Bevölkerungsentwicklung in Tschechien: Westwärts ahoj!
Warum sich Tschechien dem herrschenden Trend des gesamten restlichen, ehemals kommunistischen Teil Europas widersetzt weiß Tim Judah.
13. Juli 2023
Erstmals veröffentlicht
03. Oktober 2022
Quelle
In demografischer Hinsicht ähnelt die Tschechische Republik eher einem wohlhabenden westlichen Land als einem ehemaligen kommunistischen Staat.
Die Bevölkerung des Landes wächst und im Jahr 2021 brachten tschechische Frauen mehr Kinder zur Welt als irgendwo sonst in Europa. Tschechien widersetzt sich damit dem im gesamten restlichen ehemals kommunistischen Europa herrschenden Trend. Es setzt auf Zuwanderung, verzeichnet niedrige Abwanderungsraten und ähnelt in demografischer Hinsicht eher einem wohlhabenden westlichen Land als einem ehemals kommunistischen.
Der Krieg in der Ukraine macht jedoch jede Zukunftsprognose zu einem sinnlosen Unterfangen, da niemand weiß, wie viele der 431.285 Ukrainerinnen und Ukrainer, die in Tschechien um „temporären Schutz“ angesucht haben, geblieben sind oder ob sie jemals nach Hause zurückkehren werden – was zu einem möglicherweise massiven und abrupten Anstieg der Gesamtbevölkerung des Landes führen könnte.
Im Jahr 1989 lebten in der Tschechischen Republik 10,3 Millionen Menschen. Gemäß der Volkszählung des Jahres 2021 sind es mittlerweile 10,5 Millionen, wobei die ukrainischen Flüchtlinge hier nicht berücksichtigt sind. Im Jahr 2021 lag die Gesamtfertilitätsrate bei beachtlichen 1,83 Kindern pro Frau im gebärfähigen Alter. Im Jahr 2022 soll sie wieder auf einen Wert zwischen 1,65 und 1,70 sinken, der jedoch noch immer deutlich über dem EU-Durchschnitt von 1,5 liegt.
Die tschechische Bevölkerung altert wie alle europäischen Gesellschaften. Was jedoch die „natürliche Veränderung“ – das Gleichgewicht zwischen der Zahl der Geburten und der Zahl der Sterbefälle – betrifft, schneidet Tschechien relativ gut ab. Zwischen 1994 und 2005 gab es zwar eine Periode, in der jährlich mehr Personen starben als geboren wurden, aber seit damals bis zum Jahr 2020, als Covid-19 die Sterblichkeitsrate in die Höhe trieb, gab es in den meisten Jahren mehr Geburten als Sterbefälle.
Die Tatsache, dass in Tschechien heute mehr Menschen leben als nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, ist jedoch fast ausschließlich auf die Zuwanderung zurückzuführen. Dadurch unterscheidet sich das Land von anderen ehemals kommunistischen Ländern und weist eine ähnliche Entwicklung wie viele westeuropäische Länder auf, deren Bevölkerung ohne den ständigen Zustrom von Neuankömmlingen schrumpfen würde.
Warum bildet die Tschechische Republik eine Ausnahme? Die Antwort findet sich auf der Landkarte. Die in der Bevölkerungswissenschaft beliebte Kontroverse um den Wahrheitsgehalt der alten Weisheit, dass Demografie Schicksal ist, dürfte tschechischen Demografinnen und Demografen vermutlich einerlei sein. Für sie liegt das Schicksal in der Geografie. „Ich werde Ihnen ein kleines Geheimnis verraten“, meinte Tomas Kucera, leitender Demograf an der Prager Karlsuniversität. „Tschechien hat eine der besten geografischen Lagen in Europa.“
Das liegt daran, dass seine Lage am Schnittpunkt der Ost-West- und Nord-Süd-Verkehrskorridore seit jeher optimale Voraussetzungen für eine florierende Wirtschaft bietet und maßgeblich dazu beitrug, das Land nach der Wende vor dem demografischen Gegenwind zu bewahren, mit dem andere Länder im ehemaligen kommunistischen Europa – mit Ausnahme von Slowenien – zu kämpfen hatten. „Wenn Moldawien in Tschechien gelegen wäre und wir in Moldawien“, so Kucera, „dann wären wir jetzt in einer ähnlichen Situation wie Moldawien und umgekehrt.“ Seit 1989 hat die Republik Moldau ein Drittel ihrer Bevölkerung verloren.
Nach dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie 1918 habe, so Kucera, die neue Tschechoslowakei – oder besser gesagt jener Teil, der heute zur tschechischen Republik gehört – einen Großteil der Industrie übernommen und weiterentwickelt. In der Zwischenkriegszeit war die Tschechoslowakei eine entwickelte Volkswirtschaft, die sich mit mehreren westeuropäischen Ländern messen konnte, deren demografische Entwicklung sie ebenfalls widerspiegelte.
Während des Kommunismus blieb die Tschechoslowakei eine bedeutende Industriemacht, ihre demografische Entwicklung veränderte sich jedoch und verlief parallel zu der in den anderen kommunistischen Ländern Mittel- und Osteuropas. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, der im Gegensatz zu anderen Ländern die Wirtschaft nicht völlig zum Erliegen brachte, näherte sich die Bevölkerungsentwicklung Tschechiens schnell wieder jener der meisten westeuropäischen Länder an.
Der Einbruch der Fertilitätsrate, der keiner ist
Die Entwicklung der tschechischen Fertilitätsrate, die im vergangenen Jahr mit 1,83 jene von Frankreich (ohne Überseegebiete) übertraf, das seit Langem eine der höchsten Raten in Europa aufweist, bietet einen faszinierenden Einblick in die demografische Geschichte des Landes.
Während der Depression der 1930er-Jahre drückte die Ungewissheit über die Zukunft die Fertilitätsrate unter 2,1 – das ist der Wert, der notwendig ist, um die Bevölkerung eines Landes ohne Zuwanderung konstant zu halten. Auffallend war, dass die Geburtenrate während des Zweiten Weltkriegs diesen Wert übertraf, was zum Teil daran lag, dass die Tschechische Republik von den Kampfhandlungen weitgehend verschont blieb und Kinder zu bekommen eine Möglichkeit war, der Zwangsarbeit in Deutschland zu entgehen.
In den ersten Jahren des Kommunismus, die für viele eine Zeit des Optimismus waren, blieb die Geburtenziffer hoch. Sie sank dann zwischen 1966 und 1972 unter das Reproduktionsniveau und blieb schließlich ab 1981 dauerhaft unter diesem Wert. Im Jahr 1989 lag sie bei 1,87, sank aber ein Jahrzehnt später auf 1,13. In jenem Jahr wurden mit 89.471 Babys so wenige Kinder wie noch nie in der modernen tschechischen Geschichte geboren. Seitdem sind die Zahlen wieder angestiegen. Im Jahr 2021 verzeichnete Tschechien 111.793 Geburten. In der ersten Jahreshälfte 2022 waren es jedoch rund 50.000 Geburten, was bedeutet, dass das Geburtenniveau in diesem Jahr aus noch unbekannten Gründen voraussichtlich um etwa zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgehen wird.
Nach dem Ende des Kommunismus war in ganz Mittel- und Osteuropa ein völliger Einbruch der Fertilitätsraten zu beobachten. Es waren Jahre der Wirtschaftskrise, die fast überall von großer Not, Arbeitslosigkeit, steigenden Sterblichkeitsraten und hohen Abwanderungsraten geprägt waren.
Untersuchungen von Tomas Sobotka vom Wiener Institut für Demografie zeigen jedoch, dass die Situation in Tschechien eine völlig andere war. Seiner Auffassung zufolge sei der „Einbruch der Fertilitätsrate“ in Wahrheit gar kein Einbruch gewesen, sondern vielmehr der Tatsache geschuldet, dass sich die osteuropäischen Heirats- und Geburtenmuster der kommunistischen Ära Tschechiens wieder an die westeuropäischen Muster, wie sie Tschechien vor dem Krieg aufwies, anglichen.
Eine 1965 geborene Frau bekam ihr erstes Kind in der Regel im Alter von 20 oder 21 Jahren, so Sobotka. Eine 1990 geborene Frau bekommt ihr erstes Kind aber üblicherweise mit 29 Jahren. „Dazwischen gab es eine Übergangsphase, in der sich die Frauen und ihre Partner mehr Zeit ließen, bevor sie ihr erstes Kind bekamen. In dieser Übergangsphase sanken die Geburtenziffern also, was nicht nur daran lag, dass die Menschen keine Kinder mehr bekamen, sondern daran, dass sie warteten, bis sie älter waren.“
Ein weiterer Grund, warum tschechische Frauen beim ersten Kind mittlerweile so viel älter sind, liegt seiner Meinung nach an der mangelnden Sexualerziehung während des Kommunismus und der geringen Verwendung der Antibabypille, sodass viele Erstschwangerschaften ungewollt eintraten. Im Jahr 1990 nahmen nur vier Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter die Pille. Dies änderte sich rasch, woraufhin die Zahl der ungeplanten Geburten und Abtreibungen drastisch zurückging. Heute verhüten etwa 30 Prozent der tschechischen Frauen im gebärfähigen Alter mit der Pille.
Mittlerweile wird das Kinderkriegen durch „eine relativ großzügige Familienpolitik“ gefördert, erklärt Sobotka, „die den Eltern in den ersten drei oder vier Lebensjahren des Kindes flexible und gut bezahlte Karenzzeiten ermöglicht“. Eine verhältnismäßig egalitäre und auf Umverteilung bedachte Sozialpolitik hat ebenfalls für „mehr soziale Stabilität gesorgt und die schlimmsten wirtschaftlichen Ungleichheiten und Auswüchse abgefedert, die in anderen postkommunistischen Ländern zu beobachten waren.“
Wirtschaft bremst Abwanderung
Ein weiterer Faktor, der Tschechien nach 1989 laut Sobotka von anderen ehemals kommunistischen Ländern unterscheidet, ist, dass die Situation im Gesundheitswesen zwar überall sonst kritisch wurde, die Tatsache, dass Tschechien aber keinen vergleichbaren wirtschaftlichen Zusammenbruch erlitt, bedeutete, dass sehr schnell in neue Technologien investiert wurde, die zuvor nicht verfügbar waren. „So verbesserte sich etwa die Behandlung von Krebs und einigen anderen komplexeren altersbedingten Krankheiten rasch, und die Sterblichkeitsraten begannen nur wenige Jahre nach dem Regimewechsel und 30 Jahren der Stagnation zu sinken.“
Im Gegensatz zu weiten Teilen des restlichen kommunistischen Europas wurde Tschechien, das bereits vor dem Zweiten Weltkrieg industrialisiert war, nicht von Großindustrien beherrscht, deren Schließung zum völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch ganzer Städte und Regionen geführt hätte, wie dies beispielsweise in der Slowakei der Fall war. Den kleineren Industriebetrieben gelang es sehr viel besser, den Übergang zur Marktwirtschaft zu bewältigen. Die Tschechinnen und Tschechen hatten seitdem weitaus weniger wirtschaftliche Beweggründe auszuwandern als die Bürgerinnen und Bürger anderer ehemals kommunistischer oder sogar einiger westeuropäischer Länder.
„Für unsere Leute hat es keinen Sinn, nach Großbritannien zu gehen, um dort zu arbeiten“, erklärt Kucera, „denn abzüglich der Kosten für die Unterkunft verdienen sie dort bei Weitem weniger Geld, als sie hier verdienen würden.“
Kuceras Hypothese wird durch die Daten des britischen Amts für nationale Statistik bestätigt. Nach dem Brexit haben 78.200 Tschechinnen und Tschechen ein Bleiberecht für Großbritannien beantragt. Im Gegensatz dazu bemühten sich 136.970 Slowakinnen und Slowaken um einen Aufenthaltstitel, obwohl die slowakische Bevölkerung nur halb so groß ist wie die tschechische; bei den Portugiesinnen und Portugiesen waren es 444.940, wobei die Größe der Bevölkerung Portugals in etwa der tschechischen entspricht.
Aus den Untersuchungen Sobotkas geht auch hervor, dass die tschechische Abwanderungsrate eher derjenigen wohlhabender westeuropäischer Länder entspricht als jener mittel- und südosteuropäischer Länder, aus denen ein hoher Prozentsatz ganzer Alterskohorten emigriert ist. Was die Tschechische Republik betrifft, so Sobotka, würden heute zwischen vier und sechs Prozent der Menschen jeder Generation im Ausland leben, „was sich nicht so sehr von den Zahlen für Großbritannien oder Frankreich unterscheidet.“
Daten zur Abwanderung sind natürlich schwer zu erfassen und die letztjährige Volkszählung hat gezeigt, dass mehr Menschen das Land verlassen hatten, als auf der Grundlage der Volkszählung 2011 erwartet worden war. Dies führte dazu, dass die tschechische Bevölkerungszahl für 2021 im Vergleich zu 2020 um 200.000 Personen nach unten korrigiert wurde, was aber nicht bedeutet, dass die Bevölkerung des Landes in einem Jahr um so viel abgenommen hat.
Zustrom von Einwanderinnen und Einwanderern
Was Tschechien in demografischer Hinsicht einem wohlhabenderen westlichen Land ähnlicher macht, ist vor allem die Zuwanderung. Ende 2021 waren 660.849 ausländische Personen als wohnhaft im Land gemeldet, von denen 320.534 über einen ständigen Wohnsitz verfügten, während die meisten anderen eine kurzfristige Arbeitserlaubnis hatten. Menschen aus der Ukraine (196.875), der Slowakei (114.630) und aus Vietnam (64.851) stellen dabei die drei größten Nationalitäten dar.
Auf der Grundlage der tschechischen Daten und Trends bis Ende 2021 prognostizierte Eurostat, das statistische Amt der EU, einen leichten Anstieg der tschechischen Bevölkerung auf 10,76 Millionen im Jahr 2030, wobei diese Zahl bis 2050 wieder auf den heutigen Stand von 10,53 Millionen sinken sollte. Mittlerweile ist aber alles offen. Bis zum 13. September 2022 hatten 431.285 Ukrainerinnen und Ukrainer aufgrund des Kriegs ein Aufenthaltsrecht in Tschechien erhalten.
Gewiss könnten einige oder vielleicht die meisten dieser Menschen inzwischen in ihre Heimat zurückgekehrt oder in andere Länder wie Deutschland weitergereist sein. Viele von ihnen bleiben jedoch und werden dies auch weiterhin tun, und je mehr Flüchtlingskinder eingeschult werden und je länger der Krieg andauert, desto größer wird die Zahl derer sein, die sich dauerhaft in Tschechien niederlassen.
Kucera zufolge wird die Bevölkerung Tschechiens „mittel- und langfristig auf jeden Fall wachsen“, aber die plötzliche Ankunft von Hunderttausenden von Ukrainerinnen und Ukrainern bedeutet, dass die demografische Zukunft Tschechiens „sehr ungewiss“ und im Moment unmöglich vorherzusagen ist.
„Tatsächlich ist eine Vorausberechnung normalerweise umso unsicherer, je weiter der Prognosehorizont entfernt ist“, so Kucera. „Jetzt haben wir es mit einem Paradoxon zu tun – die unsichersten Prognosen sind die kurzfristigen!“
Ein historischer Schlag gegen die Bevölkerung
Vertreibung der Sudetendeutschen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Foto: Jacksonmcdonald3425 / Wikimedia Commons
Das tschechische Statistikamt (CZSO) kann zu Recht mit Stolz darauf verweisen, dass ein Großteil seiner Daten, einschließlich derer zur Gesamtbevölkerung, auf das Jahr 1785 zurückgeht, als 4,25 Millionen Menschen auf dem Gebiet der heutigen Tschechischen Republik gezählt wurden.
Von jenem Zeitpunkt an, als Böhmen, Mähren und Tschechisch-Schlesien zum Habsburgerreich gehörten, steigt die Bevölkerungskurve mit zunehmender Bevölkerungszahl allmählich an, sinkt nur zur Zeit des Ersten Weltkriegs und klettert danach wieder in die Höhe, bis sie buchstäblich ins Bodenlose abstürzt. Der Grund dafür war die Vertreibung von mehr als drei Millionen ethnischen Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Nach Angaben des CZSO erreichte die Bevölkerung der tschechischen Länder im Jahr 1940 mit 11,16 Millionen ihren Höchststand, bis 1947 war sie jedoch auf 8,76 Millionen gesunken. Seitdem ist die Bevölkerung zwar gewachsen, hat aber nie wieder den Stand von 1940 erreicht.
Das Gebiet der heutigen Tschechischen Republik blieb von den Verwüstungen eines totalen Kriegs vergleichsweise verschont. In den Ländern der ehemaligen Tschechoslowakei kamen bis 1938 schätzungsweise 345.000 Menschen ums Leben, darunter 263.000 Jüdinnen und Juden, die im Holocaust ermordet wurden. Etwa 30 Prozent von ihnen stammten aus dem NS-Protektorat Böhmen und Mähren. Während des Kriegs wurden auch etwa 90 Prozent der rund 6.500 Roma und Sinti ermordet.
Aus demografischer Sicht hätte der Kriegstod der Tschechinnen und Tschechen, Jüdinnen und Juden und der Roma, so tragisch er auch war, die Gesamtbevölkerungszahl Tschechiens langfristig nicht wesentlich verändert. Was sich jedoch auswirkte, waren die brutalen Repressalien und die massenhafte Vertreibung der ethnischen Deutschen, die Hitler mit überwältigender Mehrheit unterstützt hatten, unmittelbar nach dem Krieg.
In der ersten Zeit nach dem Ende des Kriegs wurden etwa 660.000 Deutschsprachige vertrieben. Zwischen 19.000 und 30.000 wurden getötet oder starben an Krankheiten. Die Historikerin Mary Heimann schreibt: „Die politisch kalkulierte Orgie von Gewalt, Vigilantismus und ethnischem Hass, die im Frühjahr und Sommer (Mai bis August) 1945 andauerte, wird im Tschechischen etwas heuchlerisch als divoky odsun (‚wilde‘ oder illegale ‚Abschiebung‘) bezeichnet, um sie von der ‚koordinierteren‘ und ‚legalen‘ odsun (Abschiebung oder Vertreibung) weiterer 2,8 Millionen ethnischer Deutscher aus ihrer Heimat nach 1946 zu unterscheiden.“
Bei der Volkszählung von 1930 deklarierten sich 3,14 Millionen, d. h. 29,5 Prozent der Bevölkerung auf dem heutigen Gebiet der Tschechischen Republik, als Deutsche. Bei der Volkszählung von 2021 bezeichneten sich 24.632 als Deutsche – bzw. einer anderen Ethnie zugehörig. Das sind 0,23 Prozent der Bevölkerung, deutlich weniger als die Zahl der Vietnamesinnen und Vietnamesen im Land.
Während des Kommunismus, erklärt Tomas Sobotka vom Wiener Institut für Demografie, habe man sich mit den demografischen Folgen dieses enormen Bevölkerungsverlustes nicht beschäftigt.
„Es war nicht erlaubt, öffentlich über die erzwungene Aussiedlung der deutschen Bevölkerung zu debattieren, zu recherchieren oder zu diskutieren, sodass die gesamte Forschung und die öffentliche Diskussion … erst 1990 nach der Wende so richtig begann.“
Für den Demografen Tomas Kucera von der Prager Karlsuniversität habe sich Tschechien, was seine Gesamtbevölkerung betrifft, nie von den Vertreibungen erholt. Die heutige Bevölkerung entspricht lediglich dem Stand von 1928.
Heimann schreibt, dass die Behörden ab Juli 1945 dafür sorgten, dass Tschechinnen und Tschechen, Slowakinnen und Slowaken und „andere Slawinnen und Slawen“ von den Deutschen zugrückgelassene Ländereien und Besitztümer „wiederbesiedeln“ konnten. Die Tatsache, dass ein großer Teil der vertriebenen Deutschen aus den nun verlassenen ländlichen Regionen an der Grenze zu Westdeutschland und Österreich stammte, erwies sich für die neuen kommunistischen Machthaber als „sehr zweckdienlich“, da es dadurch viel einfacher war, eine spezielle Pufferzone zu errichten, einschließlich mehrerer Reihen elektrischer Zäune, „um die Menschen daran zu hindern, aus dem Land zu fliehen“, wie Sobotka betont.
Daher, so Sobotka, „gab es eine bewusste Politik, große Gebiete nicht wieder zu besiedeln“, insbesondere die Hügel, Wälder und Berge im Süden, und „sie einfach ihrem Schicksal zu überlassen, wobei viele Dörfer völlig ausgelöscht wurden und für immer verloren waren.“
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 3. Oktober 2022 auf Reportingdemocracy.org einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Judah. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Illustration: BIRN
Reporting Democracy
Reporting Democracy ist eine grenzüberschreitende journalistische Plattform, die sich der Frage widmet, wohin sich die Demokratie in weiten Teilen Europas entwickelt. Neben der ständigen Produktion von Reportagen, Interviews und analytischen Artikeln durch eigene Korrespondenten, unterstützt Reporting Democracy lokale Journalisten, indem es Geschichten in Auftrag gibt und Zuschüsse für eingehende Reportagen und Recherchen bereitstellt. Das Fellowship for Journalistic Excellence ist Teil von Reporting Democracy. Beides wird vom Balkan Investigative Reporting Network (BIRN) realisiert und umgesetzt und von der ERSTE Stiftung unterstützt.