„Langfristige Stagnation“
Kroatien ist mit einem anhaltenden Bevölkerungsrückgang konfrontiert.
Die Bevölkerung des jüngsten EU-Mitgliedslands nimmt seit Langem unablässig ab – ein Trend, den bislang keine Regierung umkehren konnte.
Es ist kein einfaches Unterfangen, Kroatien und die Welt davon zu überzeugen, dass es über die Bevölkerungsentwicklung Positives zu berichten gibt. Aber genau das ist die Aufgabe von Ivica Bosnjak, den für demografische Belange zuständigen stellvertretenden Minister im kroatischen Ministerium für Demografie. Bosnjaks Aussagen zufolge hat die Abwanderung im vergangenen Jahr ihren Höchststand erreicht und die gestiegene Anzahl an Geburten im Jahr 2018 gibt Anlass zu Optimismus.
Im Jahr 2020 werde sich der Bevölkerungsrückgang Kroatiens stabilisieren und fortan werde es dank des Regierungsprogramms zu einem Bevölkerungswachstum kommen, erklärte Bosnjak. Niemand kann in die Zukunft schauen, aber die konkreten Daten der Vergangenheit weisen auf einen unablässigen Bevölkerungsschwund hin. Nach Angaben des Statistischen Amts der EU (Eurostat), dessen Zahlen auf Daten der Mitgliedstaaten basieren, hatte Kroatien Anfang 2019 eine Bevölkerung von 4,07 Millionen Menschen. Das ist der niedrigste Stand seit 1957.
Kresimir Ivanda, leitender Demograf an der Universität Zagreb, ist der Ansicht, dass heute noch weniger Menschen im Land leben, nämlich 3,95 Millionen. Im Jahr 1960 belief sich die Bevölkerungszahl nach Angaben des kroatischen Statistikamts auf 4,14 Millionen Menschen. Diese Zahl stieg jedes Jahr weiter an, bis sie gemäß der letzten jugoslawischen Volkszählung 1991 mit 4,78 Millionen ihren Höchststand erreichte. Wie im restlichen Jugoslawien ist diese Zahl darauf zurückzuführen, dass auch nicht ansässige Gastarbeiter und ihre Familien statistisch erhoben wurden.
Aus den Untersuchungen von Damir Josipiović vom Institut für ethnische Studien in Ljubljana (Slowenien) geht hervor, dass 1989 tatsächlich 4,46 Millionen Menschen in Kroatien lebten. Nach Angaben des kroatischen Statistikamts waren es 4,51 Millionen. Während des Krieges kam es zu einer Abwanderung von Serbinnen und Serben aus Kroatien und einem Zustrom von etwa 200.000 Kroatinnen und Kroaten aus Serbien und Bosnien und Herzegowina. Seither ist die Bevölkerung Kroatiens aufgrund der niedrigen Geburtenziffer und der alternden Bevölkerung rückläufig. Kroatische Frauen bekommen durchschnittlich 1,44 Kinder, was nicht nur unter dem für die Reproduktion der Bevölkerung eines Landes erforderlichen Niveau von 2,1 liegt, sondern auch den zweitniedrigsten Wert aller sieben Länder des ehemaligen Jugoslawiens darstellt.
Im Jahr 2018 wurden in Kroatien knapp 37.000 Babys geboren, beinah 400 mehr als 2017 – dieser Anstieg ist jedoch kaum groß genug, als dass man von einem Aufwärtstrend sprechen könnte, so Bosnjak. Zudem war 2017 das geburtenschwächste Jahr seit 1960. Damals kamen in der Republik 76.156 Babys zur Welt. Selbst 1992, sprich in einem Jahr, das dem schlimmsten Kriegsjahr in Kroatien folgte, wurden 46.970 Geburten verzeichnet, wobei die meisten Geburten in den damaligen abtrünnigen serbischen Regionen vermutlich nicht in die Statistiken einflossen.
Verschiedene kroatische Regierungen haben versucht, das demografische Problem in den Griff zu bekommen, bislang jedoch ohne Erfolg. Im Jahr 2017 wurde zur Koordinierung der Maßnahmen auf staatlicher Ebene ein „Rat für den Bevölkerungsaufschwung“ gegründet. Eine neue Strategie zur Eindämmung und Umkehr des kroatischen Bevölkerungsrückgangs ist in Vorbereitung und soll die nationale Bevölkerungspolitik aus dem Jahr 2006 ablösen. Bosnjak zufolge würden große Summen in alle nur erdenklichen Bereiche investiert, von Kindergärten bis hin zur Landwirtschaft, insbesondere in Gebieten, die sich – wie der Osten des Landes – in den letzten 25 Jahren entvölkert haben.
EUROPE’S FUTURES
Europa erlebt seine dramatischste und herausforderndste Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Das europäische Projekt steht auf dem Spiel und die liberale Demokratie wird sowohl von innen als auch von außen gefordert. Von allen Seiten der staatlichen und nicht-staatlichen Akteure ist es dringend erforderlich, sich mit den brennenden Problemen zu befassen und das, was durch das politische Friedensprojekt sorgfältig erreicht wurde, zu bekräftigen.
Zwischen 2018 und 2021 engagieren sich jedes Jahr sechs bis acht führende europäische Expertinnen und Experten als Europe’s Futures Fellows. Sie schaffen damit eine einzigartige eine Plattform der Ideen, um grundlegende Maßnahmen zu präsentieren, deren Ziel es ist, die Vision und Realität Europas zu stärken und voranzutreiben. Europe’s Futures basiert auf eingehenden Untersuchungen, konkreten politischen Vorschlägen und dem Austausch mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, dem öffentlichen Diskurs und Medien.
Während Geburten und Sterbefälle genau erfasst werden können, ist es weitaus schwieriger, valide Daten zur Abwanderung zu erheben.
Im Jahr 2018 veröffentlichte die Kroatische Nationalbank eine bahnbrechende Studie, in der untersucht wurde, wie viele Kroatinnen und Kroaten ins Ausland gegangen sind, wobei nicht die Daten aus Kroatien, sondern Statistiken wie Sozialversicherungsnummern aus zehn Kernländern der EU herangezogen wurden. Demnach sind zwischen 2013, als Kroatien der EU beitrat, und 2016 etwa 230.000 Menschen in diese Länder emigriert. Man geht davon aus, dass relativ wenige in andere Staaten ausgewandert sind.
Sowohl Ivanda als auch Bosnjak stimmten dieser groben Schätzung zu, obwohl sich die Geister darüber scheiden, wie viele Kroatinnen und Kroaten, die in den Statistiken anderer Länder aufscheinen, eigentlich aus Bosnien stammen, da bosnische Kroatinnen und Kroaten einen kroatischen Pass besitzen können. Es wird angenommen, dass etwa 20 Prozent der im Ausland lebenden Kroatinnen und Kroaten aus Bosnien stammen.
Die Studie der Kroatischen Nationalbank ergab, dass sich 71 Prozent der Personen, die emigriert sind, in Deutschland, acht Prozent in Österreich und sieben Prozent in Irland niedergelassen haben. Diejenigen, die seit dem EU-Beitritt Kroatiens ihren Wohnsitz dauerhaft ins Ausland verlegt haben, machen fünf Prozent der kroatischen Bevölkerung aus. Ein großer Teil von ihnen ist jung und im gebärfähigen und erwerbsfähigen Alter.
Zunehmend verlassen auch ganze Familien das Land. In Kroatien gibt keine nennenswerte Einwanderung. Von den etwa 10.000 Personen, die sich jährlich hier niederlassen, sind die meisten Kroatinnen und Kroaten, die im Ausland gearbeitet haben und jetzt in Ruhestand gehen, sowie eine kleine Anzahl bosnischer Kroatinnen und Kroaten.
Die Regierung hofft, dass Maßnahmen wie die Zahlung von Pensionsbeiträgen für Frauen im Mutterschaftsurlaub dazu beitragen werden, die Geburtenziffer in den nächsten Jahren wieder auf 1,6 zu steigern. Ein großes Problem ist jedoch die Art der Beschäftigung von Frauen. In Skandinavien, wo die Geburtenraten höher sind, verfügen Frauen in der Regel über gute Arbeitsplätze im Gesundheits- und Bildungswesen. In Kroatien sind jedoch Hunderttausende von Frauen in schlecht bezahlten und unsicheren Jobs im Einzelhandel tätig, so Ivanda.
Nach einer Babypause ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es den Arbeitsplatz bei ihrer Rückkehr nicht mehr gibt, weshalb viele Frauen, vor allem nach dem ersten Kind, zuhause bleiben. Auch andere Länder der Region hätten ähnliche demografische Probleme wie Kroatien, erklärte Ivanda. „Das ist ein neues Phänomen, und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so hohe Abwanderungsraten und so anhaltend niedrige Geburtenraten.“
“Das ist ein neues Phänomen, und nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so hohe Abwanderungsraten und so anhaltend niedrige Geburtenraten.”
In der Vergangenheit wurden größere Abwanderungswellen allerdings durch hohe Geburtenraten ausgeglichen. In Kroatien fiel die Kinderzahl bereits 1968 unter die Reproduktionsrate. In der Zeit danach zog Kroatien jedoch als eine der reicheren Regionen Jugoslawiens Zuwanderer aus dem Rest des Landes an. Die demografische Krise und die Abwanderung haben zu einem Arbeitskräftemangel in der saisonalen Tourismusindustrie und im Baugewerbe geführt. 2019 verdoppelte die Regierung die Zahl der Arbeitsgenehmigungen für ausländische Arbeitskräfte auf 63.900 gegenüber 39.000 im Jahr 2018.
In der Vergangenheit wurden viele dieser Arbeitsplätze mit Arbeitskräften aus anderen Teilen des (nicht zur EU gehörenden) ehemaligen Jugoslawiens besetzt. Jetzt, da Staaten wie Deutschland ihre Arbeitsmärkte für diese Länder geöffnet haben, gehen die Menschen dorthin, wo sie gut bezahlte Vollzeitarbeitsplätze vorfinden anstatt schlecht bezahlter Saisonarbeitsplätze in Kroatien. Auf längere Sicht wird Kroatien, selbst wenn ein guter Teil der Auswanderer zurückkehrt, immer noch auf Zuwanderung angewiesen sein, wenn der Bevölkerungsrückgang umgekehrt werden soll. Prognosen der UNO zufolge wird Kroatiens Bevölkerung bis 2050 auf 3,46 Millionen Menschen sinken.
Laut Bosnjak würde die Regierung Maßnahmen ausarbeiten, die vorsehen, Mitglieder der kroatischen Diaspora und Personen aus Ländern, deren Bürgerinnen und Bürger bereits als ethnische Minderheiten in Kroatien leben, in leerstehenden Häusern in entvölkerten Gegenden anzusiedeln. Als Paradebeispiel nannte er die Ukraine. Warum ein armer Ukrainer sich in einem Gebiet niederlassen sollte, das von einem auswandernden Einheimischen als nicht lebenswert erachtet wird, anstatt in das reichere Polen oder Deutschland zu ziehen, ist eine andere Frage. Dazu kommt, dass Kroatiens größte Minderheit zum allergrößten Teil serbischer Herkunft ist. Dass diejenigen, die nach dem Krieg weggegangen sind, oder ihre Nachkommen sich angesichts der geplanten Anreize zur Rückkehr entschließen könnten, hielt Bosnjak für unwahrscheinlich.
Mehr Beschäftigungsmöglichkeiten und vor allem die hohe Lebensqualität in Kroatien würden laut Bosnjak jene, die bereits im Ausland sind, zur Rückkehr bewegen. Ivanda hielt jedoch fest, dass viele junge Menschen ins Ausland gehen, insbesondere aus strukturschwachen Gebieten, weil sie kein Vertrauen in die Zukunft haben und der Ansicht sind, dass gute Verbindungen und etwas Glück für ihre Zukunft wichtiger sind als Fähigkeiten und Wissen. Er selbst blickt nicht so optimistisch in die Zukunft. In demografischer Hinsicht steuere Kroatien nicht „auf einen großen Zusammenbruch oder eine Krise“ zu, sondern auf eine „langfristige Stagnation“.
Der Artikel gibt die Meinung des Autors wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 31. Oktober 2019 auf Reportingdemocracy.org , einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
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