Am Sonntag ins Idiot. Wasserspülung in Rumänien.

Texte von Mircea Cărtărescu und Barbi Marković in der Lesefassung für GRENZGÄNGER/GRENZDENKER

„Schwankend wie Rimbauds trunkenes Schiff“. Unter diesem Titel unterhielt sich Martin Pollack am 16. November 2017 mit Mircea Cărtărescu und Barbi Marković in der Reihe GRENZGÄNGER/GRENZDENKER im Wiener Kasino am Schwarzenberg.

Zuvor lasen die Burgschauspieler Philipp Hauß und Marie-Luise Stockinger aus dem Roman Ausgehen von Barbi Marković und aus Mircea Cărtărescus Buch Die schönen Fremden. Für alle, die an diesem Abend nicht dabei sein konnten, veröffentlichen wir an dieser Stelle die von Rita Czapka erstellte Lesefassung der Auszüge aus beiden Werken.

Hier geht’s außerdem zum Interview von Florian Hirsch mit Barbi Marković.

Barbi Marković Ausgehen Mircea Cӑrtӑrescu Die schönen Fremden NOVEMBER 2017

GRENZGÄNGER / GRENZDENKER
Barbi Marković
Ausgehen
Mircea Cӑrtӑrescu
Die schönen Fremden
NOVEMBER 2017

Barbi Marković: Ausgehen
(nach Thomas Bernhard Gehen)
[rmx]

Barbi Marković. Ausgehen

Aus dem Serbischen von Mascha Dabić. edition suhrkamp 2581. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009

Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka

Philipp Hauß
Es ist ein ständiges zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Kopfes Denken und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Empfinden und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Hinundhergezogenwerden.

Marie-Luise Stockinger
Scrach:
Ich beginne:

Es ist ein ständiges zwischen allen Musikstilen Denken, zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Hirns Sichzudröhnen und zwischen allen Möglichkeiten eines menschlichen Charakters Sichunterhalten.

Während ich, bevor Bojana vom Clubben genug hatte, nur am Samstag mit Milica ausgegangen bin, gehe ich jetzt, nachdem Bojana vom Clubben genug hat, auch am Sonntag mit Milica aus. Weil Bojana am Sonntag mit mir ausgegangen ist, gehst du jetzt, nachdem Bojana am Sonntag nicht mehr mit mir ausgeht, auch am Sonntag mit mir aus, sagt Milica, nachdem Bojana jetzt genug hat und vor der Glotze klebt. Und ohne zu zögern, habe ich zu Milica gesagt, gut, gehen wir auch am Sonntag aus, nachdem Bojana die Nase voll hat und vor der Glotze klebt. Während wir am Samstag immer ins Basement (welches fancy ist) ausgehen, gehen wir am Sonntag ins Idiot (welches trash ist), auffallenderweise gehen wir am Sonntag viel früher aus als am Samstag, wahrscheinlich, denke ich, ist Milica mit Bojana immer früher ausgegangen als mit mir, weil sie am Samstag viel später, am Sonntag viel früher ausgeht. Aus Gewohnheit gehe ich, wie du siehst, sagt Milica, am Sonntag viel früher aus als am Samstag, weil ich mit Bojana (also am Sonntag) immer viel früher ausgegangen bin als mit dir (am Samstag). Weil du, nachdem Bojana die Nase voll hat, nicht mehr nur am Samstag mit mir ausgehst, sondern auch am Sonntag, brauche ich meine Gewohnheit, am Sonntag und am Samstag auszugehen, nicht zu ändern, sagt Milica, freilich hast du, weil du jetzt am Samstag und am Sonntag mit mir ausgehst, deine Gewohnheit sehr wohl ändern müssen, und zwar in einer für dich wahrscheinlich unglaublichen Weise, sagt Milica.

Philipp Hauß
Wenn wir die Clubszene anschauen, sagt Milica, wenn wir in die Clubszene hineinschauen, wofür es einer Person wie mir von Zeit zu Zeit nicht an Mut fehlt, haben wir vor uns ein riesiges Clubbing, genauer gesagt: ein im Stadtzentrum verstreutes, aber in Wirklichkeit ist das keine Clubszene.

Marie-Luise Stockinger
Die Clubszene ist eine Clublüge, behaupte ich, sagt Milica. Stilhaben heißt doch nichts anderes als mit der Clubszene Schluß machen und in erster Linie mit sich selbst als einem Teil der Clubszene. Von einem Augenblick auf den anderen nichts mehr akzeptieren heißt Stil haben, keinen DJ, kein Brand, keine Musikrichtung und naturgemäß keine Droge, ganz einfach nichts mehr, und sich in dieser tatsächlich einzigen revolutionären Erkenntnis ruinieren. Aber so zu denken führt unweigerlich zu plötzlicher Sättigung, sagt Milica, wie wir wissen, und was Bojana mit totaler Sättigung hat bezahlen müssen. Sie, Milica, glaube nicht daran, daß Bojana sich je wieder von ihrem Platz vor dem Fernseher erheben wird, dazu ist ihre Sättigung eine zu elementare, sagt Milica.

Philipp Hauß
Sich immer mehr und mehr im Aufsuchen von sogenannten aufregendsten und ungeheuerlichsten und epochalsten Partys zu schulen, die Rede ist also von solcherart angekündigten, in Wahrheit dummen Belgrader Partys, und sich vollkommen mit einer immer noch größeren Entschlossenheit solchen einzig angebotenen Partys auszuliefern, sei ihre tagtägliche Disziplin gewesen, aber immer nur bis zu dem äußersten Punkt vor der vollkommenen Sättigung.

Marie-Luise Stockinger
Ausgehen und immer mehr und immer mehr mit immer größerer Intensität und mit einer immer noch größeren Rücksichtslosigkeit und mit einem immer noch größeren geheuchelten Party-Fanatismus, ok, sagt Milica, aber nicht eine Sekunde zu lang ausgehen. Jeden Augenblick können wir zu weit gehen in unserem Ausgehen, wir gehen im Ausgehen einfach zu weit, sagt Milica, und machen schlapp. Darauf komme ich jetzt wieder zurück, worauf Bojana immer wieder zurückgekommen war, sagt Milica, daß es nämlich im Belgrader Nachtleben oder besser in dem, was wir als das Belgrader Nachtleben bezeichnen, weil wir es immer als das Belgrader Nachtleben bezeichnet haben, überhaupt kein Konzept gibt, analysieren wir, was ein Konzept ist, müssen wir sagen, es gibt überhaupt kein Konzept, aber das hat Bojana schon analysiert, sagt Milica, daß es nämlich, wie Bojana ganz richtig gesagt hat und worauf sie durch fortgesetzte Beschäftigung mit diesem unglaublich faszinierenden Gegenstand schließlich gekommen ist, kein Konzept, sondern nur ein Pseudo-Konzept gibt.

Philipp Hauß
Was wir haben, ist nichts als Clubbingersatz. Ein Clubbingersatz ermöglicht unsere Nachtexistenz. Jegliches Ausgehen ist ein Ersatzausgehen, weil es ein wirkliches Ausgehen nicht gibt, weil das Belgrader Nachtleben wirkliches Ausgehen ausschließt, weil es wirkliches Ausgehen ausschließen muß.

Die verbissene Alleskritik ist eine Form des Vergnügens, die uns nicht umbringen kann und die uns in erster Linie und unter keinen Umständen je wieder abhandenkommen kann. Aber es ist andererseits ebenso der Fall, daß wir mit unserer Alleskritik häufig ein wenig oder sogar weit unter der Realität bleiben. Was ich tue (und erkenne, daß ich es tue), wenn ich sage, daß die Menschen in Belgrad so fad geworden sind, weil beschissene Partys organisiert werden, das ist nicht real. Ich sage das aber, obwohl ich weiß, daß das nicht real ist, weil es nicht wahr ist, daß die Menschen, die wir in Belgrad treffen, deshalb so fad geworden sind, weil die Partys schlecht sind, obwohl ich weiß, daß die in dem Satz verwendeten Begriffe und folglich auch die in dem Satz verwendeten Wörter falsch sind und also, wie wir wissen, alles in diesem Satz falsch ist. Wenn wir uns aber nicht an unsere alleskritisierende Einstellung halten, die zugegebenermaßen extrem und destruktiv ist, büßen wir unser letztes Vergnügen ein, sagt Milica.

Marie-Luise Stockinger
Wer eine beschissene Party organisiert, ist sich dessen bewußt, daß er Langeweile produziert, daß er etwas schafft, das langweilig sein wird, weil es langweilig sein muß, etwas, das sich durch die Belgrader Clubszene allmählich in eine Katastrophe verwandeln wird, etwas, an dem auch wieder nichts anderes dran ist als die allmählich durch die Belgrader Clubszene entstandene Katastrophe.

Philipp Hauß
Die Struktur des Nachtlebens gründet sich, wie wir wissen, auf einer totalen kollektiven Halluzination, aber das können wir nur bemerken, wenn wir ein Gespür dafür haben. Vernachlässigen wir den Umstand, daß die Belgrader allesamt Kleinbürger sind, sprechen wir von Bürgern und Clubbern, aber nur von sogenannten Clubbern.

Marie-Luise Stockinger
Hier, siehst du, sagt Milica vor dem Idiot, hier auf den Stufen im Hof, bin ich einmal vor Hunger ohnmächtig geworden, weil ich an jenem Tag nichts gegessen hatte, sagt Milica. Ich hatte nichts gegessen und saß auf den Stufen und sagte, hier, wo ich mich schon einmal vor einigen Jahren übergeben mußte, im Schnapsrausch, falle ich um, weil ich den ganzen Tag nichts gegessen habe. Auf einmal konnte ich nichts hören, nichts sehen, sagt Milica. Alles veränderte sich auf die schlimmste Weise während des Fallens in Ohnmacht auf den Stufen, so wie während des früheren Sichübergebens auf den Stufen, damit hatte ich nicht gerechnet, sagt Milica. Auf einmal wurde mir klar, daß ich in dieser Stadt nichts mehr zu suchen habe, sagt Milica, aber weil ich schon einmal hier bin und das leider vielleicht für immer, kann ich mich nicht umbringen und aufhören auszugehen und aus dem Haus rauszugehen. Ich habe eingesehen, daß ich in Belgrad nichts mehr zu suchen habe, sagt Milica, und ganz schroff sagt Milica, andererseits, daß ich vielleicht niemals von hier wegkomme und tagelang, wochenlang, monatelang in Belgrad ausgehen werde und daran denken werde, mich doch noch umzubringen, denn es ist ebenso möglich, daß ich mich am Ende doch noch umbringen werde, sagt Milica, durchaus möglich, nur nicht, bevor und keinesfalls solange ich nicht Wittgenstein kapiert habe, aber danach werde ich mich vielleicht umbringen, werde ich mich umbringen müssen, wenn ich aus Belgrad nicht wegkomme.

Immer wieder die gleichen Straßen, sagt Milica, und neben den gleichen Häusern, mit immer den gleichen, schon lange, seit der Kindheit, bekannten Namen, liebgewordenen oder fürchterlichen, aber jedenfalls bekannten Namen, immer die Straßen, wo man tagsüber nicht einen einzigen schönen Menschen sieht.

Wo sind alle diese schönen Menschen, die ich in (Zeichentrick-)Filmen und Comics sehen kann und die ich auf Belgrader Straßen nicht sehen kann? fragte ich mich, sagt Milica. Wochenlang und monatelang habe ich mir diese Frage gestellt.

Philipp Hauß
Wir stellen oft monatelang immer die gleiche Frage, sagt sie, stellen sie uns oder anderen, aber vor allem stellen wir sie uns, und wenn wir uns diese Frage nicht haben beantworten können, auch in der längsten Zeit nicht, auch in Jahren nicht, weil uns die Beantwortung gleich welcher Frage nicht möglich ist, sagt Milica, stellen wir eine andere, eine neue Frage, vielleicht aber auch wieder eine Frage, die wir uns schon einmal gestellt haben, und so das ganze Leben lang, bis der Kopf nicht mehr kann.

Marie-Luise Stockinger
Wo sind alle diese Menschen, Cyborgs, Aliens, Mutanten? habe ich mich gefragt und immer mehr und mehr Drogen genommen, und in keinem Zustand hat mich diese Frage in Ruhe gelassen. Gibt es sie etwa nicht? fragte ich mich. Wo sind alle diese superdünnen Superhelden, für die ich meine Freunde ohne mit der Wimper zu zucken in die Wüste schicken würde? Wenn ich nur einen einzigen solchen Menschen treffen würde. Wo? fragte ich mich ununterbrochen, und wie? Plötzlich ist mir klar geworden, daß es diese Menschen, die ich suche, in Belgrad absolut nicht gibt. Diese Menschen gibt es vor allem nicht in Belgrad, habe ich auf einmal gedacht, es hat keinen Sinn, sie in Clubs zu suchen, weil es sie in Belgrad nicht gibt, habe ich mir auf einmal gesagt und bin ich aus dem Idiot rausgegangen und ins Ausland gefahren, ich bin weggefahren, sagt Milica, aber im Ausland habe ich es nicht ausgehalten und jetzt bin ich wieder in Belgrad.

Philipp Hauß
Aber in dieser Stadt sind wir verloren, und es hat keinen Zweck, sich länger in dieser Stadt aufzuhalten. Also sind wir ständig so drauf, daß wir die Stadt, in der wir leben und in der wir immer leben, verlassen wollen, weil es unsere Gewohnheit ist, in dieser Stadt zu leben und einen Umzug zu planen, das ganze Leben lang planen wir wegzugehen, solange wir denken können, irgendwohin, wir wollen nichts anderes, weil wir auch nichts anderes sind als Belgrader, die keine Belgrader sein wollen, abgesehen von anderen Unterschieden.

Marie-Luise Stockinger
Wir haben nicht die Möglichkeit, das Belgrader Clubbing zu verlassen. Wir können nicht über Nichtverbleib oder Verbleib entscheiden. Alles, was wir tun, ist nichts. Alles, was wir einatmen, ist nichts. Wenn wir ausgehen, gehen wir von einem Belgrader Club zum nächsten. Wir gehen und gehen immer von einer schlechten Möglichkeit zur nächsten. Wegziehen, nichts anderes als aus dieser Stadt wegziehen, wiederholte Bojana, so Milica, immer wieder. Nur weggehen. Die ganzen Jahre habe ich gedacht, etwas wird sich ändern, ich werde aus Belgrad weggehen, sagte Bojana, aber nichts hat sich verändert (weil sich nichts verändern konnte), so Milica, und sie ist nicht weggegangen. Wenn du nicht rechtzeitig weggehst, sagte Bojana, ist es auf einmal zu spät, und dann kannst du tun, was du willst, aber du kannst nicht mehr weggehen.

Philipp Hauß
Dieses Problem, daß man aus Belgrad nicht weggehen kann, daß man in Belgrad nichts verändern kann, beschäftigt dich dann das ganze Leben, soll Bojana gesagt haben, und du beschäftigst dich mit nichts anderem mehr. Dann wirst du immer hilfloser und schwächer und sagst dir immer öfter, daß du weggehen mußt, und fragst dich, ob es schon zu spät ist, wegzugehen. Wenn wir uns aber fragen, warum wir nicht weggegangen sind, und zwar früh genug weggegangen sind, und zwar im Zeitraum, der der Sättigung vorangeht, wissen wir, warum das so ist, so Bojana zu Milica. Milica sagt: Weil es keine intensiven Veränderungen in Belgrad gibt, wo sich in Wahrheit alles von Grund auf verändern müßte, und alle wollen, daß sich alles verändert von Grund auf, aber das geht nicht, denn wir leben einfach nicht woanders, und das bedeutet,

Marie-Luise Stockinger
Es gibt keine Veränderungen, nichts wird sich ändern, sagt Bojana.
In was für Zustände und an was für Orte ich nicht gelangen konnte in all diesen Jahren, weil es sich um Zustände und Orte handelt, in die du nicht gelangen kannst von Belgrad aus, in Belgrad, sagt Bojana. Auch ich hätte vor drei Jahren Belgrad verlassen sollen, so wie du nach Deutschland gegangen bist, wenn auch unter den fürchterlichsten Umständen, so wie du, aber ich bin nicht gegangen; jetzt empfinde ich diese ganze Clubbingerniedrigung als eine Bestrafung für meine Feigheit.

Mircea Cărtărescu: Die schönen Fremden

Mircea Cărtărescu. Die schönen Fremden

Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner. Zsolnay Verlag, Wien 2016

Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka

Philipp Hauß
Gleich zu Beginn möchte ich meine literarischen Gegner bitten, sich nicht zu früh zu freuen: Es folgen nun keine nennenswerten masochistischen Bekenntnisse darüber, was für ein schlechter Schriftsteller ich bin (oder zumindest gewesen war) oder wie ich über ein Vierteljahrhundert die Welt mit meinen beklagenswerten literarischen Hervorbringungen hinters Licht geführt habe. Es ist nicht meine Art, im Gegenteil. Von meinem Großvater Badislav Dumitru habe ich (so heißt es) zwei charakteristische Eigenschaften geerbt, den Geiz und die Prahlerei. Was Ersteren angeht, so verfügte er darüber ausgiebig — so oft er auch bei uns vorbeikam, groß und verschwitzt, niemals hat er uns Kindern etwas mitgebracht, nicht einmal eine Dörrpflaume. Und an seine Prahlereien erinnere ich mich noch besser. Wenn wir zu ihm nach Tântava kamen und uns um das runde Tischchen setzten, auf dessen nackter Holzplatte die Mӑmӑlige dampfte, holte er die Tonbecherchen hervor, goß jenen dünnen angeräucherten Schnaps ein, der im gesamten Süden literweise getrunken wird, und während sein Blick über die bunt bestickten Tücher und Ikonen an der Wand glitt, legte er los mit der hanebüchensten Rede, die ich je gehört habe.

Marie-Luise Stockinger
Wenn man ihm zuhörte, hätte man meinen können, alles, was sich in seinem Dorf zutrug, sei allein sein persönliches Werk: Er war der Fleißigste von allen, der Gescheiteste, auf ihn hörten alle, er war der Mutigste und — wären da nicht auch seine Töchter, darunter auch Mutter, in der Nähe gewesen — vielleicht hätte er sich auch damit gebrüstet, im gesamten Dorf der beste Besamer zu sein.

Philipp Hauß
»Mich, he? Der will mich verfluchen? Herrje, wie ich ihm eine aufs Maul gegeben hab … Ich, he?
Seine Stimme klingt mir seit meinem vierten Lebensjahr in den Ohren, und ich habe im Lauf der Zeit große Anstrengungen unternommen, sie loszuwerden. Dass er mal eine Schwäche zugegeben hätte, einen Fehler, einen Mangel? Man hätte gesagt, das Jahr seines Todes sei angebrochen. Ich nun, der ich hinsichtlich des Selbstlobs neben ihm ein Zwerg bin, habe immerhin genug davon geerbt, um mir nicht in der Öffentlichkeit Asche aufs Haupt zu streuen.

Ich befand mich in Bukarest, als mir angekündigt wurde, ich würde im Herbst zur Delegation der Zwölf gehören– einer Delegation von zwölf rumänischen Schriftstellern, die für drei Wochen nach Frankreich eingeladen waren.

Als ich mich im November 2004 der Gruppe für Belles Étrangères beigesellte, war ich ein Dutzendschriftsteller, also nichts Außergewöhnliches. Alle waren wir Dutzendschriftsteller…zwölf grimmige Leute, darauf aus, in einer dreiwöchigen Tour Frankreich zu erobern, das literarische Frankreich, aber nicht nur dieses.

Also würde ich aus Wien nach Paris aufbrechen, denn im September sollten wir mit Mann, Frau, Maus und Knabe nach Wien ziehen. Ich sollte ein Jahr lang an der Wiener Universität ein paar Studenten, die ebenso gut Rumänisch sprachen wie ich, in dieser Sprache unterrichten; sie hatten sie von ihren in den siebziger und achtziger Jahren aus dem Land der Sojasalami ins Land der echten Butter geflohenen Eltern gelernt.

Die Ausgewählten für Frankreich waren recht gut, nun ja, weder der Schriftstellerverband noch das damalige Kulturinstitut oder gar eine Kritikerjury hatte die Auswahl getroffen, sondern sie, die Franzosen, die es besser verstanden.

Marie-Luise Stockinger
Jedes Jahr schließen die Franzosen die Augen (ich kümmere mich hier nicht um Institutionen oder Namen: Die Franzosen werden in meiner Geschichte von drei, vier sympathischen Damen vertreten, die eben taten, was sie konnten) und lassen die Erdkugel kreisen, wobei sie aufs Geratewohl mit einer Nadel auf einen Punkt zielen und hoffen, auf Land zu treffen. Dieser Brauch trägt den Namen Belles Étrangères, schöne Fremde.

Philipp Hauß
Seit ich erfahren hatte, dass ich ein solch schönes Wesen sein sollte, war ich neugierig, wer die anderen sein würden, und ich erfuhr; dass dieser Harem alle meine alten Bekannten umfasste. Alle gehörten sie zu den armen Schluckern, die, so wie ich Sojasalami gegessen hatten und trotz der Freiheit nach 1989 noch in den alten Gefilden lebten.

Ich würde sagen, im großen Ganzen war die Truppe okay. Etwa acht von ihnen hätte ich auch selber ausgewählt. Da blieben noch die Fragen der Verträglichkeit: Seltsam, mit fast allen stand ich in guten Beziehungen, zwischen Freundschaft und konventionellem Lächeln. Bis vielleicht auf eine kleine Ausnahme, einer sehr kleinen, die ich besser übergehe.

Marie-Luise Stockinger
Die Stunden vergingen schnell, bei Kaffee und Keksen, in den bequemen Sitzen des Zugs lümmelnd. Frankreich öffnete und schloss sich neben uns wie ein Reißverschluss, verschiedenartig und vielfarbig, mit Gütern und Bepflanzungsflecken, mit elektrischen Windmühlen und Dörfern, deren Häuser wie Puppenhäuser wirkten. Wenn man viel reist, genügt es, im Flugzeug oder im Zug aus dem Fenster zu schauen, und man weiß, in welchem Land man sich befindet. Die Dörfer sind in Frankreich anders als in Deutschland oder Holland, und allesamt sind sie anders als der Anblick eines rumänischen Dorfes aus dem Flugzeug: wie Mäuler mit schwarz gewordenen Zähnen und Blechzähnen, schief übereinander gewachsen, in völliger Unordnung.

Philipp Hauß
In Aix stiegen wir aus und wurden von einem Taxi abgeholt, das uns irgendwohin durch die Dunkelheit fuhr, auf immer gewundeneren und dunkleren Straßen durch dichten Nebel, bis wir bei Einbruch der Nacht zu einer Pension kamen. Wir stiegen aus dem Auto und wurden von lähmender Kälte in Empfang genommen.

Nach dem Essen (das Cassoulet quoll uns beinahe zu den Ohren heraus), wurden wir sogleich in den Saal gebracht, in dem die Lesungen stattfanden. Im Saal waren Gymnasiasten und die hiesigen Schnorrer, die lediglich kommen, um am Schluss den Kuchen aufzuessen. Wir wurden ins Präsidium gebeten, den Dolmetscherjüngling – einen jungen Soldaten – an der Seite. Nach der Begrüßung begann mein eigenes Programm: »Gegenstand meines neuen Buches ist die Weiblichkeit.« Hier legte ich eine kleine Pause für die Übersetzung ein. Der Übersetzer aber schwieg. Er schaute mich mit hingebungsvollen und keuschen Augen an und sagte kein Wort. Ich wiederholte meinen Satz und schaute ihn wieder an, dabei forderte ich ihn mit meinem Blick auf, mit seiner Übersetzung zu beginnen. Woraufhin sich der Soldat zu mir herabbeugte und mir ins Ohr flüsterte: »Mein Herr, was ist das, der Gegenstand?« Ich versuchte es noch zweimal und gab mich dann geschlagen. Der Soldat wusste nicht, was Worte wie »Profil«, »Entschleunigung«, »Metamorphose«, »dynamisch«, »morbid« und Millionen anderer Wörter bedeuteten. Sein Wortschatz bestand wahrscheinlich im Rumänischen wie im Französischen aus etwa dreihundert Wörtern.

Ich las Einiges aus meinen Texten, Mury, mein Kollege sagte das eine oder andere Gedicht auf, dann folgten die gewohnten Fragen, denen wir stets auf unserer französischen Tour begegneten: »Haben Sie in Rumänien Bibliotheken?« »Gibt es Verlage in Rumänien?« »Benutzt ihr die Wasserspülung auf dem Klo?« Und weitere Dinge von dieser Art. Irgendwann konnte Mury, mein Tischnachbar es nicht mehr aushalten und stand stolz wie ein Daker auf der Trajanssäule auf, um zu verkünden: »Mais nous ne sommes pas des sauvages, Madame!«

Marie-Luise Stockinger
Am nächsten Tag war der Nebel so dicht, dass man ihn mit dem Messer hätte schneiden können. Nicht nur die Pyrenäen waren durch das Pensionsfenster nicht mehr zu sehen, denn öffnete man dieses, drang ein dermaßen dichter Dunst ins Zimmer, dass man seine eigene Hand nicht mehr vor den Augen sehen konnte.

Philipp Hauß
Schon am frühen Morgen holten sie uns mit einem Auto ab, das von Reif bedeckt war. Es dauerte eine ganze Weile, bis sich die eisstarre Luft im Inneren so erwärmt hatte, dass man sie einatmen konnte. Wir fuhren langsam über eine leere Straße, die Sicht praktisch null. Die Stille draußen ähnelte jener in »Solaris«, in den Szenen mit dem denkenden Ozean.

Marie-Luise Stockinger
Das Auto hielt vor einem Gebäude, das etwa so aussah wie bei uns in der tiefsten Vorstadt, ein zusammengeschusterter Bau, marode, vom Nebel bedeckt. Die Wände aus grobschlächtigen Lehmziegeln buckelten sich mal nach innen und mal nach außen, beschrieben unterschiedliche Bögen. Es war das einzige Gebäude in der Gegend, weit außerhalb des Dorfes gelegen, und nun, in Nebel gehüllt wie in Filz, wirkte es rätselhaft und verlassen. Bald aber kam Monsieur Not uns in Empfang zu nehmen, er trug einen malerisch verdreckten Arbeitskittel und war ausgestattet mit einem gezwirbelten Schnurrbart und feuerroten Wangen. Es folgte ein „rumänisches Abendmahl“.

Philipp Hauß
Ich weiß nicht, welchem Zweck der gewaltige Saal, den ich stocksteif gefroren betrat gewöhnlich diente, er konnte alles sein, vom Hangar für die größten Boeings bis zur Halle für die Frankfurter Buchmesse. Über die gesamte Länge erstreckten sich lange Tische, wie für eine Hochzeit, und zu beiden Seiten standen Holzbänke. An den Wänden gab es Schautafeln, auf denen bizarres und disparates didaktisches Material präsentiert wurde. Für einen Moment fühlte ich mich in die Vergangenheit und in meine Grundschulklasse zurückversetzt, an deren Wänden die bekannten Schaubilder mit der Kuh, dem Schwein, den schön kalligraphierten Schreib- und Druckbuchstaben sowie mehrere Landkarten von Rumänien hingen, darunter auch eine im Relief, auf der die Karpatengipfel in bröseligem Gips modelliert und schon angeschrammt waren. Entlang der gewaltigen Halle hingen Hirtenjacken, bunt bestickte Leibchen, ebensolche Schürzen, Kopftücher, Leinenhosen, raue Wollhosen, bäuerliche Filzhüte, bestickte Blusen, Mützen, Tuniken, Pluderhosen, Leibgurte, Bundschuhe und dergleichen mehr, all dies sah alt und verstaubt aus, wie die zerfledderten Vögel im Antipa-Museum* (Naturkundemuseum in Bukarest).

Marie-Luise Stockinger
Dazwischen gestreut waren vergilbte, aus rumänischen Zeitschriften gerissene Blätter mit den Klöstern der Nordmoldau, Ochsengespannen und barbusigen Bäuerinnen, die wie rustikale Mädchen aussahen, Souvenirteller mit Schloss Bran, Schilde aus geschnitztem Holz mit dem Antlitz Draculas… Endlos ist die Vorstellungskraft des Menschen, allein sein Hang nach dem Malerischen und Ungewohnten kommt dieser noch nahe! Eine Karte Rumäniens, vom Band der Trikolore konturiert, hing an sehr sichtbarer Stelle an einer der Wände und hätte einen neuerlichen Balkankrieg auslösen können: Ihr so ungeschickter wie enthusiastischer Autor hatte aus Unachtsamkeit große Flecken von Bulgarien, der Ukraine und Moldawien dem rumänischen Staatsgebiet eingegliedert, sodass einem danach war, wie das berühmte Kind in der Lesefibel auszurufen: »Es lebe unser pummeliges Rumänien!«

Philipp Hauß
Schließlich wurde am Kopfende des Saales eine große Leinwand entrollt, die phantastische Bilder zeigte. Was gab es da nicht alles zu sehen?! Pferdewagen, beladen mit altem Eisen, die von Rumänen mit einer Flasche in der Hand gelenkt wurden, überladene Paläste im Pagodenstil mit in der Sonne funkelnden Blechdächern, in deren Toren dicke und fröhliche Rumäninnen mit Zähnen aus dem gleichen Blech standen, die ebenfalls in der Sonne funkelten; Rumänenmädels mit geflochtenen Zöpfen und in Faltenröcken, die sich mit zweifelhaftem Geschmack aufgedonnert hatten und auf der Landstraße per Anhalter weiterkommen wollten; wieder andere Rumänen, die schwarze Fiedeln und die Zimbal spielten; und nochmal Rumänen, die im Türkensitz am Straßenrand saßen und Ringe anfertigten; und wiederum andere Rumäninnen, die aus der Hand lasen.

Marie-Luise Stockinger
Auf diesen Fotos gab es nicht nur Menschen zu sehen, auch Lehmhäuser mit Schilfdächern, die seitlich wegkippten, Kneipen voller Fernfahrer, Gänseherden, die sich mitten auf der Straße in einer Pfütze suhlten, Lumpen an Wäscheleinen. Darüber schwebten hübsche Wolken, die einzigen Dinge, die das französische Publikum ganz leicht wiedererkennen konnte. Die Fotos waren, wie sie waren, aber vor der Leinwand standen, vorerst noch verlassen, in einem graziösen Stillleben, ein grün-perlmutternes Akkordeon, ein Kontrabass, eine Messingtuba und eine Trommel. Kein Zweifel, hier würde sehr bald eine Rumänenband, Emissäre der Spiritualität, die Atmosphäre aufheizen.

Philipp Hauß
Erstaunt bewegten wir uns durch die gewaltige Halle, der Schweiß floss uns plötzlich in Strömen, und unsere Wangen glühten nicht allein aufgrund der Wärme. Was hätten wir nicht alles darum gegeben, wieder draußen zu sein im schneidenden, aber würdigen Frost … Leider wurde uns der Rückzug endgültig von den Einheimischen abgeschnitten, die nun in Gruppen eintrafen und sich, komplizierte Verwandtschaftsverhältnisse und Verschwägerungen bedenkend, an die Tische setzten, auf denen vorerst bloß Teller und Gläser standen. Sie kamen zu Hunderten, sodass man schließlich keine Nadel mehr hätte fallen lassen können. Es waren Menschen vom Lande, die sonntags ins Café neben der Kirche gehen und morgens die Kuh melken und die Enten füttern. Sympathisch, mit schönen Haarschnitten, raumgreifend als Südländer, die sie waren. Und vor allem scharf auf eine neue Erfahrung: jener, sich mühelos ins berühmte Land des großen Dracula versetzen zu lassen, das von sonnengebräunten und windgegerbten Menschen bevölkert ist, wo sie einiges über die Geheimnisse eines guten und gastfreundlichen Menschenschlags erfahren sollten, der auch heute noch so lebte wie die Gallier in den glücklichen Zeiten von Asterix und Obelix. Ein paar hübsche Mädchen setzten sich zu uns, vielleicht um uns zu trösten, und die Zeit bis zur Ankunft des ersten Gangs ihrer spezifisch rumänischen Speise verging schneller. Vor allem da sich vor der Leinwand, von der soeben ein Rumäne mit der Visage von Hannibal Lecter herabgrinste, plötzlich der Bürgermeister in der Positur des Zeremonienmeisters aufpflanzte und, nachdem er seinen Stolz zum Ausdruck gebracht hatte, so berühmte Persönlichkeiten wie Mury und mich als Gäste begrüßen zu dürfen (hier wurden wir beklatscht wie bei einer Oscar-Gala), die Band »Les Gitanes Amoureux« ankündigte, die spezifisch rumänische Musik spielen werde.

Marie-Luise Stockinger
Es waren drei Burschen, die ihrem Aussehen nach wahrscheinlich in den Metros spielten, und ein Mädchen, das… aber das Aussehen kann ja bekanntlich täuschen. Im Handumdrehen hatte sich das Mädchen das Akkordeon umgeschnallt, wie jene Tragetaschen, in denen man die Neugeborenen trägt, und begann, dem elastischen Balg verstörende Akkorde zu entlocken. Die anderen griffen sich ihre Instrumente und, traten ihr bei. Zwei Stunden lang, über die gesamte Dauer dieses Albtraums, greinten die verliebten Zigeuner in etwa sechs, sieben Sprachen, die ganz und gar unverständlich waren (mitunter konnte ich Anklänge von Portugiesisch, Französisch, Rumänisch, Serbisch oder Zigeunerisch, vermengt mit einem internationalen Hafenenglisch, vernehmen), zu einer Musik, deren Herkunft ebenfalls in hohem Maße fragwürdig war: Es waren weder rumänische Gassenhauer noch algerische Musik, weder Klezmer noch Balkanrock, noch Flamenco — sondern etwas ohne Form und Namen, worin einem hin und wieder, wie Goldkörnchen in einem Haufen Schlacke, etwas bekannt vorkam: »Pero no sempre cantaro«, »why, why, why, Delilah«, »lelito, fä«, »kalashnikov«, »buon giorno Italia, buon giorno Maria« …

Philipp Hauß
Die Musik, sagt man, erheitert die Gemüter. Unsere jedenfalls hat sie komplett platt gemacht, vor allem, weil sie sich letztlich den Speisen zugesellte (schließlich waren diese nicht mehr lange zu vermeiden gewesen), den spezifisch rumänischen Gerichten, die der Reihe nach von einer Abordnung alterslos wirkender Frauen in weißen Kittelschürzen, genauso wie die Köchinnen in rumänischen Kantinen, auf die Tische gestellt wurden.

Es war der erste Gang, der in dem von einer Trikolore geschmückten Menü als »Soupe de goulash à la Roumaine« angekündigt war. Bald hatten wir diese verdächtige Flüssigkeit in den tiefen Tellern. »Betörend Wasser, wie finster du hier schwappst!« Man weiß nicht, aus welch seltsamen Innereien sie gemacht, mit welchen bitteren Kräutern, bei Vollmond gepflückt, sie gewürzt worden war. Man konnte sie nicht essen. In der melancholischen Brühe, farblich wie Donauwasser aussehend, konnte man mitunter ihre seltsamen Bewohner erspähen: den einen oder anderen einem Ringelwurm ähnelnder Nudelfaden, etliche Würfel faseriges Rindfleisch, deren eine Seite von einer dicken weißlichen Haut bedeckt war, hin und wieder einen dunkelgrünen Faden Liebstöckel, trocken am Tellerrand, wie ein kleines Krokodil, das in der Sonne brät.

Marie-Luise Stockinger
Wir wagten es, die brackige Substanz zu verkosten: Sie schmeckte nach Grillrauch, als hätte man die Barbecue-Soße gegessen, die man bei McDonald’s bekommt. Niemand aß. Alle schauten die Wände an, taten so, als lauschten sie hingebungsvoll dem Gegreine der Sänger. Uns war danach, vor Scham im Boden zu versinken. Der nächste Gang bestand aus Schaffleisch.

Wer mag bloß auf die Idee gekommen sein, Schaffleisch sei typisch für die rumänische Küche? Wir bemühten uns, etwas davon zu essen. Aber wir kamen nicht über den ersten Bissen hinaus, er war ungesalzen und schmeckte nach Asche und Schaftalg.

Philipp Hauß
Beim Bemühen, es nicht vor aller Augen auszuspucken, kamen mir beinahe die Tränen. »Die halten uns für Moslems«, flüsterte mir Muresan, mein Kollege resigniert zu.

Marie-Luise Stockinger
Als wir halbverhungert und steif vor Kälte wieder in der Pension eintrafen, war es, als hätten wir den lieben Gott am großen Zeh gepackt. Wir warfen uns in die weichen, mit wunderbaren Tüchern bedeckten Fauteuils und begannen, die Kekse aus einer Schüssel auf dem Tisch zu knabbern. Wir aßen sie bis zum letzten Krümelchen auf, dann gingen wir zu den Pfefferminzbonbons in einem weiteren Schüsselchen über.

Philipp Hauß
Ich legte mich schlafen, und bevor ich einschlief, dachte ich kurz darüber nach, was diese lange Reise für mich bedeuten mochte. Nichts, selbstverständlich. Rien de rien. Weil nichts etwas bedeutet, niemals. Gesichter. Ereignisse. Reden. Ansammlungen von Farben und Impressionen, von denen in zehn Jahren nichts mehr übrig sein wird. Anfangs schnitt ich jede Besprechung zu einem meiner Bücher aus und steckte sie in einen Ordner. Mit der Zeit habe ich darauf verzichtet. Ich bewahrte die Fotos in Schuhschachteln auf, hatte darauf ordentlich das Datum und den Ort vermerkt, an dem sie entstanden waren. Ich habe es bleiben lassen. Wie wahr sind doch die Verse: »Und denk ich an mein Leben, so scheint es mir ganz rein. / Erzählt jedoch ganz langsam durch einen fremden Mund / Wird es mir fremd, das kann nicht ich gewesen sein …« Ich habe mich an die Reisen gewöhnt, an die Tourneen, die Lesungen, an die Jahreszeiten und die Schlösser. Ich weiß zwar nicht mehr, in welchem Jahr und mit wem ich jede dieser Reisen unternahm … Ich weiß nicht mehr, wer ich bin, wer ich einmal war…

Barbi Marković aus dem Serbischen von Mascha Dabić.
Mircea Cărtărescu aus dem Rumänischen von Ernest Wichner.
Lesung Fassung Burgtheater: Rita Czapka.


Diese Texte sind urheberrechtlich geschützt: © Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009, Zsolnay Verlag, Wien 2016.

Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Mircea Cărtărescu, Martin Pollack und Barbi Marković. Foto: © Burgtheater/Reinhard Werner.

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

Die Geburt der Kultur aus dem Geist der Revolution

“Kunst umspannt das Leben.”

Unser Familiengarten

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