Rollenvorbild?
Sloweniens steigende Bevölkerungszahlen täuschen über demografische Probleme hinweg.
17. September 2020
Erstmals veröffentlicht
18. Juni 2020
Quelle
Slowenien gehört zu den wenigen ehemals kommunistischen Ländern Europas, deren Bevölkerung wächst: Doch warum kommt bei Demografen trotzdem keine Jubelstimmung auf?
Von der Adria bis zum Schwarzen Meer zeichnet sich die gleiche demografische Abwärtsspirale ab: Die Bevölkerung altert und allerorts werden mehr Särge als Wiegen gebraucht. Viele wandern aus, es fehlt an Zuwanderung. Ein Bevölkerungsrückgang ist die Folge. Und dann ist da noch Slowenien.
Anfang 2020 betrug die Einwohnerzahl Sloweniens nach Angaben des nationalen Statistikamts 2.096.000, was einem Zuwachs von knapp 15.000 im Vergleich zum Vorjahr entspricht. Als das Land 1991 unabhängig wurde, lebten in Slowenien rund zwei Millionen Menschen, die Bevölkerungszahl ist also bis 2020 um knapp fünf Prozent gestiegen. Slowenien ist damit eines von nur wenigen ehemals kommunistischen Ländern, dessen Bevölkerung wächst und in dem heute mehr Menschen leben als noch vor 30 Jahren.
EUROPE’S FUTURES
Europa erlebt seine dramatischste und herausforderndste Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Das europäische Projekt steht auf dem Spiel und die liberale Demokratie wird sowohl von innen als auch von außen gefordert. Von allen Seiten der staatlichen und nicht-staatlichen Akteure ist es dringend erforderlich, sich mit den brennenden Problemen zu befassen und das, was durch das politische Friedensprojekt sorgfältig erreicht wurde, zu bekräftigen.
Zwischen 2018 und 2021 engagieren sich jedes Jahr sechs bis acht führende europäische Expertinnen und Experten als Europe’s Futures Fellows. Sie schaffen damit eine einzigartige eine Plattform der Ideen, um grundlegende Maßnahmen zu präsentieren, deren Ziel es ist, die Vision und Realität Europas zu stärken und voranzutreiben. Europe’s Futures basiert auf eingehenden Untersuchungen, konkreten politischen Vorschlägen und dem Austausch mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, dem öffentlichen Diskurs und Medien.
Angesichts der sich abzeichnenden künftigen staatlichen Aufwendungen für Pensionen und andere Sozialleistungen ist allen europäischen Ländern daran gelegen, dass ihre Bevölkerungen wachsen. In Slowenien ist man aber weit davon entfernt, in Jubelstimmung auszubrechen. Hinter Sloweniens Schlagzeilen zum Bevölkerungszuwachs verbergen sich gravierende demografische Probleme.
Wie alle anderen Europäerinnen und Europäer werden auch die Menschen in Slowenien immer älter. Die Lebenserwartung liegt bei 81,5 Jahren und ist damit etwas höher als der EU-Durchschnitt und auch höher als in allen anderen ehemals kommunistischen Ländern Europas.
Das Nachbarland Kroatien beispielsweise liegt diesbezüglich mit 78,2 Jahren weit zurück. In Slowenien sterben mehr Menschen als geboren werden – 2018 betrug die Differenz 900 – und obwohl die Fertilitätsrate slowenischer Frauen in den letzten Jahren auf 1,62 gestiegen ist und über dem EU-Durchschnitt von 1,55 liegt, ist das weit unter dem für den Erhalt einer Bevölkerung notwendigen Wert von 2,1.
Die steigende Fertilitätsrate Sloweniens bedeutet jedoch nicht, dass mehr Babys geboren werden, sondern ist darauf zurückzuführen, dass die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter, anhand derer sie berechnet wird, sinkt, wodurch die Rate steigt. Der Bevölkerungszuwachs in Slowenien ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass man zumindest bis zum Auftreten des Coronavirus aufgrund des Arbeitskräftemangels so viele ausländische Arbeitskräfte wie möglich ins Land geholt hat.
Gleichzeitig sank im Jahr 2019 die Anzahl der in Slowenien ansässigen Staatsbürgerinnen und -bürger um rund 3.200, während die Zahl ausländischer Personen um beinah 18.200 zunahm und ihr Anteil an der Bevölkerung mittlerweile 7,5 Prozent ausmacht. 86,4 Prozent aller Ausländerinnen und Ausländer stammen aus anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien, davon kommen 54 Prozent aus Bosnien. Im Jahr 2018, dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen, immigrierten 28.455 Personen nach Slowenien, darunter rund 4.300 Bürgerinnen und Bürger, die in ihre Heimat zurückkehrten, während 13.527 das Land verließen, von denen knapp die Hälfte slowenischer Nationalität waren. In Summe gab es also 14.928 mehr Zu- als Auswanderer. Ohne diese Nettozuwanderung würde die Bevölkerung des Landes abnehmen.
Betrachtet man die Entwicklung der slowenischen Bevölkerung in den letzten drei Jahrzehnten, so lassen sich in den 1990er-Jahren ungewöhnliche Schwankungen der Gesamtzahl feststellen, was vor allem auf unterschiedliche Zählweisen zurückzuführen ist. So wurden etwa Tausende ehemalige Jugoslawinnen und Jugoslawen, die nach der Unabhängigkeit nicht die slowenische Staatsbürgerschaft angenommen oder sich als Ausländer registriert hatten, aus der Gesamtbevölkerung „gelöscht“ und erst später wieder dazugezählt.
Tatsächlich ist die Bevölkerung des Landes bei rund zwei Millionen bemerkenswert stabil geblieben, hat aber dank der Zuwanderung in den letzten Jahren zugenommen. In den meisten anderen Ländern lässt sich die Zahl der Abwanderungen nur schwer feststellen. Slowenien verfügt jedoch über weitaus bessere Daten, weil die Zählung mittels Bevölkerungsregister erfolgt und jede Person verpflichtet ist, ihren Wohnsitz anzumelden und sich bei einer Übersiedlung ins Ausland abzumelden.
Dies lässt zwar weiterhin Spielraum für Fehler, einschließlich einer Grauzone, was ausländische Arbeitnehmer wie Bosnier betrifft, die mit Wohnsitz in Slowenien gemeldet sind, tatsächlich aber nach Deutschland oder in ein anderes EU-Land „entsandt“ werden. Danilo Dolenc, Leiter der Abteilung für Bevölkerungsstatistik im slowenischen Statistikamt meint jedoch: „Wir wissen, dass es ein Übermaß an Registrierungen gibt, weshalb die Bevölkerungszahl zu hoch geschätzt wurde. Dabei handelt es sich aber um weniger als ein Prozent.“
Der kritische Punkt sei laut Alenka Kajzer vom Institut für makroökonomische Analysen und Entwicklung (UMAR), dass die Gesamtbevölkerungszahl zwar mehr oder weniger stabil ist, nicht aber ihre Struktur. Die Zahl der Über-65-Jährigen „nimmt stark zu“. Im Jahr 1990 machte ihr Anteil 10,6 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, hat sich aber seither auf knapp 19 Prozent beinahe verdoppelt und wird Kajzer zufolge bis 2030 voraussichtlich auf etwa 25 Prozent anwachsen. Gleichzeitig schrumpft die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (zwischen 20 und 64 Jahren), insbesondere seit 2012.
„Sie wollen einfach ein besseres Leben“
Slowenien hat mit 22.080 Euro das höchste Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt aller ehemals kommunistischen Länder der EU. Das Land wird gut verwaltet, die Lebensqualität ist hoch. Und doch wollen viele junge Sloweninnen und Slowenen noch immer auswandern, wobei die meisten Arbeit in Deutschland und Österreich suchen, wo das Pro-Kopf-BIP etwa doppelt so hoch ist.
Der Grund, warum Menschen ihr Heimatland verlassen, liege laut Mirjam Milharčič Hladnik vom slowenischen Migrationsinstitut zwar meist in der Suche nach einem höheren Lebensstandard, oft aber auch darin, sich der erdrückenden Kontrolle durch die Familie zu entziehen.
Slowenien sei ein Land, in dem „die Dörfer und Städte klein sind“. Ehrgeizige junge Menschen wollen dort nicht leben und schon gar nicht dem Klischee entsprechen, die hundertste Generation in ihrem Dorf zu sein.
Junge Menschen wollen hinaus in die Welt, „heute wie damals“, so Milharčič Hladnik.
Milharčič Hladnik ist Koautorin eines neuen Buchs über die Geschichte der slowenischen Migration. Der Wunsch auszuwandern sei tief in der slowenischen Tradition verwurzelt, meint sie. In den hundert Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg verließen rund 440.000 Menschen die von ihr als „slowenische Gebiete“ bezeichneten Regionen, zu denen das heutige Slowenien sowie einige angrenzende Landstriche zählen – etwa die Gegend um den italienischen Hafen Triest.
Auch das ist nur eine grobe Schätzung, da sie die Rückkehrer nicht inkludiert, sehr wohl aber Personen italienischer, deutscher oder anderer Nationalität, die hier lebten. Ihrer Meinung nach sei dies jedoch ein Indiz dafür, dass diese Region einst „eine der höchsten Abwanderungsraten der Geschichte“ aufwies.
Vor dem Zweiten Weltkrieg verließen die Menschen das Land, weil sie arm oder verschuldet waren, infolge von Erbrechten und aus vielen anderen Gründen. Heute kommen Bosnier, um in Slowenien zu arbeiten, wohingegen nach der Eroberung Bosnien-Herzegowinas durch die Habsburger 1878 Slowenen in Bosnien als Bergleute und Waldarbeiter tätig waren.
Vor dem Ersten Weltkrieg zogen die florierenden Städte Triest und Wien viele Menschen nahezu magnetisch an. Darüber hinaus emigrierten Sloweninnen und Slowenen vor allem in die Vereinigten Staaten und nach Argentinien. Als die USA 1924 der Masseneinwanderung ein jähes Ende setzten, gingen sie nach Deutschland, Belgien und Frankreich.
Fast ein Jahrhundert lang, bis 1956, gab es in Ägypten, insbesondere in Alexandria, eine prosperierende, zum Großteil aus Frauen bestehende slowenische Gemeinschaft aus der Region Goriška. Die als Aleksandrinke bekannten Frauen waren häufig als Kindermädchen für europäische Familien tätig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg flohen etwa 25.000 vor der vorrückenden kommunistischen Armee von Josip Broz Tito, und weitere 45.000 passierten zwischen 1945 und 1962 illegal die Grenze. Zur gleichen Zeit flohen Italiener aus Istrien und dem Gebiet der heutigen slowenischen Küste, die zwischen den Kriegen zu Italien gehörten.
Einige Slowenen kamen auch aus Italien ins Land. Sie spielten eine wichtige Rolle bei der Wiederbevölkerung von Städten wie dem einst mehrheitlich italienischsprachigen Koper (Capodistria), ebenso wie Slowenen, die man dazu anregte, aus dem Landesinneren an die Küste zu ziehen.
Im kommunistischen Jugoslawien nahm der Wohlstand Sloweniens zu, viele zog es aber weiterhin zum Arbeiten in andere Teilrepubliken. Ab Mitte der 1960er-Jahre gingen Slowenen, wie andere Jugoslawen auch, als Gastarbeiter in Länder wie Deutschland. Ab den 1970er-Jahren kamen aber auch Jugoslawen aus den ärmeren Republiken in die neuen Industriestädte Sloweniens, um dort zu arbeiten.
Die Art der Migration nach und aus Slowenien mag sich mittlerweile geändert haben, aber laut Milharčič Hladnik würden die Menschen auch heute das Land aus den gleichen Gründen wie früher verlassen: „Sie wollen einfach ein besseres Leben.“
In ganz Europa altert die Bevölkerung, Slowenien bildet in dieser Hinsicht also keine Ausnahme. Heute liegt der Anteil der Über-65-Jährigen noch unter dem EU-Durchschnitt, was sich aber laut Kajzer ändern werde.
In zehn bis zwanzig Jahren werden im Land viel mehr ältere Menschen leben als im EU-Durchschnitt, wodurch mit einem der „größten Anstiege altersbedingter Ausgaben“ (Pensionen, Pflege) in Europa zu rechnen ist.
Und dies „ist nicht nur auf demografische Veränderungen zurückzuführen, sondern auch der Tatsache geschuldet, dass unser Sozialversicherungssystem nicht an die neue demografische Situation angepasst ist.“
Aus einem Bericht des UMAR aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass die altersbedingten öffentlichen Ausgaben nach derzeitigen Prognosen bis 2060 ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts ausmachen und somit EU-weit zu den höchsten zählen werden. Das Pensionssystem sei „bereits jetzt nicht mehr nachhaltig“ und das Land habe „kein umfassendes System der Langzeitpflege“, so der Bericht weiter.
Im Jahr 2017 war das UMAR an der Ausarbeitung einer Strategie beteiligt, mit der man den Problemen der alternden Bevölkerung Sloweniens begegnen wollte.
Das Institut stellte fest, dass die Ausgaben für Pensionen „EU-weit am schnellsten ansteigen“ würden und angesichts ihres relativ niedrigen Niveaus sich die Armutsgefährdungsquote von Pensionistinnen und Pensionisten „zu verschärfen“ drohe.
„Leider“, so Kajzer, wurden bislang noch keine Änderungen zur Bewältigung der sich anbahnenden Krise beschlossen, und „breit angelegte Aktionspläne“ seien „noch in Vorbereitung“.
Laut Damir Josipović vom Institut für ethnische Studien würden Sloweniens drohende demografische Probleme dadurch verschlimmert, dass aufeinanderfolgende Regierungen versucht hätten, diese anhand zweier großer Programme in Angriff zu nehmen, die Elemente des Social Engineering beinhalten.
Ein Problem besteht darin, dass infolge des Versuchs, mehr junge Menschen in die Beschäftigung zu bringen, rund 300.000 Personen unter 65 Jahren – viele zwischen 50 und 60 – bereits im Ruhestand sind. Dies bedeute, dass Sloweniens Pensionssystem schon jetzt unter einer „gewaltigen Last“ leide, so Josipović.
Das zweite Problem sei die nach der Unabhängigkeit von den Regierungen unterstützte enorme Ausweitung der Hochschulbildung.
Dies habe mittlerweile zur Folge, dass Sloweninnen und Slowenen zwar über eine gute Ausbildung verfügen, aber nur wenige von ihnen in der Lage bzw. bereit seien, beispielsweise im Baugewerbe oder in der Fertigungsindustrie zu arbeiten.
Es gibt außerdem zu viele gut ausgebildete Hochschulabsolventinnen und -absolventen für zu wenig Arbeitsplätze, deren Anforderungen ihren Qualifikationen entsprechen, sodass manche eine Arbeit annehmen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind, was einen Verlust von Humankapital darstellt.
Doch während die Zahl der Sloweninnen und Slowenen im erwerbsfähigen Alter naturgemäß abnimmt, ist der vergleichsweise Mangel an Arbeitsplätzen für Personen mit höherer Bildung ebenfalls ein wichtiger Faktor bei der Arbeitssuche im Ausland.
Gleichzeitig werden einige dieser Arbeitsplätze von Einwanderern besetzt, die angesichts einer ähnlich schwierigen Situation in ihren Heimatländern diese Stellen annehmen, auch wenn sie vielleicht unter ihren Qualifikationen liegen.
Dies, so Mirjam Milharčič Hladnik vom slowenischen Migrationsinstitut, habe zur Entwicklung von Stereotypen geführt, d.h., dass gut ausgebildete Slowenen auswandern und schlecht ausgebildete Bosnier, Mazedonier u.a. „nach Slowenien kommen, um Straßen zu bauen“.
Tatsächlich zeigen die Daten der vergangenen Jahre, dass Immigranten und slowenische Auswanderer einen „sehr ähnlichen“ Bildungshintergrund aufweisen.
Die Zu- und Abwanderungszahlen korrelieren jedoch mit der Wirtschaftsentwicklung. Zwischen 2010 und 2017 entsprach die Zahl der Menschen, die nach Slowenien kamen, in etwa der Zahl jener, die das Land verließen.
Als sich die Wirtschaft 2018 endlich von der Krise 2008 erholt hatte, stiegen die Zuwanderungszahlen sprunghaft an.
Heute ist keineswegs klar, wie lange die Auswirkungen des Coronavirus noch spürbar sein werden, eine schrumpfende Wirtschaft wird jedoch zwangsläufig wieder zu einer rückläufigen Zahl von Zuwanderern führen.
Laut Kajzer weisen Fallberichte darauf hin, dass „viele“ ausländische Arbeitnehmer bereits in ihre Heimat zurückgekehrt waren, als der Lockdown begann.
Unterschiedliche Prognosen gehen davon aus, dass die Bevölkerung Sloweniens im Gegensatz zu allen anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien und beinah allen Ländern des ehemals kommunistischen Europas bis 2050 nicht dramatisch zurückgehen wird. Sie wird entweder leicht wachsen oder bei rund zwei Millionen stagnieren. Woran sich jedoch nichts ändern wird, ist die zunehmende Überalterung der slowenischen Bevölkerung.
Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 18 Juni 2020 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
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