Genähte Zukunft
Wie aus einem Flüchtlingsprojekt für bosnische Frauen ein Unternehmen wurde, das heute elf Haushalten ein Einkommen sichert.
An einem Maitag 1993 packt die Vorarlberger Künstlerin Lucia Lienhard-Giesinger bunte Wachskreideskizzen in einen Umschlag und steigt in ihr Auto. Im Fernsehen berichten die Nachrichten vom Krieg auf dem Balkan, und „Nachbar in Not“ lässt zum Hauptabendprogramm die Anzahl der Hilfstransporte einblenden.
Knapp 20 Kilometer sind es von ihrem Wohnort Altach nach Frastanz, wo man in der alten Kaserne Galina ein zentrales Flüchtlingsheim eingerichtet hat. Lienhard-Giesinger dreht den Zündschlüssel, langsam fährt der Wagen an. Sie greift auf den Beifahrersitz, wo die Wachskreideskizzen liegen, vergewissert sich, dass ihre Idee noch da ist. Aus diesen Vorlagen sollen Steppdecken werden. Patchwork-Quilts will Lienhard-Giesinger zusammen mit den Frauen produzieren, den Frauen etwas in die Hand geben. Beschäftigung.
Was sie damals nicht weiß: Die Unikate, die viele Lagen Stoff, Zentimeter für Zentimeter von Nähten zusammengehalten, werden den Frauen später die Ankunft in der Heimat ermöglichen. Und ein Leben danach.
Bosna Quilts
Die Werkstatt ist 1993 während des Bosnienkriegs im Flüchtlingsheim Galina in Vorarlberg entstanden. Die textilen Unikate werden von Lucia Lienhard-Giesinger in Bregenz entworfen und von elf Frauen in Goražde und Sarajevo von Hand übernäht. Nach über 20 Jahren ist die Bosna Quilt Werkstatt in Bregenz sesshaft geworden. Wenn man Bosna Quilt sehen möchte, gibt es jetzt einen Ort, wo man das tun kann. Sie werden aber weiterhin auch in Ausstellungen gezeigt.
Die Fahrt von Altach nach Frastanz dauert weniger als eine halbe Stunde. Die Reise aber, die Lienhard-Giesinger im Mai 1993 antritt, sie hat bis heute kein Ende genommen.
An einem Herbsttag mehr als 24 Jahre später steht Lienhard-Giesinger im Ausstellungsraum der „Bosna Quilts“ in Bregenz und kocht Kaffee. Ihr mittlerweile weisser Pagenkopf reicht bis zu den blauen Augen. An den Wänden hängen Quilts, auf dem Tischchen steht ein Blumenstrauß, es herrscht die aufgeräumte Atmosphäre eines Menschen, dem Ästhetik wichtig ist.
Rund 80 Quilts verkauft die Werkstatt im Jahr – nach Wien und Zürich, nach Göteborg und Nowosibirsk, in Museen, Kirchen, Privathäuser. Rund 1000 Euro kosten die Kunstwerke jeweils. Die Nachfrage ist stabil.
Aus den Flüchtlingsfrauen aus der Galina in Frastanz sind Mitarbeiterinnen unten in Bosnien geworden. Das Unternehmen „Bosna Quilts“, das in der Garage der Kaserne seinen Anfang nahm, sichert bis heute ein verlässliches Einkommen von elf Frauen am Drina-Fluss in der Stadt Goražde im Osten des Landes, rund 50 Kilometer von Sarajewo entfernt.
Damals, beim ersten Mal ist Lienhard-Giesinger nervös, als sie in die Galina fährt. Auf der Landstraße ziehen die Vorarlberger Gemeinden, Röthis, Rankweil, fährt das halbe einfamilienhausverbaute Rheintal an ihr vorbei. Eine nicht endende Kette wirtschaftlich erfolgreicher Biographien. Haus, Hund und Garten. Die Frauen in der Galina haben nichts mehr. Im Flüchtlingsheim müssen die Menschen die Tage irgendwie hinter sich bringen. Die Regierung in Wien hat für die Balkan-Flüchtlinge einen Sonderstatus geschaffen: Den „De facto“-Flüchtling, der temporären Schutz genießt, bis ihm die Heimat wieder zugemutet werden kann. Ein individuelles Asylverfahren muss er oder sie nicht durchlaufen, Zugang zum Arbeitsmarkt genießen die Flüchtlinge ebenso nicht. Die Quilt-Werkstatt, provisorisch in der Garage eröffnet, füllt sich bald mit 30 Frauen. Nadel rauf, Nadel runter. Lienhard-Giesingers anfängliche Nervosität, die Frauen könnten ihre Ideen ablehnen, geht in den Stichbewegungen unter. Das Quilten bringt den Frauen Abwechslung, ein bisschen Geld, Tratsch. Und das Nähen, die Monotonie, die langsam entstehenden Quiltlinien helfen. „Ohne das Verdrängen geht es manchmal nicht“, sagt Lienhard-Giesinger.
„Das Quilten hat mir das Leben gerettet“, sagt Safira Hošo, die 1993 aus Goražde nach Österreich geflohen ist. Es trägt sie zuerst im fremden Vorarlberg in der Galina-Garage, dann in der fremdgewordenen Heimat, in die Hošo 1997 zurückkehren muss. Goražde hat zu diesem Zeitpunkt zwei Drittel der Bevölkerung verloren, in den zerstörten Häusern leben unbekannte Gesichter. Arbeit gibt es nicht. „Die Quilts waren meine einzige Chance“, erzählt Safira Hošo heute.
Sie trommelt nach der Heimkehr in Goražde zehn Frauen zum Quilten zusammen. Sada, die aus dem Küchenfenster auf den serbisch-orthodoxen Friedhof schaut, wo die Toten der anderen liegen, Vesna, die Safira noch aus der Galina kennt, Emina, die die Wellen des Drina-Flusses in den Quilts zeichnet. Und die anderen, denen der Krieg den Lebensweg in ein Davor und ein Danach geschnitten hat. Die Entwürfe schickt Lienhard Giesinger aus Vorarlberg. Lage für Lage nähen die bosnischen Frauen ihre individuelle Bilderschrift ein. Der Quilt entsteht in konsequenter Arbeitsteilung. Damals schon im Flüchtlingsheim an der Bundesstraße, heute zum einen in Bregenz und eben am Drina-Fluss.
Seit mehr als 24 Jahren geht das so.
„Wenn du nicht weiter machst, werde ich verrückt“, hatte Safira Lucia vor ihrer Abreise nach Goražde gedroht. Und das Faxgerät eingepackt. Damit der Kontakt nicht abreißen konnte, damit das Quilten weitergeht. Heute verdienen die Frauen mit ihrer Handarbeit ein regelmäßiges Einkommen in einer Stadt, in der die Arbeitslosigkeit immer noch sehr hoch ist. Fast jeden Monat schickt Lucia die Entwürfe aus Vorarlberg, ein Kleinbus fährt die fertigen Quilts von Bosnien nach Bregenz zurück. Vorbei ehemaligen Flüchtlingsheim Galina, das 2011 geschlossen wurde. Dem Rheintal entlang.
„Meine Seele ist zufrieden,“ sagt Safira Hošo heute. Lucia Lienhard-Giesinger lächelt. „So lang es sinnvoll ist und wir gesund sind, werden wir miteinander arbeiten“, sagt sie und legt neue Entwürfe am Boden auf.
Der Text ist in abgewandelter Form am 15. Juli 2015 in der Presse und am 18. August 2015 in den Vorarlberger Nachrichten erschienen.
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