbaren Lokal, in dem ich mich mit Zsuzsa Magyari verabredet habe. Magyari, deren Nachname „ungarisch“ bedeutet, hat vor Kurzem ihren Abschluss gemacht. Sie und eine Gruppe von Freundinnen und Freunden bilden das Kollektiv hinter Pince, einem von Künstlerinnen und Künstlern selbst betriebenen Offspace. Es überraschte mich sehr, dass gerade sie, die jüngste unter meinen Interviewpartnerinnen und -partnern, kein Englisch spricht. Dankeswerterweise begleitet mich Andi Soós und mit ihrer Hilfe fließt das Gespräch problemlos.
Magyari ist keine Feministin und während ihres Studiums war männliche Dominanz kein Thema für sie. Abgesehen von den Aufnahmeprüfungen vielleicht, bei denen, trotz der viel höheren Zahl an Kandidatinnen, Männer bevorzugt aufgenommen werden. Ich erzähle, dass man in Polen wohl kaum eine Künstlerin findet, die sich vom Feminismus distanziert. „Eine Freundin von mir ist Feministin,“ sagt sie darauf.
Bis zu einem gewissen Grad ist Magyari die Bestätigung von Erhardts These, dass die junge Generation sich für die politische Situation nicht interessiert. Sogar der Offspace, den sie und ihre Freundinnen und Freunde betreiben, ist an sich apolitisch. Pince wurde aus praktischen Überlegungen gegründet und das definiert nach wie vor seinen Zweck. Die jungen Künstlerinnen und Künstler hatten keine Ausstellungsräume, also gründeten sie ihre eigene Galerie. Jetzt entwickeln sie das Programm zusammen und gestalten gemeinsam die Ausstellungen. Einfach abzuwarten, bis sie ins Museum Ludwig kommen, ist genauso sinnlos, wie auf eine Karriere mit einer kommerziell geführten Galerie zu hoffen.
Ich erkundige mich vorsichtig nach finanziellen Sorgen und sonstigen Ängsten, die normalerweise junge, am Ende ihres Studiums stehende Kunstschaffende befallen. „Ich jobbe in einem Geschäft, das Hygieneartikel für Hunde verkauft“, erzählt mir Magyari. „Die Kunst ist einfach eine weitere Tätigkeit. Damit vermeide ich Enttäuschungen und schaffe, was ich schaffen will. Kunst ist Teil des Lebens. Eine Art Lifestyle.“ Ich frage nach ihrer Arbeit. Sie zeigt mir einige Fotos von einer Installation mit Plastiktüten und einer anderen mit zusammengeknäuelten Plastikfolien, die wie eine zerknüllte Decke auf einem Bett aussehen. „Schön und poetisch,“ finde ich. „Aber nicht besonders ökologisch.“ „Durch den Einsatz von Plastik in meiner Kunst, führe ich ein Zero-Waste-Leben,“ erklärt sie mir. Auf meine Frage, was sie an Kunst interessiere, antwortet sie: „Die Präsentation und Sichtbarmachung von Nichts.“
Der visuelle Aspekt
Sonntag in der Altstadt. Wieder stehe ich vor einem prachtvollen alten Haus, diesmal direkt an der Donau gelegen. Hier treffe ich Gábor Ősz, der in einer Wohnung im selben Gebäude wohnt. Da ich mit seiner Frau, der Kuratorin, Autorin und Produzentin Claudia Kussel befreundet bin, wird das Interview weniger formell ablaufen. Ich bin zum Mittagessen eingeladen. Erst vor Kurzem sind die beiden nach Ungarn zurückgekehrt, nachdem er über 25 Jahre in Amsterdam gelebt hatte. Es war auch dort, wo er Claudia kennenlernte, mit ihr eine Familie gründete und die gemeinsamen Kinder aufzog. Sie haben sich aus beruflichen und privaten Gründen für den Umzug entschieden.
Wo könnte es zwei Lebensräume geben, die politisch und kulturell so diametral entgegengesetzt sind wie die Niederlande und Ungarn? Ősz ist sichtlich verärgert über die ungarische Kunstszene und das vorherrschende Klima der Ablehnung gegenüber allem Westlichen, Liberalen und Progressiven. Aber auch die Opposition gegen Orbáns Regierung betrachtet er durchaus nüchtern und kritisch. Seiner Meinung nach hat die Opposition keine einzige konstruktive Idee für Ungarn, abgesehen davon, dass sie die Fidesz-Partei absetzen möchte. Vor Orbán war die Situation teils noch schlimmer als jetzt, ein Beispiel sind die Rechtsextremen in der Jobbik-Partei.
Ősz’ politische Ansichten sind eine Sache, seine Kunst eine andere. Während er spricht, höre ich eine gewisse Verbitterung heraus, eine Sehnsucht nach den Niederlanden und einer zutiefst weltoffenen Kultur, frei von nationalistischen Zwängen. Aber er denkt nicht ans Kapitulieren. Er gibt nicht auf und arbeitet an Ausstellungen in Budapest und versucht dabei, das Beste aus seinen internationalen Kontakten und seiner Position als im Westen anerkannter Künstler zu machen. Er nimmt an Diskussionen zum Thema Fotografie und fotografisches Bild teil und bereitet gerade eine Ausstellung über Fotografie vor, in der er kein einziges Foto präsentieren möchte.
Wir wenden uns im Gespräch seiner Philosophie der Fotografie, seinen Büchern und Projekten zu. Er ist wieder zu seinen Arbeiten aus den 1990er-Jahren zurückgekehrt, zu einer Zeit, als er sich mit einem strengen Konzeptualismus in einer von jeglichen ästhetischen Werten befreiten Fotografie beschäftigte. Später versuchte er, die bildlichen Eigenschaften des Fotos mit einem Konzept zu verknüpfen, das sich erst allmählich dem Publikum erschließen sollte. Dabei erwähnt er Liquid Horizon, eine in ehemaligen Nazi-Bunkern an der französischen Atlantikküste entstandene Fotoserie, als ein sowohl emblematisches als auch erfüllendes Projekt.
Wir sprechen über Paul Virilio. Über das Fotografieren und Vergnügen. Liquid Horizon ist eine gelungene Verschmelzung eines konzeptuellen Landschaftsbildes und der Freude, die das Bild bereitet. Architektur- und Landschaftsfotografie als eine Suche nach Schönheit. Alles auf einmal zu zeigen, bringt nichts. Die Dinge allmählich zeigen und heranzoomen. Den schönen Körper einer uns unbekannten, aber von uns bewunderten Person fotografieren.
Nicht-Künstler
Tamás St. Auby, alias Szentjóby, empfängt mich in seiner Wohnung auf Polnisch. Er ist schon oft in Polen gewesen. Das erste Mal 1960, als Teenager. Er kannte Tadeusz Kantor persönlich. Zwischen 1963 und 1981 wurde jeden Sommer in dem kleinen Ort Osiecki an der baltischen Küste eine Open-Air-Veranstaltung abgehalten, bei der sich internationale Kunstschaffende, Kunststudierende und Kunstwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler trafen. Szentjóby war 1967 dort, als Kantors legendäres Panoramiczny happeningu morski (Panorama-Seehappening) stattfand. Er war auch am 13. Januar 1981 in Polen, als dort das Kriegsrecht verhängt wurde. Er kennt beinahe alle polnischen Kunstwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler und Kunsthistorikerinnen und -historiker, sowie die meisten Neo-Avantgarde-Kunstschaffenden. Und zwar nicht nur jene aus seiner eigenen Generation.
Szentjóby beschreibt sich selbst als einen Nicht-Künstler. „Ich interessiere mich nicht für Kunst, sondern für Theologie,“ erklärt er, während er uns beiden Palińka eingeschenkt, einen ungarischen Obstbrand. Wir sprechen über die Ursünde und die Konsequenzen der Vertreibung aus dem Paradies. Es ist nicht einfach, seinen Gedankengängen und Assoziationen zu folgen. Er ist in bester Stimmung und lacht alle paar Minuten laut auf. Das ist ein gutes Zeichen, denn ich wurde vor seiner aufbrausenden Art und seinen spitzen Bemerkungen gewarnt.
Bald kommen wir von der Bibel zu Jesus Christus und einem sehr wichtigen Thema für Szentjóbys Kunst, nämlich dem allgemeinen Grundeinkommen. Das Konzept ist für seine Arbeit von zentraler Bedeutung. Zurzeit arbeitet er an der Errichtung einer Grundeinkommen-Basilika, einer Art Tempel, in dem man meditieren und an einem Residenzprogramm für Nicht-Künstlerinnen und Nicht-Künstler teilnehmen kann.
Das Thema Talent bzw. Talentlosigkeit interessiert Szentjóby. „Zeitgenössische Künstler müssen heute keine gute Kunst schaffen,“ merkt er provokativ an. „Im Gegenteil, die Kunst muss heute schlecht sein, damit sie morgen als gut gelten kann.“ Er erzählt mir von seiner Ausstellung von Tausenden von schlechten Zeichnungen und zeigt mir Aufzeichnungen von dem Event. „Alles geht vor die Hunde. Es wird alles immer schlechter.“ Aber das kümmert Szentjóby nicht weiter. Es scheint ihn vielmehr zu amüsieren, dass immer mehr schlechte und untalentierte Leute zu guten oder gar hervorragenden Kunstschaffenden werden.
Das ist eine verquere Auffassung von der Idee, dass jede und jeder eine Künstlerin oder ein Künstler sein kann und dass alles Kunst ist. Ich stelle mehrmals dieselbe Frage: „Ist es nicht eine zynische Haltung, die Sie da einnehmen?“ Er verneint und beschreibt sich selbst als einen „religiösen Künstler“.
Wir kommen auf Solipsismus zu sprechen, auf Gut und Böse, Swedenborg und das Fegefeuer. Szentjóby weist mich darauf hin, dass sogar der Papst die Existenz der Hölle in Frage stellt. „Somit sind wir alle im Fegefeuer und werden geläutert,“ fügt er hinzu. „Was aber ist eigentlich das Fegefeuer?“, möchte ich wissen. „Und worin genau besteht diese Läuterung?“ Für Szentjóby kommen da die Mythen ins Spiel. Dank der Mythologie ist es nämlich möglich, dem Fegefeuer zu entkommen und unter Umständen in den Himmel zu kommen.
Als ich ihn nach der aktuellen politischen Situation frage, spricht Szentjóby über die Korruptheit von Orbáns Regierung, steigende Preise und über die Unverfrorenheit der Beamten, die ihm das Leben schwermachen, indem sie seine Stiftung und den Bau seiner Grundeinkommen-Basilika behindern. Über die Politik kommen wir zum Thema Streik. „Für mich,“ meint er, „ist Streik eine zutiefst künstlerische Handlung. Es ist eine harte Arbeit, die hier und jetzt getan werden muss, in einer Zeit, in der alles auf Ausbeutung und Produktivität ausgerichtet ist.“
Als Künstler zählt Szentjóby zu den Vertretern der internationalen Neo-Avantgarde und somit scheinen Fragen über Ungarn unangemessen. „Und dennoch bauen Sie Ihre Basilika hier in Ungarn,“ stelle ich fest. „Natürlich,“ sagt er, „und zwar in der Nähe eines erloschenen Vulkans.“ „Ich wusste gar nicht, dass es in Ungarn Vulkane gibt“, werfe ich ein. „Ich hoffe, dass eines Tages einer von ihnen ausbricht und ganz Ungarn unter seiner Lava begräbt,“ sagt Szentjóby, während er mir Palińka nachschenkt.
Dieser Artikel entstand im Rahmen des East Arts Mag Programms mit Unterstützung des International Visegrad Fund.
Original auf Polnisch.
Erstmals publiziert am 5. Februar 2020 auf Artportal.hu.
Englische Übersetzung aus dem Polnischen von Caryl Swift. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Mandana Taban.
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