“Die Wahrheit ist wichtig für zukünftige Generationen!”

Slavenka Drakulić über den Angriffskrieg in der Ukraine und über ihre Erfahrungen aus den Jugoslawienkriegen: Kriegsverbrechen gehören auch deshalb vor Gericht, damit die Wahrheit über den Krieg bestätigt wird.

Die renommierte kroatische Journalistin und Schriftstellerin Slavenka Drakulić stellt die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien, mit denen sie sich intensiv beschäftigt hat, den Verbrechen gegenüber, die die russische Armee gegenwärtig in der Ukraine verübt.

Slavenka Drakulić schildert in ihrem Buch Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht Schicksale von mehr oder weniger bekannten Beteiligten an Verbrechen während der Kriege in Ex-Jugoslawien, wofür sie Materialien und Verhandlungsakten des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag detailliert ausgewertet hat.

In ihren Geschichten verweist sie auf die Psychologie manipulierter Staatsbürger – damals hatten ganz normale Leute, die eigentlich Kellner oder Fischer von Beruf waren, ihre Sensibilität verloren und waren plötzlich fähig, noch die abscheulichsten Dinge zu tun: ihre einstigen Landsleute oder Nachbarn zu foltern, zu vergewaltigen und zu töten – nur weil sie einer anderen Ethnie angehörten.

„Ich hoffe, das ist mein letztes Buch vom Krieg“, hatte die Schriftstellerin 2004 gesagt. „Wer hätte damals geglaubt, dass mein Buch wieder so aktuell sein wird?“, äußerte sie jetzt gegenüber der slowakischen Tageszeitung Denník N.


Schon vor dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine hatten Sicherheitsorgane mehrerer Staaten auf Verlautbarungen der russischen Propaganda hingewiesen. Sie, Frau Drakulić, erinnern daran, dass gerade der Missbrauch von Medien durch Politiker auch zum Krieg in Ex-Jugoslawien geführt hat. Worin sind Ihrer Meinung nach – abgesehen von den neuen Technologien – die damaligen Kampagnen mit der gegenwärtigen Propaganda Russlands vergleichbar, und worin liegen die Unterschiede?

Wir haben es hier mit dem gleichen Vorgehen, den gleichen Prinzipien, den gleichen Zielen zu tun. Unterschiedlich ist nur der Kontext in den jeweiligen Ländern, wo zu solchen Methoden gegriffen wird. Ein grundlegendes Ziel von Propaganda ist es, einen Unterschied zwischen „uns“ und „denen da“ zu kreieren. Wenn man klar benennt, wer „die da“ sind, braucht man sie nur noch zu Feinden zu machen, ihnen das Menschliche abzusprechen. Das ist eine Vorbereitung auf den Krieg, in dem ein Soldat nicht mehr wahrnimmt, dass er andere Menschen tötet, ob nun Kämpfer oder Zivilisten, er muss so programmiert sein, dass er Nicht-Lebewesen vernichtet.

“Die explosivste Kriegspropagandamischung entsteht aus historischen Halbwahrheiten unter Hinzufügung von ein paar nationalen Mythen, Vorurteilen, Lügen und Versprechungen.”

Ich habe gesehen, wie die Propaganda im ehemaligen Jugoslawien funktioniert hat. Letzten Endes hatten wir in jedem der früheren kommunistischen Länder eine offizielle Geschichtsschreibung, die von der kommunistischen Partei kontrolliert wurde. Je weniger Menschen die Wahrheit und die Fakten kennen, desto einfacher lassen sie sich manipulieren. Die explosivste Kriegspropagandamischung entsteht aus historischen Halbwahrheiten unter Hinzufügung von ein paar nationalen Mythen, Vorurteilen, Lügen und Versprechungen. Natürlich ist so etwas in einem totalitären Regime leichter als in einer Demokratie. Das Wesen von Propaganda ist aber immer gleich und sie lässt sich auch im Westen gut nutzen. Erinnern Sie sich noch an Donald Trump und Fox News?

Sie haben geschrieben, dass die Welt der Ukraine wesentlich mehr Aufmerksamkeit widmet als vor Jahren den Balkankriegen. Haben Sie den Eindruck, dass die internationale Gemeinschaft etwas aus den damaligen Fehlern gelernt hat? Erwarten Sie, dass sie noch nennenswert eingreifen wird, nicht erst nach einem dramatischen Zuwachs der zivilen Opferzahlen?

Leider lernen wir nichts aus der Geschichte, oder zumindest nicht genug. Eine historische Parallele zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien ist nur bis zu einem gewissen Punkt möglich. Obwohl Putins Strategie derjenigen ähnelt, die Slobodan Miloševič angewandt hat, ist Russland im Unterschied zu Serbien eine militärische Großmacht, die durch ihr Kernwaffenarsenal besonders gefährlich ist. Die Europäische Union hat in den Neunzigerjahren den Kriegen in Jugoslawien keine große Aufmerksamkeit geschenkt, denn diese Kriege haben für niemanden außer für die kämpfenden Parteien eine Bedrohung dargestellt. Im Unterschied dazu ändert dieser Krieg schon jetzt die politischen Kräfteverhältnisse und das alltägliche Leben der Menschen. Die Politiker müssen ihn ernst nehmen. Ob das allerdings zu einem direkten Eingreifen führen könnte, zum Beispiel durch NATO-Staaten? Da habe ich große Zweifel.

Sie haben über Akteure bei Massenverbrechen auf dem Balkan geschrieben, die an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag übergeben worden sind. Wie schätzen Sie die aktuellen Bemühungen ein, Kriegsverbrechen in der Ukraine zu dokumentieren?

Ich bin froh, dass die Verbrechen russischer Einheiten in der Ukraine, wie etwa in Butscha, bereits jetzt vom Internationalen Strafgerichtshof untersucht werden. Der führende Völkerrechtsexperte Philippe Sands setzt sich für die Schaffung eines Sondertribunals für die Verbrechen dieses Angriffskriegs ein. Dass Kriegsverbrecher tatsächlich vor Gericht landen, wäre aus mindestens zwei Gründen enorm wichtig: die Fakten würden eindeutig bestätigt und es würde Gerechtigkeit geübt. Das Haager Tribunal hat im Endeffekt Prozesse gegen lediglich zweihundert Verbrecher geführt, trotz tausender von Verdächtigen. Es war physisch unmöglich, dass sich alle einem solchen Prozess stellen konnten.

Das Tribunal hat allerdings etwas sehr Wichtiges für unsere Zukunft erreicht: Dank der Überprüfung aller Details im Verlauf der Verhandlungen ist die Wahrheit über die Ereignisse, die sich zugetragen haben, bestätigt worden. Nehmen wir nur einmal das Massaker an 8.000 Männern und Jungen in Srebrenica 1995. Wenn wir die Definition der Wahrheit Serbien überlassen hätten, dann hätte es gar kein Massaker gegeben. Erst 2010 hat das serbische Parlament unter Druck eine Erklärung veröffentlicht und sich für Srebrenica entschuldigt. Ähnliche Beispiele gab es auf allen an den Kämpfen beteiligten Seiten. Die Wahrheit ist wichtig für zukünftige Generationen, ähnlich wie die Lehre, dass Kriegsverbrechen bestraft werden müssen und dass es dafür nie zu spät ist, in einem ähnlichen Geist wie in Nürnberg. Der Unterschied ist bloß, dass allein Deutschland enorme Anstrengungen entfaltet hat, seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Das lässt sich von keiner anderen Gesellschaft behaupten.

Sie selbst betonen den Unterschied zwischen kollektiver Verantwortung und kollektiver Schuld, da eine Schuld lediglich von einem Gericht erklärt werden kann, und zwar im Fall eines jeden Individuums. Wie ist das in den Staaten Ex-Jugoslawiens – ist dort nach all den Jahren auf gesamtgesellschaftlicher Ebene die eigene Verantwortung anerkannt worden? Was benötigt eine Gesellschaft dafür, was würde beispielsweise Russland benötigen?

Vor zehn, fünfzehn Jahren, als Europa die Kriege in Jugoslawien noch nicht vergessen hatte, wurde viel vom nationalen Versöhnungsprozess gesprochen. Europa hat diesen Prozess auch finanziell und logistisch unterstützt. Es hätte in dem Stil laufen sollen wie in Südafrika: Die Schuldigen bekennen ihr Fehlverhalten, ihre Opfer vergeben ihnen, alles unter den Augen der Öffentlichkeit. Allerdings hat sich das bei uns nicht bewährt, es hat sich herausgestellt, dass wir eine andere Herangehensweise benötigen – vereinfacht gesagt, haben wir dazu Institutionen gebraucht. Die Kriege haben von oben nach unten begonnen, es wäre also logisch gewesen, wenn der Versöhnungsprozess in gleicher Richtung beginnen würde. Die ganz normalen Leute haben sich doch gleich wieder getroffen, haben miteinander kommuniziert und Geschäfte gemacht. Sie waren sich nur nicht sicher, ob es „politisch korrekt“ ist, sich mit den Feinden einzulassen, obwohl es gar keine Feinde mehr waren. Deswegen ist es so grundlegend, dass dieser Prozess vor allem von der politischen Führung unterstützt wird, und zwar nicht nur symbolisch und in Sonntagsreden, sondern auch durch Bildungsprogramme. Und das ist eben im Endeffekt bei uns nicht passiert; die Geschichtsbücher sehen in Serbien und in Kroatien immer noch genauso aus wie vor dreißig Jahren unter dem Einfluss des Nationalismus. In Russland würde es genügen, wenn sie sich ein Beispiel an Deutschland nähmen. Das ist kein leichter Weg in einem nichtdemokratischen Land, aber auch dort wird einmal eine neue Politikergeneration antreten und hoffentlich eine neue Denkweise mitbringen.

Wie sehen Sie die Vorschläge zu einer beschleunigten Beitrittskandidatur der Ukraine zur EU? Gehen Sie davon aus, dass es eher um einen symbolischen Akt in Kriegszeiten geht als um eine reale Chance, den anspruchsvollen Beitrittsprozess zu verkürzen, den auch die Balkanstaaten absolvieren mussten? Kroations Kandidatur zum Beispiel wurde dem Land von der EU nach seiner offiziellen Bewerbung erst nach fast eineinhalb Jahren bestätigt, bei Serbien dauerte es mehr als zwei Jahre, bei der Türkei zwölf.

Es ist schwer, jetzt irgendetwas vorauszusagen. Dazu nur ein kleines Beispiel: Noch vor ein paar Jahren war das Thema Flüchtlinge (wobei es in dem Fall um außereuropäische Migranten ging) in jedem einzelnen EU-Staat politisch zentral, ja regelrecht wahlentscheidend. Und heute sehen wir, dass Millionen Ukrainer mit offenen Armen in Empfang genommen werden. Wir hätten doch nie gedacht, dass wir in Europa erneut einen Krieg mit Russland als Aggressor erleben würden, ganz zu schweigen von der Drohung, Kernwaffen einzusetzen.

“Eins ist gewiss: Dieser Krieg verändert unsere Leben hier und jetzt, wirtschaftlich, ökologisch und vielleicht auch politisch – durch einen Rechtsruck auf dem gesamten Kontinent. Europa wird sich stärker bewaffnen, schon allein das ist schlimm genug, mehr Voraussagen braucht man meiner Meinung nach gar nicht zu treffen.”

Die EU wirkt vorerst geeint wie selten zuvor, und auch die NATO scheint aufzuleben. Die Ukraine baut gerade im Verlauf des Krieges endlich ihre eigene nationale Identität auf, das genaue Gegenteil dessen, was Russland erreichen wollte. Bisher haben wir noch nie beschleunigte Beitrittsverhandlungen gesehen, aber auch das könnte sich eventuell ändern. Eins ist gewiss: Dieser Krieg verändert unsere Leben hier und jetzt, wirtschaftlich, ökologisch und vielleicht auch politisch – durch einen Rechtsruck auf dem gesamten Kontinent. Europa wird sich stärker bewaffnen, schon allein das ist schlimm genug, mehr Voraussagen braucht man meiner Meinung nach gar nicht zu treffen.

Original auf Slowakisch. Erstmals publiziert am 25. April 2022 auf Dennik N.
Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Lucia Virostková / Dennik N. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Elf nicht identifizierte Leichen, die aus einem Massengrab exhumiert wurden, wurden am Donnerstag, den 11. August 2022 in Bucha, Ukraine begraben. Foto: Efrem Lukatsky / AP / picturedesk.com

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

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