Die Angst vor der Spaltung

Estland vor den Wahlen zum Europäischen Parlament

In Estland dürften die EU-Wahlen nach den Parlamentswahlen im März zu einer Nervenprobe werden. Im Gegensatz zur allgemeinen Euroskepsis aus den Reihen illiberaler Kräfte, erlebt das Land nun bei den Wahlen zum Europäischen Parlament erstmals den Aufstieg eines bedeutsamen euroskeptischen Players – und dies inmitten der laufenden Koalitionsverhandlungen nach den Parlamentswahlen im März.

Estland hat traditionellerweise sechs Sitze im Europäischen Parlament, wird jedoch im Falle des Brexit einen weiteren zugesprochen bekommen. Bisher waren EU-Wahlen hier eine eher unaufgeregte Angelegenheit, in die nur unabhängige Außenseiterkandidatinnen oder -kandidaten Schwung brachten, die Protestwählerinnen und -wähler um sich scharten. Dieses Mal jedoch finden sie weniger als drei Monate nach den Parlamentswahlen am 3. März statt. Noch scheint niemand an den 26. Mai zu denken, denn die laufenden Koalitionsverhandlungen halten alle in ihrem Bann.

EU-Wahlen wurden meist als Lotterie verstanden, im Zuge derer altgedienter PolitikerInnen ein lukratives Ausgedinge fand.

Entgegen den Prognosen wurde die führende Partei der vorherigen Koalition, die Zentrumspartei, von der wirtschaftsliberalen Reformpartei auf den zweiten Platz verwiesen. Die rechtspopulistische EKRE konnte die größten Stimmenzugewinne erzielen, die Zahl ihrer Sitze mehr als verdoppeln und ist nun die drittstärkste politische Kraft, während sowohl die regierenden Sozialdemokraten als auch die konservative Isamaa Verluste einstecken mussten. In den vergangenen Jahren befürworteten alle großen Parteien die EU-Mitgliedschaft, europäische Angelegenheiten fanden jedoch insgesamt wenig Beachtung. EU-Wahlen wurden meist als Lotterie verstanden, im Zuge derer ein halbes Dutzend altgedienter Politikerinnen oder Politiker ein lukratives Ausgedinge fand.

Hält die Mitte?

Dieses Mal könnte es anders sein. Erstens befindet sich nun ein gewichtiger euroskeptischer Player auf der politischen Bühne. EKRE hat sich dem Ziel verschrieben, Brüssel in die Schranken zu weisen, das Justizsystem zu unterwerfen, die Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften zu annullieren, gegen nicht-existierende Einwandererströme zu kämpfen und die staatliche Förderung für die Kulturzeitschrift Vikerkaar einzustellen. Während die Zentrumspartei in der Vergangenheit noch euroskeptisch auftrat (sogar gegen den EU-Betritt von Estland warb), hat sie sich im Laufe der Zeit gewandelt und ist nun zusammen mit der Estnischen Reformpartei Mitglied in der Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE).

Zweitens dürfte die EU-Wahl als eine Feuerprobe für die öffentliche Akzeptanz egal welcher bis dahin ausverhandelten Koalition gesehen werden. Sollte der Reformpartei die Bildung einer Koalition nicht gelingen, oder sollte EKRE in eine Regierungskoalition eingebunden werden, könnten die Wählerinnen und Wähler die liberalen Parteien abstrafen, während die Unterstützung für EKRE wachsen könnte.

Update des Autors vom 7. Mai 2019

Die neue Regierung bestehend aus Zentrumspartei, EKRE und Isamaa wurde mittlerweile am 29. April angelobt und die erste Handlung des EKRE-Sprechers war es, die EU-Fahnen aus dem „Weißen Saal“ des Parlamentspalasts entfernen zu lassen.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 23. April 2019 auf Eurozine.
Aus dem Englischen von Margit Hengsberger.


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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild:Tallin, Estland. Foto: © iStock / visualspace

Mood of the Union

Die Serie Mood of the Union sammelt Artikel zur Wahl zum Europäischen Parlament aus allen 28 EU-Mitgliedstaaten. Die Serie wird von der ERSTE Foundation und dem National Endowment for Democracy unterstützt.

In der Serie The Mood of the Union berichten Redakteure des Magazins Eurozine über die Lage in der gesamten Europäischen Union und diskutieren mit Journalisten und Analysten die Einstellungen zu den EU-Wahlen und über das, was auf nationaler Ebene auf dem Spiel steht. Ziel der Serie ist es, über die Berichterstattung nationaler Medien hinaus, einen detaillierteren Einblick in die Stimmung vor Ort zu liefern. Die Serie wird von Agnieszka Rosner kuratiert und vom mitwirkenden Redakteur Ben Tendler editiert.

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

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“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Gerechtigkeit kann nicht warten.”

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