Vergessene Pioniere
Einst wollten die UdSSR mithilfe der Wissenschaft den Kalten Krieg auf intellektueller Ebene gewinnen. Was davon bis heute übrig blieb.
26. Februar 2020
Erstmals veröffentlicht
01. Juni 2018
Vor vierzig Jahren lag die Hoffnung der Sowjetunion auf ihren Schultern. Heute sind die Physiker und Kybernetiker Georgiens Relikte eines Kriegs, den man mit intellektuellen Konzepten gewinnen wollte. Sie arbeiten dennoch weiter – in der Hoffnung auf eine bessere Rente und den wissenschaftlichen Nachwuchs, der ihre Ideen in die Zukunft rettet.
Der Himmel über Tiflis ist so schmutzig wie die Straßen der Hinterhöfe. Das Wetterrad an der Brüstung dreht sich aufgeregt, weit darunter liegt die Stadt, die unter den blau-grauen Regenschleiern aussieht wie eine post-sowjetische Schüttelkugel. Wir steigen die Treppen hinab, vorsichtig an zerbrochenen Glasscheiben und rostigen Kanten vorbei. Unten stehen wir vor einer schweren Luke, die ins Innere des Turmes führt. Teimuraz Bliadze stemmt sich mit ganzer Kraft gegen das eiserne Verschlussrad. Kalte Luft schlägt uns entgegen, es riecht nach Sole und Rost. Als ich mich nach vorne beuge und in die Tiefe blicke, umfasst seine linke Hand fest meinen Oberarm. „Was ist das?“, frage ich. „Das ist die Wolke“, sagt er und lächelt. „Aber sie ist abgeschaltet, wir müssen Strom sparen“.
In den 70er Jahren, hätte man Teimuraz vielleicht für das schlechte Wetter verantwortlich machen können. Gemeinsam mit 100 Physikern arbeitete er damals hier im Institut für Wolkenforschung an der Erforschung von Hagel. Das Feld der Wettermanipulation war vielversprechend und wurde von Moskau mit üppigen Geldern bedacht. Die Physiker hatten die neuesten Messinstrumente, schossen Raketen in Gewitter und verfügten über Flugzeuge, mit denen sie die Wolken impfen konnten. Aber der Hagel entzog sich hartnäckig der wissenschaftlichen Feldarbeit, er zerstörte die Feininstrumente und machte Forschungsflüge unmöglich. Zudem war das Phänomen selten in Georgien, dafür aber umso bedrohlicher für die Kornkammer der Sowjetunion. Daher verlagerte man die Forschungen in den kontrollierbaren Raum des Labors und baute einen Turm, in dem man es hageln lassen konnte.
Große Ideen hatten in der Sowjetunion der Nachkriegszeit Konjunktur. Auch wenn der Sieg über Deutschland von den Mächtigen im Kreml als Triumph dargestellt wurde, hatte der „große vaterländische Krieg“ mit 20 Millionen Toten auf sowjetischer Seite doch gleichzeitig die Verwundbarkeit des Landes gezeigt und es zudem in eine schwierige geopolitische Situation gebracht. Der Vorsprung der USA zeigte sich vor allem in den überlegenen Kriegstechnologien: Düsenantrieb, Raketen, Radar und natürlich Atomwaffen. Mit der politischen Kontrolle über Länder wie Bulgarien, Ungarn oder die DDR hatten die Sowjets einen Gürtel errichtet, der zwar vor konventionellen Angriffen schützen würde, allerdings keine Sicherheit vor atomaren Waffen bot. Der nächste Krieg, das war den Machthabern im Kreml klar, würde durch die besseren Konzepte entschieden. Waren es kurz zuvor noch die Soldaten der roten Armee gewesen, die die sowjetische Idee in die Welt trugen, so rückten in den 50er Jahren die Wissenschaftler nach. Diese Pioniere sind heute alte Frauen und Männer, die den Glauben an die Bedeutung ihrer Arbeit über den Zusammenfall der Sowjetunion nicht verloren haben. Sie arbeiten weiter, in der Hoffnung auf eine bessere Rente und den wissenschaftlichen Nachwuchs, der ihre Ideen in die Zukunft rettet.
Das Innere der Wettermaschine erinnert ein wenig an ein gestrandetes Atom-U-Boot: Schneckenförmige Lüftungsrohe verbinden die Wetterkammer mit der Außenwelt, Messinstrumente mit milchigen Gläsern und verrostete Hebeln, offene Sicherungskästen, dazwischen eine Pinnwand mit vergilbten Schwarzweiß-Bildern. Auf den meisten ist Hagel zu sehen. Die Zeiten, in denen man Geld in teure Grundlagenforschung steckte, sind vorbei. Heute führt das Institut nur noch kleinere Messungen durch, die Pioniere der Wetterforschung forschen mit Instrumenten deren Beschriftungen noch auf Kyrillisch sind. Auf die Frage, warum die letzten drei Regierungen das Interesse am Hagel verloren hätten, bekommen wir nur eine ausweichende Antwort, vielleicht gebe es ja andere Felder, die wichtiger seien. Durch eine Türe verlassen wir das Innere des Turmes und betreten ein Gemeinschaftsbüro. Die Forscher, die uns freundlich empfangen, gehören wie Teimuraz zu den Pionieren, die damals das Wetter zähmen wollten. Altherrenhände werden uns zur Begrüßung hingestreckt, Stühle vor eine schmutzige Tafel geschoben. Einer der Alten beginnt einen Ad-Hoc-Vortrag über die Manipulation von Hagel. Sein Englisch ist bruchstückhaft, eigentlich besteht es nur aus Fachtermini, die er aneinanderreiht: „Thermal – under Archimedes- Force – temperature arise – condensation level. Vapor transfer into water particles.“ Mit abgehackten Bewegungen zeichnet er Hagelkörner in ein Gewitter aus Vektoren und Zahlen.
„Das ist die Wolke“, sagt er und lächelt. „Aber sie ist abgeschaltet, wir müssen Strom sparen“.
Betrachtet man heute die wissenschaftliche Agenda der sowjetischen Führung, kann man leicht den Eindruck bekommen, dass die Ideen in einem riesigen Land wie der Sowjetunion einfach nicht groß genug sein konnten. Ideen wie die Errichtung einer riesigen, atombetriebenen Pumpenanlage in der Beringstraße, mit der man die Ströme des Pazifiks kontrollieren und so das Wetter auf der Nordhalbkugel verbessern wollte. Im Rausch von Machbarkeitswahn und Futurismus erschienen selbst Projekte wie die Umleitung der sibirischen Flüsse in den Aralsee machbar. Dass dafür ein Stausee in der Größe Neuseelands hätte gebaut werden müssen, konnte den Pathos der Sowjets nicht bremsen. Auf der anderen Seite der Weltkugel machte dieser Forschungseifer einen gehörigen Eindruck. Die Strategen warnten Präsident Eisenhower vor einer neuen Form der Kriegsführung durch Wettermanipulation und in New York befürchtete man schon in den 50ern Fluten durch abgeschmolzene Polkappen.
„Wenn dieses Gespräch 40 Jahre früher stattgefunden hätte, wären wir alle ins Gefängnis gewandert,“ sagt Rafael Tkhuvaleli. Seine Hände streichen behutsam über ein in Leder gebundenes Buch. Auf die maschinenbeschriebenen Seiten sind kleine Schwarzweissbilder geklebt, auf denen geometrische Körper zu sehen sind. Beim Blättern fallen großformative Negative aus dem Band. „Das sind Hologramme von Flugkörpern, es könnten zum Beispiel Raketen sein,“ sagt Rafael. Gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern arbeitete er in den 1970ern an einem Programm, das eine schnelle Identifikation von Objekten in Bewegung ermöglichen sollte. „Aus Moskau habe ich sehr detaillierte Teilaufgaben bekommen. Aber ich habe nie den größeren Kontext erfahren, für den meine Arbeit gebraucht wurde. Das hatte natürlich System,“ sagt Rafael. Hinter ihm steht eine Reihe schwerer Metallregale, in denen Bücher, Papierrollen, Zettelkästen und Stapel aus dicht beschriebenem Rechenpapier ein ungleichmäßiges Muster bilden. Die andere Hälfte des Raumes wird von elektronischen Bauteilen beherrscht. Kabel, Spulen, Schalter und Lötkolben in wildem Durcheinander, zwischendrin offene Platinen und Schaltkreise. Im Kontrollzentrum der georgischen Kybernetik riecht es ein wenig nach der Eisenbahnplatte meiner Kindheit.
Die Abendsonne wirft das Schattenraster riesiger Baugerippe durch die Fenster. Zum Institut für Kybernetik kommt man derzeit nur durch ein Labyrinth aus Wellblechzäunen, das graue Gebäude kauert in der letzten Reihe einer Großbaustelle. Von den acht Stockwerken sind derzeit nur die unteren in Benutzung. Die oberen Etagen wurden von der Regierung vor einigen Jahren für Binnenvertriebene aus Abchasien und Südossetien freigestellt. Nun ist der Trakt wieder leer, nur ein paar ausrangierte Kühlschränke und Feldbetten in den Fluren wirken etwas deplatziert. Wir folgen Rafael durch die dunklen Gänge. Hier und da klopfen wir an und werden von freundlichen alten Herren zum Tee gebeten. Das Institut hat ein Nachwuchsproblem, die jüngsten Kybernetiker hier sind Anfang 50. Irgendwann stehen wir in einem kleinen Büro. Der Raum wurde fast vollständig geräumt, auf dem Boden liegen herausgerissene Blätter und Karteikarten, dazwischen Klemmbretter, Kabel und eine ausrangierte Gasmaske, über allem ruht eine sephiafarbene Decke aus Baustaub. „Hier habe ich über 30 Jahre gearbeitet, bis wir nach unten gezogen sind,“ sagt Rafael.
In den 1960ern war Rafael einer von fünf jungen Physikern, die ein Stipendium in Moskau bekamen. Als man ihm im Anschluss eine Stelle in seinem Heimatland anbot, zögerte er nicht, die Hauptstadt wieder zu verlassen: Das Institut für Kybernetik war damals eines der führenden Institute der Sowjetunion. Über 1000 Wissenschaftler forschten hier an Themen, unter denen sich die meisten ihrer Zeitgenossen nicht im Entferntesten etwas hätten vorstellen können. Allerdings gab es großes Interesse seitens der Machthaber, die in der Kybernetik militärisches Potenzial sahen. Die Geheimaufträge, an denen Rafael und seine Kollegen arbeiteten, kamen zwar aus Moskau, sie hätten aber genauso gut aus dem Zettelkasten von Stanisław Lem stammen können: Ein System, das aus der Mustererkennung von Gehirnströmen ableiten kann, ob der Fahrer eines Panzers kurz davor ist, einzuschlafen; Eine Karte des sibirischen Hinterlandes, die über den Abgleich von Satelitenbildern und regionalen Erzählungen den Standort von Diamanten voraussagen konnte. „Moskau mochte unsere Arbeit, wir waren in der ganzen UdSSR angesehene Wissenschaftler“, sagt Rafael und in seinen Augen ist ein Flackern zu sehen.
Im Kalten Krieg zwischen den Großmächten war die Kybernetik das heißeste Eisen. Das Verständnis komplexer Systeme als ,Regelkreise‘, die sich beobachten und steuern lassen, entwickelte sich in den 50er Jahren zu einer Denkrichtung, deren postmodernem Charme sich kaum eine Disziplin entziehen konnte: In der Biologie begann man die Interaktionen zwischen Zellen und ihrer Umwelt zu erforschen, in der Psychologie machte sich die Idee vom menschlichen Geist als Informationsmaschine breit und in der Informatik begann man mit der Entwicklung dezentraler Netzwerke. In Amerika formierte sich die Kybernetik um den exzentrischen Mathematiker Norbert Wiener und befand sich damit im Gravitationsfeld des schon damals legendären Massachusetts Institute of Technology.
Tür an Tür mit den Kybernetikern entstand noch ein anderes ehrgeiziges Projekt, dessen Leiter zu den begeisterten Teilnehmern von Wieners Kolloquien gehörte: Gemeinsam mit seiner Forschungsabteilung und ausgestattet mit Geldern des Verteidigungsministeriums arbeitete der Informatiker Joseph Carl Robnett Licklider an einem Recherchenetzwerk, das die Großrechner der amerikanischen Universitäten miteinander verbinden sollte. Ein dezentrales System, in dem sich die Informationen selbst ihren Weg zum nächsten Knotenpunkt suchen würden. Ein System, das sich optimal für die Verteilung von universitärem Wissen eignet, das aber ebensogut auch als militärisches Netzwerk dienen könnte, weil es im Falle eines russischen Erstschlages noch in der Lage wäre zu reagieren. Während Rafael im geschlossenen System seines Tifliser Instituts an Teilaufgaben forschte, die mit der Geheimpost aus dem Kreml kamen, arbeiteten seine transatlantischen Kollegen in interdisziplinären Think Tanks an den gleichen Fragen unter anderen politischen Vorzeichen. Die Geschichte sollte sich auf die amerikanische Seite schlagen: Zehn Jahre nachdem die Sowjets den ersten Satelliten ins All geschossen hatten, hatte sich der Westen bereits vom Sputnik- Schock erholt. Aber genau genommen waren es im Jahr 1969 nicht Neil Armstrong und Buzz Aldrin, die Geschichte schrieben, sondern die Schüler der amerikanischen Kybernetikpioniere, die das Arpa-Net online schalteten und damit das Zeitalter des Internet einleiteten.
„Im Westen würden unsere Forschungsergebnisse nur gelten, wenn man sie mit aufwändigen Verfahren testen würde. Aber wenn ein Patient krank ist, hat man keine Zeit für teure Experimente.“
Das Schattenmuster auf Rafaels Schreibtisch wird langsam vom Schein der Neonröhren verschluckt. „Ich bin wirklich sehr traurig darüber, dass die Kybernetik in Georgien auf den Schultern von einigen alten Herren liegt,“ sagt er. Seit vielen Jahren hangelt sich der 79-Jährige mit kleinen Forschungsaufträgen durch. Letztes Jahr wurde sein Gehalt etwas angehoben, davor war es schwer die Wohnung zu bezahlen in der er gemeinsam mit seinem Bruder lebt. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs hat sich die Situation der georgischen Wissenschaft drastisch verändert. Waren in der Sowjetunion zwei Drittel der Forschung vom Militär finanziert, versiegte mit dem schrumpfenden Verteidigungshaushalt in den 90er Jahren die wichtigste Einnahmequelle der angewandten Forschung. Gleichzeitig stehen die sowjetischen Pioniere plötzlich in einem weltweiten Wettbewerb, dessen Regeln der Westen geschrieben hat. Die internationale Verständigung leidet darunter, dass die Mehrzahl der sowjetischen Forschungsergebnisse nie ins Englische übersetzt wurden und sich im Westen andere empirische Verfahren zur Überprüfung von Ergebnissen durchgesetzt hatten. Die größere Kluft tut sich aber zwischen den verschiedenen Ideologien auf: Auf beiden Seiten stellte sich die Forschung zwar in den Dienst des Staates, aber die sowjetischen Pioniere standen – anders als ihre Kollegen in den USA – vor der Frage, wie sich das Wissen der letzten beiden Forschergenerationen unter andern politischen Vorzeichen weiterführen lassen würde.
„Im Westen würden unsere Forschungsergebnisse nur gelten, wenn man sie mit aufwändigen Verfahren testen würde“, sagt Inga Giorgadze. „Aber wenn ein Patient krank ist, hat man keine Zeit für teure Experimente.“ Die Professorin leitet das Labor des Eliava Institutes für Bakteriophagenforschung in Tbilisi. Sie hat die Aufgabe von ihrem Vater übernommen, der in den 1920er Jahren zu den Pionieren der Mikrobiologie gehörte. Bakteriophagen sind hochspezialisierte Viren, die sich ausschließlich von Bakterien ernähren. Damit können sie prinzipiell alle bakteriellen Krankheiten heilen, von der einfachen Magendarm-Infektion bis hin zum Milzbrand. Als Kind strich Inga über das riesige Gelände und ritt auf den Pferden, aus deren Urin die Ärzte Seren gegen Tetanus herstellten. Wenn sie sich das Knie aufschlug oder aus einer dreckigen Pfütze getrunken hatte, zitierte der Vater sie in sein Büro und gab ihr trüben Phagensaft zum Trinken. Dass sie das Institut in den 90ern erfolgreich in die Privatisierung führen konnte und heute mit Menschen zusammenarbeitet, die ihre Enkel sein könnten, ist auch ein Teil der georgischen Wissenschaftsgeschichte. Ihr wichtigstes Kapital sind die über 1200 Phagenstämme, die seit über einem Jahrhundert wie ein gut gekühlter Schatz in den Kellern des Instituts lagern.
Tbilisi – Archive of Transition
Die georgische Hauptstadt erwacht gewissermaßen jeden Morgen mit einem neuen Gesicht. Ambitionierte Bauprojekte und ausländische Großinvestitionen verändern das Stadtbild von Tiflis kontinuierlich. Unter den Bewohnern führt diese unaufhaltsame Entwicklung zu einer anhaltenden Diskussion: Was soll erhalten bleiben und was darf dem Wandel unterliegen? Was steht zum Verkauf und was ist Allgemeingut? Was wollen wir erinnern und woraus schöpfen wir?
Stadtplaner, Architekten und Aktivisten erzählen, was die Veränderungen für sie und das Leben in der faszinierenden Stadt im Kaukasus bedeuten. Die ganz unterschiedlichen und eindrucksvoll bebilderten Beiträge dokumentieren unmittelbar den vielfältigen Wandel zwischen Festhalten an der Vergangenheit und Aufbruch in eine neue Zeit. Diese Reportage von Sebastian Pranz und Fabian Weiss entstand im Rahmen des Buchprojekts Tbilisi – Archive of Transition.
Es war der georgische Bakteriologe Giorgi Eliava, der die Phagenforschung Anfang der 20er Jahre des letzten Jahrhunderts aus Frankreich nach Georgien brachte. Stalin war so angetan, dass er dem jungen Forschungszweig ein komplettes Institut spendierte. Die nächsten 20 Jahre wurden zur Blütezeit der Forschung, neben Georgien waren auch Frankreich und die USA involviert – ein richtiges Volksmedikament wurden die Phagen allerdings nur in der UdSSR. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, und in den Lazaretten Wunderkrankungen grassierten, sattelte der Westen auf ein anderes Mittel um, das gerade markttauglich geworden war: Penizilin. Weil die Herstellung von Antibiotika teuer war, und wichtige Patente im Westen lagen, behandelte die Sowjetunion bakterielle Infekte jedoch weiterhin vor allem mit Phagen – und war dabei sehr erfolgreich. Und so wurde Georgien mit dem Einbruch des Krieges zum wichtigsten Land der Bakteriophagenforschung. Eine Zeitkapsel, in der Eliavas Phagen den Zweiten Weltkrieg und die Wirren der Unabhängigkeit überdauerten.
Auf dem Tisch vor mir liegen mikroskopische Schwarzweißaufnahmen von Bakteriophagen, als wären es die Bilder der jüngsten Enkelkinder. Die Nachzucht ist der ganze Stolz der Forscherinnen, wunderschöne Exemplare hätten sie bereits in ihrer Sammlung.
Hilft ein Standardmedikament nicht, entwicklen die Forscher um Giorgadze einen spezialisierten Phagenstamm, so wächst das gekühlte Archiv in den Kellern des Instituts. Der über 100 Jahre ausgebaute Wissensvorsprung könnte sich bald lohnen, denn das Interesse an der Phagentherapie erwacht wieder – nicht zuletzt befeuert durch eine zunehmende Angst vor multiresistenten Erregern.
Dort wo Antibiotika nicht mehr helfen, können Phagen wahre Wunder bewirken ohne zu neuen Resistenzen zu führen. „Letzte Woche hatten wir einen Patienten aus Deutschland hier“, sagt die Professorin. „Er kam mit einer üblen Wundinfektion im Bauch. In Heidelberg wollte man ihm bereits Muskelfleisch entnehmen, aber ich sagte ihm: Wenn Sie tun, was ich sage, wird es Ihnen bald besser gehen.“ Die Nachfrage am deutschen Markt wächst, auch wenn die Behandlung mit Phagen dort derzeit noch nicht erlaubt ist. „Als wir ihn nach zwei Wochen nach Hause schickten, sind unsere deutschen Kollegen fast vom Glauben abgefallen,“ sagt sie und ihr Gesicht legt sich in tiefe Lachfalten.
„Wie lange werden Sie noch arbeiten?“, frage ich Inga zum Abschied. Sie nimmt die Brille ab und blickt mich aufmerksam an. „Das werden wir sehen. Wenn Gott mir noch ein wenig Zeit gibt … Wissen Sie, wenn man sich seiner Aufgabe nicht voll und ganz widmet, bringt man es doch zu nichts.“ Auch Rafael wird weiter jeden Morgen zu seinem Büro laufen, durch ein Labyrinth aus Baustellen das der Komplexität eines kybernetischen Schaltplans in Nichts nachsteht. Er hat noch viele Ideen, mehr als in ein Forscherleben passen. Gerade hat er der Regierung das Konzept für ein Informationszentrum vorgestellt, in dem die seismografischen Daten des Landes zusammengeführt werden sollen. „Die Zukunft der künstlichen Intelligenz liegt in der Früherkennung von Naturkatastrophen“, sagt er. Die letzten Finanzierungen, die in Aussicht standen, scheiterten jedoch an der Auflage, dass junge Forscher mit eingebunden werden sollten. Aber bald soll das Institut renoviert werden, es soll neue Büros geben und ein Informationszentrum. Dann werden auch junge Menschen kommen, da ist sich Rafael sicher. Und dann wird die Kybernetik aufs Neue ihre Zauberkraft entfalten.
Das Institut für Wolkenforschung arbeitet inzwischen nur noch an kleineren Teilaufgaben und führt atmosphärische Messungen für die Versuche anderer Institute durch. „Die Wissenschaft ist ein teures Vergnügen“, sagt Teimuraz. „Natürlich hätten wir gerne mehr Möglichkeiten, aber wir sind zufrieden mit dem, was wir haben.“ Über 30 Jahre hat er hier gearbeitet, seine größte Errungenschaft ist die Konstruktion der Wetterkammer. „Manchmal habe ich das Gefühl, wir haben damals etwas geschaffen, das wir bis heute noch nicht vollständig verstanden haben“, sagt Teimuraz. Dann erzählt er von den Cumuluswolken und ihrer komplexen Schönheit während draußen der Regen auf die Wettermaschine trommelt.
Erstmals publiziert im Juni 2018 in der Publikation Tbilisi – Archive of Transition.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Sebastian Pranz / Braun Publishing AG / Niggli Verlag. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Eliava Institut für Bakteriophagen, Tiflis. Foto: © Fabian Weiss