Alexander der Bot
Der Twitter-Krieg um die mazedonische Seele
04. März 2020
Erstmals veröffentlicht
18. Dezember 2019
Quelle
Von „Ghost-Usern“ bis hin zu „Cyborg-Bots“ – eine Untersuchung von BIRN zeigt auf, wie Nationalisten in Ländern wie Nordmazedonien oder Griechenland zur Mobilisierung der Massen automatisierte Armeen auf die sozialen Medien loslassen.
Als die Sonne hinter den Dächern der nordmazedonischen Stadt Bitola nahe der Südgrenze zu Griechenland verschwand, nippte der Mann, den sie „Cheese“ nennen, in der Fußgängerzone Sirok Sokak an einem Bier. Das Bild der untergehenden Sonne konnte passender nicht sein. Es war der 12. August, der Tag, an dem in Nordmazedonien die Verwendung der Sonne von Vergina – ein griechisches Nationalsymbol – in Büchern, auf Denkmälern und im öffentlichen Raum verboten wurde. Für Cheese war das Verbot der „Aneignung“ des klassischen hellenischen Symbols mit seinen markanten spitzen Strahlen der jüngste Akt der Kapitulation in einem erbitterten Kampf um die mazedonische Identität.
Das Verbot war Teil eines historischen Abkommens mit Griechenland, das einen 30-jährigen Streit über die Verwendung des Namens „Mazedonien“ seines Landes beenden sollte – ein Konflikt, der nach Ansicht Athens die territorialen Ansprüche auf die gleichnamige nordgriechische Provinz und ihr antikes Vermächtnis Alexander des Großen durchblicken ließ. Gemäß dem im Juli 2018 unterzeichneten Abkommen mussten in der ehemaligen jugoslawischen Republik Karten und Lehrbücher geändert, die Verwendung der Sonne von Vergina überall eingestellt und das Land in „Nordmazedonien“ umgetauft werden – der ultimative Verrat, wie Cheese befand. Er saß in der Abenddämmerung in einem Straßencafé und schwor sich, den neuen Namen niemals über seine Lippen kommen zu lassen. „Ich bin Patriot und ich will einfach nicht, dass der Name meines Landes geändert wird“, erklärte er gegenüber BIRN.
Auch wenn nur wenige seine wahre Identität kennen, sind seine nationalistischen Überzeugungen weithin bekannt. Cheese heißt eigentlich Goran Kostovski, ist 38 Jahre alt und Mitarbeiter einer in der Hauptstadt Skopje ansässigen Marketingfirma. Mit beinahe 10.000 Twitter-Followern auf drei Kontinenten startete Kostovski 2018 eine Social-Media-Kampagne, die das mazedonische Volk zum Boykott eines Referendums über die Umsetzung des Namensänderungsabkommens aufrief, das nach dem See, an dem es unterzeichnet wurde, als Prespa-Abkommen bekannt ist. Während der Prespa-Vertrag versprach, den Widerstand Griechenlands gegen die Hoffnung des Landes auf einen NATO- und EU-Beitritt zu lockern, ging der Kompromiss Kritikern zu weit. Sie hofften, dass eine niedrige Wahlbeteiligung bei dem für September 2018 angesetzten Referendum zu einem ungültigen Ergebnis führen würde. „Es war zwecklos, alle aufzufordern, beim Referendum mit Nein zu stimmen, weil wir befürchteten, dass die Regierung das Ergebnis verfälschen würde“, so Kostovski. „Als Erstes galt es, das Referendum zu boykottieren.“
Die „#boycott“-Kampagne, die im Inland zu Straßenprotesten führte und die Diaspora im Ausland zur finanziellen Unterstützung aufrief, erwies sich als Riesenerfolg. Zwar sprachen sich 95 Prozent der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Referendum für die Namensänderung aus, doch die Wahlbeteiligung lag mit 37 Prozent deutlich unter der 50-Prozent-Mindestschwelle. Das Prespa-Abkommen wurde später dennoch vom Parlament ratifiziert. Die erfolgreiche Wählerbeeinflussung war jedoch laut Experten zum Teil auf eine neue Art von Informationskrieg zurückzuführen, der in nationalistischen Kreisen zunehmend zu beobachten ist. Das Oxford Internet Institute der Universität Oxford spricht von einem „Zusammenspiel von Algorithmen, Automatisierung und Politik“, auch bekannt als „computergesteuerte Propaganda“.
Nur wenige beherrschen diese Kunst besser als Kostovski, auch wenn er sich, was seine Methoden betrifft, nicht gern in die Karten schauen lässt. „Auch wenn behauptet wird, dass wir Bots sind, bedeutet das nicht, dass es stimmt“, erklärte er und bezog sich dabei auf die neuen Fußsoldaten des Online-Propagandakriegs: gefälschte Twitter-Konten, die so programmiert sind, dass sie sich wie Menschen verhalten. „Wir haben alle in die Irre geführt, sodass keiner weiß, woher unsere Kampagne kommt und wo man zuerst suchen muss.“ Während Troll-Farmen und Fake-News-Fabriken aus der Balkanregion in aller Munde sind, ist wenig darüber bekannt, wie sich die Computer-Propaganda auf das Wirken der Demokratie in der Region auswirkt.
Eine BIRN-Untersuchung über nationalistische Netzwerke auf beiden Seiten des Namensstreits entlarvt die Online-Tricks, die zur Verstärkung politischer Botschaften und zur Verzerrung der öffentlichen Meinung eingesetzt werden. Es ist eine Reise in die Unterwelt der Computercodes und Verschwörungstheorien, in der „Ghost-User“ und „Twitter-Bots“ in einem digitalen Spiegelkabinett auf rechtsextremistische Ideologien treffen. Der Wirbel, den diese Aktivitäten auslösen, ist ebenso fingiert wie die Inhalte, die sie verbreiten. Sie sind allein darauf ausgerichtet, den falschen Eindruck einer riesigen Online-Unterhaltung zu erwecken, damit Meinungsmacher wie Journalisten und Aktivisten hellhörig werden. Auf diese Weise, so meinen Experten, kann eine kleine Gruppe von Computerfreaks mit ihren Laptops einen Einfluss ausüben, der in keiner Relation zu ihrer tatsächlichen Größe steht. Das hat beunruhigende Auswirkungen auf den demokratischen Diskurs.
Desinformationsflut
Am Regierungssitz in Skopje werden Besucherinnen und Besucher, die sich den ionischen Säulen des Gebäudes nähern, das vor fünf Jahren im Stil des Weißen Hauses in Washington umgestaltet wurde, vom neuen offiziellen Namen des Landes – Republik Nordmazedonien – begrüßt. Nur einen Steinwurf entfernt thront am Hauptplatz der Stadt eine Statue von Alexander dem Großen hoch zu Ross über einem Brunnen im klassizistischen Stil – das Ergebnis einer vom Steuerzahler finanzierten Neugestaltung von Skopje, die der Stadt einen pseudoantiken Charakter verleihen soll. Nach Ansicht vieler habe die Regierung unter dem damaligen Ministerpräsidenten Nikola Gruevski mit der 2010 von ihr angekündigten Umgestaltung Griechenland eine lange Nase gezeigt, nachdem Athen 2008 ein Veto gegen den NATO-Beitritt Mazedoniens eingelegt hatte.
“Sie wollten die Nachrichtenseiten dazu zu bringen, diese Tweets aufzurufen und wiederzugeben, um die Informationen glaubwürdiger zu machen. Dann haben sie die Twitter mit diesen Inhalten überflutet.”
In der Regierungszentrale erinnerte sich Demijan Hadzi-Angelovski, ein 28-jähriger Social-Media-Experte im Informationsministerium, daran, wie etwa zehn einflussreiche Twitter-Accounts im Vorfeld des Prespa-Referendums versuchten, die Nachrichten zu dominieren. Drei Mal pro Tag habe ein anderer Nutzer einen oder zwei provokante Tweets abgesetzt, die dann von einer Armee von automatisierten Konten geliked und geteilt wurden, erzählte er. Die Idee dahinter war, einen „Trend“ auf Twitter auszulösen, der von großen Nachrichtenaggregatoren wie Time.mk aufgegriffen werden sollte. „Sie wollten die Nachrichtenseiten dazu zu bringen, diese Tweets aufzurufen und wiederzugeben, um die Informationen glaubwürdiger zu machen“, sagte er. „Und dann haben sie Twitter mit diesen Inhalten überflutet.“
Laut Informationsminister Damjan Manchevski, der die Pro-Prespa-Referendumskampagne leitete, war ein Großteil der recycelten Inhalte gefälscht und sollte das Abkommen diskreditieren. „Über zehn Prozent der Posts damals waren reine Fehlinformationen“, erklärte Manchevski gegenüber BIRN in einem Interview. „Die Twitter-Bots waren die Hauptquelle für Falschnachrichten.“
Fälschlicherweise wurde etwa behauptet, dass Menschen, die in der Nähe des größten Militärstützpunktes des Landes in der zentralen Region Krivolak leben, durch abgereichertes Uran vergiftet werden würden, das man zu militärischen Ausbildungszwecken importieren müsste, sollte die Regierung den Prespa-Vertrag ratifizieren und in Folge der NATO beitreten. Im Zuge einer Untersuchung des Organised Crime and Corruption Reporting Project und des Investigative Reporting Lab Macedonia (IRL) konnte Zlatko Kovac, ein 50-jähriger US-Mazedonier, der als Kolumnist für die russische Nachrichtenagentur Sputnik in Washington arbeitet, als Urheber dieser Story identifiziert werden. Kovac reagierte nicht auf die Bitte von BIRN um eine Stellungnahme. „Kovac arbeitet mit einer Reihe von Webseiten in [Nord-]Mazedonien zusammen, die Teil des Propagandamechanismus gegen das Prespa-Abkommen sind,“ meinte Saska Cvetkovska, die Chefredakteurin von IRL. „Kovac startete die Geschichte auf Facebook, die Nachricht wurde sofort auf Twitter gepostet, von Dutzenden Bots geteilt und dann von mehreren konservativen Online-Medien … als normale Pressemeldung veröffentlicht.“
Die Folge dessen war, dass Verteidigungsministerin Radmila Šekerinska eine Woche lang verzweifelt versuchte, den Leuten zu versichern, dass an der Sache nichts dran war, erzählte Cvetkovska. In den Tagen vor dem Referendum schlichen sich weitere Schauergeschichten in die Mainstream-Nachrichten. In den Medien wurde berichtet, dass man strafrechtlich belangt werden könne, wenn man dem Prespa-Abkommen nicht zustimmte, dass die Notwendigkeit, neues Geld zu drucken, zu einer massiven Inflation führen würde und dass Griechenland einen Freibrief bekommen würde, zu tun, was immer es wolle. Nichts davon passierte zufällig.
„Cyborg-Bots“
Im Vorfeld des Referendums stellte die Transatlantische Kommission für Wahlintegrität, eine Initiative der in Dänemark ansässigen Stiftung Alliance of Democracies, mithilfe ihrer Social-Media-Überwachungstools eine Zunahme von Bot-Aktivitäten fest. „Es gibt eindeutig eine konzertierte Anstrengung, die mazedonische Bevölkerung in ihren demokratischen Rechten zu behindern und das Referendum zu delegitimieren“, heißt es in einer Erklärung. Zwei Wochen vor dem Referendum veröffentlichte das Digital Forensic Research Lab (DFRLab) der US-amerikanischen Denkfabrik Atlantic Council, das digitale Propaganda überwacht, Untersuchungen, die zeigen, dass rechtsextreme Twitter-Konten die Boykottkampagne ankurbelten.
“Es gibt eindeutig eine konzertierte Anstrengung, die mazedonische Bevölkerung in ihren demokratischen Rechten zu behindern und das Referendum zu delegitimieren.”
Über einen Zeitraum von neun Tagen analysierten die Forscher alle Tweets mit den Hashtags „#Бојкотирам“ und „#bojkotiram“ (#boykott) – es waren rund 23.800. Wie sich herausstellte, handelte es sich bei mehr als 80 Prozent tatsächlich um Retweets. Das Verhältnis von Retweets zu Originalinhalt lag bei 4:1, was auf eine ungebremste Automatisierung schließen ließ. „Es gab gut koordinierte, nicht authentische Aktivitäten, die jede normale Twitter-Unterhaltung zunichtemachten“, meinte DFRLab-Forscher Kanishk Karan gegenüber BIRN. „Anstatt über diese Konten zu diskutieren, überschütteten sie andere mit Spams und bombardierten sie mit Tausenden Erwähnungen und Retweets.“ Das DFRLab identifizierte die neun aktivsten Twitter-Konten, die dafür sorgten, dass sich die Kampagne wie ein Virus verbreitete – Kostovskis „Cheese“-Konto war eines davon.
Laut Kostovski hatte die Kampagne drei Haupträdelsführer: ihn selbst, einen befreundeten Blogger namens Igor Pipovski (dessen Nutzername „@m0rban“ eine Reverenz an den populistischen ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán ist) und Zarko Hristovski, ein mazedonischer Webentwickler, der in Norwegen lebt und die Kampagnenwebseite erstellt hat. „#Бојкотирам gehört dem mazedonischen Volk“, twitterte Pipovski an BIRN, als er nach seiner Rolle in der Kampagne gefragt wurde. „Niemand sollte die Lorbeeren alleine dafür einheimsen.“ BIRN gelang es nicht, mit Hristovski Kontakt aufzunehmen. Kostovski erläuterte jedoch die Weltanschauung, die ihm zufolge alle anspornte. „Wir leben mitten in einem digitalen Krieg“, erklärte er BIRN. „Wir Nationalisten und Patrioten auf der einen Seite und die Internationalisten, Kommunisten und ehemaligen Kommunisten und Sozialdemokraten auf der anderen.“
“Wir leben mitten in einem digitalen Krieg. Wir Nationalisten und Patrioten auf der einen Seite und die Internationalisten, Kommunisten und ehemaligen Kommunisten und Sozialdemokraten auf der anderen.”
Cheese macht keinen Hehl aus dem Zweck seines Accounts – dem laut einer Analyse des Online-Überwachungstools StatCounter jeder dritte Twitter-Nutzer in Nordmazedonien folgt. In einem angehefteten Tweet am oberen Ende seines Twitter-Streams heißt es: „Ein Ort, an dem Sie jede Menge Banner, GIFs, Memes und anderes Propagandamaterial finden, das für eine erfolgreiche Social-Media-Kampagne von Nutzen ist. Vernetzen wir uns gegen das verheerende Referendum, das unsere Identität verändern soll.“
In vielerlei Hinsicht hat Kostovski mit den weißen Rassisten der alternativen Rechten in den Vereinigten Staaten ebenso viel gemeinsam wie mit den mazedonischen Nationalisten. Seine Twitter-Posts strotzen vor rechtsextremen Symbolen und Verschwörungstheorien. Als Twitter-Profilbild hatte er früher ein Comic-Bild von Pepe dem Frosch, einem beliebten Symbol der alternativen Rechten. Heute ist auf seinem Header ein großes „Q“ abgebildet, eine Anspielung auf die populäre rechtsextreme Verschwörungstheorie „QAnon“, der zufolge ein so genannter „Deep State“ ein Komplett gegen US-Präsident Donald Trump schmiedet. In einem seiner seltenen öffentlichen Auftritte sprach Kostovski zwei Tage vor dem Referendum auf einer Kundgebung in Skopje. Auf seiner Kappe prangte der Buchstabe „Q“ und sein T-Shirt trug die Aufschrift „Make America Great Again“.
„Wir alle kämpfen gegen den ‚Deep State‘ und die Globalisierung“, erklärte Kostovski gegenüber BIRN. „Wir haben die gleichen Feinde und ähnliche Ideologien.“ Er zählte die Populisten auf, die ihn inspirieren: Trump, Orbán, die französische rechtsextreme Oppositionsführerin Marine Le Pen und der Brite Nigel Farage, Gründer der Brexit-Partei. In vielen seiner Twitter-Posts findet auch Trumps ehemaliger Stratege Steve Bannon Erwähnung. „Wir waren begeistert von Trumps Wahlkampf und versuchten, seine Methoden und Symbole zu kopieren“, meinte Kostovski. „Wir wollten die Leute vor allem glauben machen, dass Steve Bannon in die [#boycott]-Kampagne involviert war.“ In einem Tweet im August 2018 behauptete er, dass die „illegale und verräterische“ Regierung von Ministerpräsident Zoran Zaev bei US-Milliardär und Philanthrop George Soros – einer bekannten Hassfigur unter rechtsextremen Gruppen – in der Pflicht stehe. „Boykottieren Sie das illegale #Referendum für das Nazi-#Abkommen“, fügte er hinzu.
Kostovski beharrte darauf, dass an ihm und seinen Mitstreitern im Netz absolut nichts Außergewöhnliches sei. „Wir alle sind ganz normale Menschen, mit normalen Jobs und Familien, und die meisten von uns wollen in den sozialen Medien anonym bleiben.“ Die Untersuchung von BIRN zeigt jedoch, dass hinter Kostovskis Anonymität mehr steckt, als man vermuten würde. Mithilfe einer Webcrawler-Anwendung namens Twitterbots, einem vom Athener Softwareingenieur Dimitris Papaevangelou entwickelten Tool zur Bewertung der Wahrscheinlichkeit von Bot-Aktivitäten, analysierte BIRN den Twitter-Output von Cheese und stellte fest, dass er im Durchschnitt beinah 110 „Aktionen“ pro Tag durchführt.
Informatikern zufolge deutet eine Anzahl von über 70 Aktionen – Tweets, Retweets, „Gefällt-mir“-Markierungen und andere Interaktionen – darauf hin, dass Bots am Werk sind. Während Kostovski behauptete, nur in den Anfangstagen der #boycott-Kampagne auf Automatisierung gesetzt zu haben, bestätigte die BIRN-Analyse, dass seine Cheese-Persona das ist, was man in der Computer-Propaganda-Branche als „Cyborg-Bot“ bezeichnet – halb Mensch, halb Maschine. Diese Hybride kommen durch eine Kombination aus automatisierten algorithmischen Abläufen und menschlichen Eingriffen zustande, mit dem Ziel, die Anti-Bot-Abwehr von Twitter zu umgehen, da automatisierte Aktivitäten auf der Social-Media-Plattform strikt verboten sind.
“Die sozialen Medien sind also der Ort, an dem man mit der richtigen Taktik und fünf Personen den Eindruck erwecken kann, dass fünf Millionen Menschen über ein Thema reden.”
Ben Nimmo, ein Spezialist für digitale Propaganda des Atlantic Council, bezeichnete den Einsatz solcher Bots als „Zahlenspielerei“. „Wenn Sie eine ausreichende Anzahl falscher Konten erstellen und diese automatisieren, dann besteht die Chance, dass diese in der Liste von Themen, über die gerade diskutiert wird, auftauchen“, erklärte er in einem Interview anlässlich einer kürzlich durchgeführten Untersuchung des in Athen ansässigen Mediterranean Institute for Investigative Reporting (MIIR). „Die sozialen Medien sind also der Ort, an dem man mit der richtigen Taktik und fünf Personen den Eindruck erwecken kann, dass fünf Millionen Menschen über ein Thema reden.“
Eine detaillierte Untersuchung des Netzwerks von Cheese mittels der Analysesoftware SparkToro ergab, dass mehr als 38 Prozent seiner Follower als „unecht“ eingestuft wurden – wahrscheinlich handelt es sich dabei um Bots oder andere Tools computergesteuerter Propaganda. Auf die Frage, was gegen solche Aktivitäten unternommen wird, verwies Twitter BIRN auf seine kürzlich aktualisierte Richtlinie gegen sogenannte „Plattformmanipulationen“, zu denen unter anderem Spam, „böswillige Automatisierung“ und die Verwendung von Fake-Accounts zählen. Das Unternehmen gab bekannt, dass im Mai 2018 mehr als 9,9 Millionen potenzielle Spam- oder Bot-Accounts identifiziert und überprüft wurden. Im September vermeldete Twitter jedoch „einen knapp 50-prozentigen Rückgang der Anti-Spam-Überprüfungen gegenüber dem letzten Berichtszeitraum“.
Diaspora-Dollar
Laut Kostovski sprangen nationalistische Politiker bereitwillig auf den #boycott-Zug auf und sprachen sich gegen den Prespa-Vertrag aus. Unter ihnen war Filip Petrovski, ein ehemaliger Abgeordneter der rechtsgerichteten Oppositionspartei VMRO DPMNE, der an den „Mazedonien-Boykotten“, einer Koalition von knapp 30 kleinen rechten Parteien, politischen Fraktionen und Bürgervereinigungen, beteiligt war. Kostovskis selbst gibt an, er habe sich im Sommer 2018 mit Petrovski getroffen, um Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu besprechen. Petrovski bestätigte gegenüber BIRN, dass er aktiv an der Boykott-Kampagne beteiligt war. Die offizielle Position der VMRO DPMNE – der wichtigsten Oppositionspartei – zum Referendum war, dass die Bürgerinnen und Bürger bei der Abstimmung ihrem Gewissen folgen sollten. Kritiker sind jedoch der Überzeugung, dass der nationalistische Flügel der Partei entschieden gegen das Prespa-Abkommen war.
“Viele reiche Leute aus der Diaspora mit Verbindungen sahen, was wir in den sozialen Medien taten und erhöhten unseren Einfluss.”
„Wir haben stichhaltige Beweise dafür, dass diese Online-Angriffe von der VMRO-Opposition ausgingen, auch wenn es nicht die heftigsten waren“, erklärte Informationsminister Manchevski gegenüber BIRN. Der schärfste Widerstand gegen Prespa sei vielmehr von im Ausland lebenden Mazedonierinnen und Mazedoniern gekommen. Er nannte das Beispiel eines Geschäftsmannes aus Toronto namens Bill Nikolov, Präsident des Macedonian Human Rights Movement International in Kanada. „Die extremsten Mitglieder der Diaspora, wie er, sind Einwanderer der zweiten Generation, die nur wenige Male in Mazedonien waren, um Urlaub zu machen“, so Manchevski. Kostovski erzählte, dass Nikolov eine Anti-Prespa-Plakatkampagne in Skopje finanziert habe, nachdem sein Zorn im Netz entfacht wurde. „Viele reiche Leute aus der Diaspora mit Verbindungen sahen, was wir in den sozialen Medien taten und erhöhten unseren Einfluss“, sagte er. „Bill Nikolov war einer von ihnen.“
Von BIRN um eine Stellungnahme gebeten, twitterte Nikolov: „Kein mazedonischer Politiker (egal welcher politischen Partei) hat das Recht, über unseren Namen, unsere Identität und unsere Geschichte zu verhandeln oder diese zu ändern. Sie attackieren und verbreiten Lügen über diejenigen, die unsere grundlegenden Menschenrechte schützen wollen, sich aber nicht gegen jene zur Wehr setzen, die keinen Hehl daraus machen, unsere Identität auslöschen zu wollen.“
Kostovski erzählte BIRN, dass die #boycott-Bewegung von Todor Petrov mehrere tausend Euro erhalten habe. Petrov ist der Vorsitzende des Mazedonischen Weltkongresses, einer Nichtregierungsorganisation mit Sitz in Skopje, die Diaspora-Mitglieder in den Vereinigten Staaten, Kanada, Australien, Italien und Deutschland hat. Petrov hatte sich 1991 dafür ausgesprochen, die Sonne von Vergina auf die neue Landesflagge zu setzen. Sein Mazedonischer Weltkongress gilt gemeinhin als eine ultranationalistische Bewegung. „Der Mazedonische Weltkongress hat Verbindungen zu vielen Mazedonierinnen und Mazedoniern auf der ganzen Welt und es ist wahr, dass viele von ihnen für den Boykott des Referendums im letzten Jahr geworben haben“, so Petrov zu BIRN.
Indes hätten Kostovski zufolge andere Politiker versucht, „auf der Welle zu reiten, die wir losgetreten haben. Und sie alle forderten – und erhielten – eine Menge Geld von der mazedonischen Diaspora.“ Ein solcher Nutznießer sei Janko Bacev, Präsident der prorussischen Partei Einheitliches Mazedonien, sagte er – auch wenn BIRN die Behauptung nicht überprüfen konnte. Auf die Anfrage von BIRN meinte Bacev: „Ich werde mich nicht zu Provokateuren äußern, die für die Marionettenregierung in Mazedonien arbeiten.“ Bacev wurde im Juni 2018 bei einer gewaltsamen Anti-Prespa-Demonstration vor dem Parlament gesehen, die die Polizei mit Tränengas und Blendgranaten niederschlug.
„Wir wollen unseren Namen wiederhaben“
Die Untersuchung von BIRN ergab, dass griechische Nationalisten auf der anderen Seite der Grenze ebenfalls auf computergesteuerte Propaganda zurückgriffen, um eine Gegenbewegung gegen den Prespa-Vertrag anzuheizen. Auch hier spielten Diaspora-Aktivisten eine Rolle dabei, Online-Propaganda in Straßenaktionen umzusetzen. Die Wut auf den Prespa-Deal entfachte die größten Proteste in Athen und Thessaloniki seit der griechischen Schuldenkrise. „Hier geht es um ein geografisches Gebiet, in dem im 20. Jahrhundert große Bevölkerungsgruppen aus wirtschaftlichen und politischen Gründen gezwungen waren, zunächst in die USA, nach Kanada und dann nach Australien auszuwandern“, erklärte Tasos Kostopoulos, ein Historiker und Enthüllungsjournalist der Athener Tageszeitung Efimerida ton Sintakton. „Es sind genau diese Menschen, vor allem die zweite und dritte Generation, die in einen wütenden, online geführten Kampf verwickelt sind und sich auf Twitter mit Hunderten Trollen und Bots gegenseitig beschimpfen.“
Eine der lautesten griechischen Stimmen in der digitalen Kakophonie ist, wie Cheese, ein Mensch-Maschine-Hybrid, ergab die Untersuchung von BIRN. „ICH BIN EINE GRIECHISCHE MAKEDONIERIN!“ heißt es im Twitter-Profil von „Pallas Athene“ unter einem Bild der Sonne von Vergina. „Wir 3,5 Millionen griechischen Makedonier sind es leid, unserer IDENTITÄT, GESCHICHTE, SYMBOLE UND UNSERES NAMENS beraubt zu werden! Wir wollen unseren Namen Makedonien zurück!“
Die schiere Anzahl der Tweets des Pallas-Athene-Kontos – rund 478.000 in fünf Jahren – ist ein klares Indiz für automatisierte Abläufe, auch wenn viele Inhalte eindeutig auch von Menschen erstellt wurden. Aus einer Analyse mit TweetBotOrNot, einer Softwareanwendung, die maschinelles Lernen nutzt, um Twitter-Accounts auf von Bots oder Menschen kreierte Inhalte zu untersuchen, geht hervor, dass eine fast 70-prozentige Chance besteht, dass Pallas Athene ein Cyborg-Bot ist.
Mithilfe hoch entwickelter Metriken und Überwachungswerkzeuge extrahierte und analysierte BIRN den Konto-Output einer Woche – es waren mehr als 2.500 Tweets und Retweets. Die Auswertung der Zahlen ergab, dass Pallas Athenes Online-Aktionen – ob von Menschen gesteuert oder nicht – innerhalb von nur sieben Tagen möglicherweise nicht weniger als 9,7 Millionen andere Twitter-Nutzer erreichten. Die Geolokalisierungsanalyse zeigte, dass sich diese Nutzer an 106 Orten auf der ganzen Welt befanden – von Athen über Toronto, Caracas und Miami bis nach Melbourne. Expertenmeinungen zufolge veranschaulichen diese Zahlen die Macht der Computer-Propaganda, aus einem einzigen Konto eine immer größer werdende Echokammer zu schaffen.
Auf Anfrage von BIRN meldete sich die Besitzerin des Pallas-Athene-Kontos: „Schätzchen, ich bin kein Bot.“ Sie gab sich als Makedonierin aus, die in Schweden sesshaft geworden ist und seit 2014 regelmäßig twittert, nachdem sie gesehen hatte, dass „Menschen aus Skopje behaupteten, sie hätten unter dem Völkermord durch die Griechen gelitten“. „Unvorstellbar“, schrieb sie. „Ich komme aus [der antiken Stadt] Pella von Alexander dem Großen und meine Großmutter Helena erzählte mir immer von den Verbrechen der Bulgaren und Türken in der Gegend.“
Schätzchen, ich bin kein Bot.
„Ich fing an, mir alte Zeitungsartikel näher anzusehen und verstand, dass sie [die Leute, die im heutigen Nordmazedonien leben] die wirklichen Verbrechen begingen. Also begann ich, aktiv zum Thema Mazedonien zu twittern.“ Im April 2018 geriet sie sich in einer öffentlichen Twitter-Diskussion mit Cheese in die Haare.
„Gute Nacht, meine griechische Landsmännin“, verspottete Cheese sie. „Gute Nacht von einem Mazedonier aus Mazedonien.“ Pallas Athene antwortete: „ICH BIN EINE GRIECHISCHE MAKEDONIERIN AUS EDESSA PELLA IM ECHTEN ANTIKEN GRIECHISCHEN MAKEDONIEN, DER GEGEND, IN DER ALEXANDER DER GROSSE GEBOREN WURDE! Dein Land war nie Teil des antiken Makedoniens Griechenlands.“ Nach weiteren derartigen Wortwechseln blockierten sich die beiden Cyborg-Bots gegenseitig auf Twitter und wandten sich anderen Themen zu.
Für Nikos Smyrnaios, Professor für politische Ökonomie, Medien- und Internetsoziologie an der Universität Toulouse, lässt sich dieser Hass nicht allein der Technologie zuschreiben. „Es war nicht die Technologie, die in beiden Ländern zu dieser starken Polarisierung geführt hat, sondern genau diejenigen Gesellschaften, die jahrzehntelang die Voraussetzungen dafür schufen, dass diese computergesteuerte nationalistische Propaganda wachsen und Wurzeln schlagen konnte“, sagte er.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 18. Dezember 2019 auf Balkaninsight.com.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Kostas Zafeiropoulos, bearbeitet von Timothy Large. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: In Mazedonien rufen Nationalisten 2018 zum Boykott eines Referendums über ein historisches Abkommen mit Griechenland zur Änderung des Staatsnamens auf. Foto: © Robert Atanasovski / AFP / picturedesk.com
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence, unterstützt von der ERSTE Stiftung in Kooperation mit dem Balkan Investigative Reporting Network.