Warum die slowakische Bevölkerung so schnell altert.
Die Slowakei ist nicht das einzige europäische Land, in dem man Mühe hat herauszufinden, wie viele Menschen tatsächlich im eigenen Land leben. Tim Judah hat die Eigenheiten des Landes unter die Lupe genommen.
16. Februar 2023
Erstmals veröffentlicht
27. Januar 2022
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Die Ergebnisse der slowakischen Volkszählung 2021 weisen auf eine schnell alternde Bevölkerung hin. Die Situation könnte sogar noch dramatischer sein, da womöglich viel weniger Menschen im Land leben, als die offiziellen Daten vermuten lassen.
Eine Kindergartengruppe marschiert an der Slowakischen Nationalgalerie vorbei, bevor sie auf die belebte, parallel zur Donau verlaufende Hauptstraße einbiegt. Die Knirpse werden von drei Frauen um die Dreißig begleitet, die durchaus selbst Mütter von Kindern in diesem Alter sein könnten. Die Gruppe drängt sich an zwei elegant gekleideten älteren Damen vorbei, die plaudernd die Straße entlangschlendern.
Ein paar Minuten entfernt, vor dem berühmten Rolandsbrunnen in der Altstadt von Bratislava, sitzen ein paar Mädchen im Teenageralter auf dem Boden. Sie nehmen am wöchentlichen, von Greta Thunberg initiierten Schulstreik für das Klima teil. In ein oder zwei Jahren werden sie vielleicht an der hiesigen Comenius-Universität studieren, an der sich zumindest bis vor Ausbruch der Corona-Pandemie eifrige Studierende tummelten. Sollte eines der Mädchen beschließen, dort Demografie zu studieren, könnte es so manche Überraschung erleben.
Zunächst einmal gibt es viel weniger Studierende als früher. Während 2008 noch 214.309 Personen an einer slowakischen Hochschule inskribiert waren, gab es 2020 nur noch 116.124 Studierende. Das ist zum Teil der Tatsache geschuldet, dass viele im Ausland studieren – aber nicht nur. Es gibt einfach viel weniger Slowakinnen und Slowaken im Studentenalter und im Gegensatz dazu jedes Jahr mehr Pensionistinnen und Pensionisten. Auch die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter nimmt ab, und wenn nicht mehr Migrantinnen und Migranten in die Slowakei kommen, wird sich der ohnehin schon gravierende Arbeitskräftemangel weiter verschärfen.
Die Bevölkerung der Slowakei wird bald schrumpfen – sofern sie dies nicht schon getan hat – und altern. Das ist nicht überraschend. Diese Entwicklung ist auch in weiten Teilen Mittel- und Osteuropas zu beobachten. Was die Demografinnen und Demografen jedoch beunruhigt, ist die Tatsache, dass trotz der seit Jahren relativ konstanten Bevölkerungszahlen in der Slowakei hinsichtlich der Genauigkeit der offiziellen Daten Unsicherheit herrscht. Für Ľudmila Ivančíková, Leiterin der Abteilung für Bevölkerung im Statistikamt, läuft es im Endeffekt darauf hinaus, dass die Slowakinnen und Slowaken nicht nur schnell altern, sondern dies auch viel schneller tun als ihre Nachbarinnen und Nachbarn.
Ein schnell alterndes Land
Im Dezember [2021, Anm. d. Red.] veröffentlichte das Statistikamt die ersten auf der Volkszählung 2021 basierenden Daten. Am 1. Jänner 2021 lebten gemäß dieser Analyse 5.449.270 Menschen im Land. Schenkt man dieser Zahl Glauben, bedeutet dies, dass die Gesamtzahl der Menschen in der Slowakei zu jenem Zeitpunkt um 45.000 höher war als ein Jahrzehnt zuvor und um 166.270 bzw. 3,1 Prozent höher als 1991.
Nach Angaben des slowakischen Innenministeriums waren Mitte des vergangenen Jahres 152.902 ausländische Personen legal im Land ansässig, was 2,8 Prozent der Bevölkerung entspricht. Bis zum EU-Beitritt der Slowakischen Republik 2004 lebten nur sehr wenige Ausländerinnen und Ausländer in der Slowakei. Zieht man sie also von der Gesamtbevölkerung des Landes ab, denn viele von ihnen – darunter zum Großteil Menschen aus der Ukraine und Serbien – halten sich nur mit einem befristeten Arbeitsvisum im Land auf und gelten nicht als Zugewanderte, dann hat es den Anschein, als ob die Bevölkerung des Landes in etwa gleich groß wäre wie vor 30 Jahren.
Angesichts der in den letzten drei Jahrzehnten – mit Ausnahme von Tschechien und Slowenien – oft recht dramatisch sinkenden Bevölkerungszahlen in allen ehemals kommunistischen Ländern Europas wäre dies wohl ein Grund zum Feiern. Tatsächlich wäre es jedoch sehr verfrüht, die Champagnerkorken knallen zu lassen.
Im Jahr 2011 lebten in der Slowakei 832.572 Kinder (bis 14 Jahre), 3,88 Millionen Menschen im Alter von 15 bis 64 Jahren und 690.662 Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren. Gemäß Volkszählung gab es Anfang 2021 im Land 867.410 Kinder, 3,65 Millionen Menschen im sogenannten „produktiven Alter“ und 929.181 ältere Menschen. In nur zehn Jahren war die Zahl älterer Menschen von 12,78 Prozent der Bevölkerung auf 17,05 Prozent hochgeschnellt, während die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter von 71,81 Prozent auf 67,03 Prozent gesunken war. Der Anteil der Kinder erhöhte sich nur um ein halbes Prozent. Und die weiteren Prognosen verheißen nichts Gutes.
Laut Branislav Bleha, Leiter des Fachbereichs Demografie an der Comenius-Universität, ist dem wahrscheinlichsten Szenario zufolge davon auszugehen, dass die Zahl der Menschen im „produktiven Alter“ bis 2060 auf 2,66 Millionen sinken, die Zahl der Personen ab 65 hingegen auf 1,77 Millionen ansteigen wird. Diese Schätzungen beruhen auf der optimistischen Annahme, dass die Gesamtbevölkerung nur auf 5,43 Millionen zurückgehen wird, obwohl sie möglicherweise schon jetzt geringer ist. Laut einer Prognose von Eurostat, dem statistischen Amt der EU, könnte die Bevölkerungszahl der Slowakei bis 2060 auf 4,95 Millionen Menschen gesunken sein.
Ob die Slowakei auf einen derart starken Rückgang der Erwerbsbevölkerung bei gleichzeitiger Zunahme der Zahl und des Anteils an Pensionistinnen und Pensionisten vorbereitet ist, bleibt abzuwarten. Staatliche Pflegeeinrichtungen sind bereits jetzt unterfinanziert und aufgrund der vielen, wegen der höheren Löhne im Ausland beschäftigten Pflegekräfte unterbesetzt. Das gilt auch für private Pflegeheime. Laut Ján Buček, Professor für Humangeografie an der Comenius-Universität, würden die verschiedenen Regierungen seit Jahren mit wissenschaftlich gesicherten Fakten, Zahlen und Empfehlungen versorgt. Er beklagt jedoch, dass „Wissenschaft und Fachwissen nicht in vollem Umfang berücksichtigt werden“; die vorgeschlagenen Strategien zur Bewältigung der bevorstehenden rapiden und massiven Alterung der Gesellschaft würden weder entsprechend befolgt noch umgesetzt und „stets durch neue ersetzt“ werden.
Hinter dem „Hajnal-Vorhang“
Alle europäischen Länder altern. Was die Slowakei jedoch von anderen unterscheidet, ist die Geschwindigkeit dieser Entwicklung. In den 1980er-Jahren zählte die Slowakei zu den jüngsten Ländern Europas. In den kommenden Jahrzehnten wird sie zu den älteren Ländern gehören. Im Jahr 1965 zog der britische Statistiker John Hajnal eine imaginäre Linie von St. Petersburg bis nach Triest und stellte die Hypothese auf, dass Frauen östlich dieser Linie aus kulturellen Gründen eher früher heiraten und mehr Kinder bekommen als ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen.
Die sogenannte „Hajnal-Linie“ gilt seit Langem als umstritten und ist vor allem in diesem Jahrhundert in Verruf geraten bzw. aufgrund der veränderten Faktenlage einfach nicht mehr zeitgemäß. Dennoch ist sie in der ehemaligen Tschechoslowakei nach wie vor zutreffend, denn die Linie trennte die beiden Landesteile, die tatsächlich unterschiedliche demografische Entwicklungen durchlaufen haben. Während des Kommunismus bekamen Slowakinnen wesentlich mehr Kinder als Tschechinnen. Bleha nennt als Gründe dafür den höheren Anteil der ländlichen Bevölkerung, die im Vergleich zu Tschechien geringere Industrialisierung und die im Allgemeinen religiösere und konservativere Gesellschaft. Im Jahr 1989, zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Kommunismus, lag die Fertilitätsrate in Tschechien bei 1,85 und in der Slowakei bei 2,09. Dann geschah etwas Außergewöhnliches.
Im Zuge der Verwerfungen und des darauffolgenden Wirtschaftseinbruchs gingen die Geburtenziffern in beiden Ländern – wie auch in anderen mittel- und osteuropäischen Ländern – stark zurück; in der Slowakei vollzog sich diese Entwicklung jedoch viel drastischer und schneller als in Tschechien. Dies war unter anderem der viel schwierigeren Wirtschaftslage in der Slowakei, einer höheren Abwanderungsrate jüngerer Menschen und der schnellen Übernahme eines neuen Wertesystems geschuldet. Seit 2004 ist die Fertilitätsrate in der Slowakei, die damals 1,23 betrug, niedriger als in Tschechien, aber wie auch in Polen und Ungarn im Steigen begriffen.
Im Jahr 2020 lag die slowakische Fertilitätsrate bei 1,59 und damit knapp über dem EU-Durchschnitt von 1,53. Da die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter im Vergleich zu früher gesunken ist, bedeutet dies, dass weniger Frauen mehr Kinder bekommen. Im Jahr 2016 lag der Anteil der Frauen im gebärfähigen Alter bei 47,1 Prozent, bis 2020 sank dieser Wert jedoch auf 45,47 Prozent. Die Zahl der im Ausland lebenden Slowakinnen und Slowaken ist so hoch, dass schätzungsweise zehn Prozent aller neugeborenen Bürgerinnen und Bürger außer Landes auf die Welt kommen, erklärt Boris Vaňo vom demografischen Forschungszentrum.
Da sie jedoch nicht in der Slowakei geboren werden, bleiben sie bei der Berechnung der Geburtenziffern des Landes unberücksichtigt. Die frühere hohe Fertilitätsrate und ihr anschließender dramatischer Rückgang sind der Grund dafür, dass die Slowakei in den kommenden Jahren einen ebenso dramatischen Alterungsprozess erleben wird. Ein weiterer zu berücksichtigender Faktor ist die Abwanderung, insbesondere von Frauen im gebärfähigen Alter. Beide Faktoren führen dazu, dass die Bevölkerung der Slowakei laut Ivančíková zwischen 2030 und 2040 zu schrumpfen beginnen wird.
Schrumpft die Slowakei bereits?
Das Problem ist, dass niemand weiß, wie viele Slowakinnen und Slowaken das Land verlassen haben, wie viele zurückgekommen sind und ob die offiziellen Bevölkerungsdaten der Slowakei korrekt sind. Wenn dem nicht so ist, bedeutet dies, dass die Bevölkerung des Landes bereits zu schrumpfen begonnen hat – und zwar ziemlich dramatisch. Die Diskrepanz ergibt sich vermutlich daraus, dass zwar viele Menschen die Slowakei verlassen, aber weiterhin im eigenen Land gemeldet sind oder hin und her pendeln. Man geht davon aus, dass etwa 24.000 Frauen, viele aus der Ostslowakei, einen Großteil des Jahres in Österreich in der Pflege älterer Menschen tätig sind. Viele andere pendeln und kommen alle paar Wochen oder Monate für eine gewisse Zeit nach Hause.
In einem Interview kurz vor der Veröffentlichung der aktuellen auf der Volkszählung basierenden Bevölkerungsdaten erklärte Bleha, dass er und sein Team davon ausgehen, dass in der Slowakei 200.000 Menschen weniger leben könnten als die offiziellen Daten vermuten lassen. Das könnte zum Teil den mehr als 21.000 slowakischen Studierenden geschuldet sein, die jedes Jahr an tschechischen Universitäten inskribieren und sich dann in Tschechien niederlassen, sowie slowakischen Ärztinnen und Ärzten sowie anderen medizinischen Fachkräften, die im Nachbarland bessere Bezahlung und Bedingungen vorfinden. Nach der Veröffentlichung der aktuellen Daten meinte Bleha, dass auch wenn die Methodik der Volkszählung offensichtlich zu Ungereimtheiten geführt habe, er und sein Team jedoch noch nicht über genügend Informationen verfügen würden, um ihren Verdacht, dass es viel weniger Menschen im Land gebe als angenommen, bestätigen oder widerlegen zu können.
Sollten die aktuellen Zahlen zu hoch angesetzt sein, wäre das keine Überraschung, auch wenn man laut Ivančíková vom Statistikamt sehr darauf geachtet habe, verschiedene Verzeichnisse und statistische Auswertungen miteinander abzugleichen. Im Jahr 2017 stellte Martin Haluš im Rahmen seiner Doktorarbeit Schätzungen zur Bevölkerungsentwicklung auf der Grundlage der Zahl aller krankenversicherten Personen an. Diese Versicherung ist gesetzlich verpflichtend, auch wenn diejenigen, die das Land verlassen, sich üblicherweise abmelden, um keine Beiträge zahlen zu müssen. Daraus schloss er, dass im Jahr 2015 300.000 Menschen weniger im Land lebten, als die offiziellen Daten nahelegten. Aus diesem Grund, so Tomáš Sobotka, Demograf am Wittgenstein-Zentrum für Demografie und globales Humankapital in Wien, sei die von Bleha vor der Veröffentlichung der aktuellen auf der Volkszählung basierenden Daten genannte Zahl realistisch, auch wenn er zu bedenken gibt, dass die Ermittlung exakter Werte schwierig sei. So hatten beispielsweise 106.820 Slowakinnen und Slowaken mit Ende September 2021 im nicht mehr zur EU gehörenden Vereinigten Königreich eine Niederlassungserlaubnis erhalten, und laut den jüngsten Zahlen waren 45.362 Slowakinnen und Slowaken in Österreich gemeldet.
Bei einigen dieser Personen in Österreich könnte es sich jedoch um Pflegekräfte handeln, die nach wie vor in der Ostslowakei gemeldet sind. Die Zahlen aus Großbritannien bedeuten außerdem, dass sich tatsächlich so viele Slowakinnen und Slowaken dort aufhalten. Ein Teil derjenigen, die im Vereinigten Königreich einen Antrag auf Aufenthalt gestellt haben, könnten unter anderem slowakische Roma sein, die inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt sind, sich und ihren Familien bei Bedarf aber die Möglichkeit einer legalen Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis offengehalten haben. Unzuverlässige Bevölkerungszahlen sind nicht nur deshalb ein Problem, weil sie die staatliche Planung erschweren. In der Slowakei hängen Zahlungen der Zentralregierung an lokale Behörden von der Anzahl der gemäß Volkszählung in der jeweiligen Gemeinde lebenden Menschen ab.
Heute leben in Bratislava schätzungsweise 600.000 Menschen, die die kommunalen Dienstleistungen usw. in Anspruch nehmen, aber laut den auf der Volkszählung basierenden Daten sind es nur 475.503, die mit ihren Steuern die Allgemeinheit unterstützen. Als die Zahlen im Dezember veröffentlicht wurden, verlangte der Bürgermeister eine Erklärung angesichts der Tatsache, dass in der Stadt mindestens 20.000 Menschen mehr gemeldet sind, als die Volkszählungsdaten besagen, und weitere 100.000 Menschen in Bratislava leben, die andernorts gemeldet sind.
Wenn nicht jetzt, wann dann?
Die Slowakei ist nicht das einzige europäische Land, in dem man Mühe hat herauszufinden, wie viele Menschen tatsächlich im eigenen Land leben. Sie ist auch nicht das einzige Land, dessen Politikerinnen und Politiker wohl oder übel über den nächsten Wahltermin hinaus planen müssen. Vaňo zufolge wird beispielsweise das Thema der Überalterung in einem Jahrzehnt kritisch werden, aber „für unsere Politiker ist das zu langfristig“. Das Problem sei, so Vaňo, dass sie in zehn Jahren feststellen werden, dass es zu spät ist, etwas zu unternehmen, die Sache aber eigentlich jetzt, da sie an der Macht sind, angegangen werden müsste.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 27. Jänner 2022 auf Reportingdemocracy.org einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Judah. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Illustration Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy
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