Österreich und der goldene Osten?

Tobias Spöri zur einseitigen Debatte über Einwanderung aus Zentral- und Osteuropa.

Migration aus den zentral- und osteuropäischen Staaten nach Österreich hat in den letzten Jahren zugenommen. Tobias Spöri vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien über Arbeitsmigration, wirtschaftliche Hintergründe und die Folgen für die Gesellschaften Zentral- und Osteuropas.

Im vergangenen Nationalratswahlkampf war Migration das zentrale Wahlkampfthema. Neben der Frage nach dem Umgang mit Geflüchteten aus außereuropäischen Ländern, stellte die Drosselung der innereuropäischen Migration einen beliebten Gegenstand der Debatten dar. Dies betrifft vor allem die Zuwanderung aus Zentral- und Osteuropa, die als Bedrohung für den österreichischen Arbeitsmarkt von fast allen nun im Nationalrat vertretenen Parteien beschrieben wurde.

Innereuropäische Migration als Problem?

Die FPÖ forderte im Wahlprogramm 2017 gemäß dem Motto „Zuerst Österreicher, dann Europäer!“ eine Arbeitsmarktsperre für „billige Arbeitskräfte aus dem europäischen Osten“. Dadurch solle dem Verdrängen von österreichischen ArbeitnehmerInnen, steigender Arbeitslosigkeit und der „Migration in den Sozialstaat“ entgegengewirkt werden (Seite 15). Ähnliche Forderungen nach einer Beschränkung von Arbeitsmigration aus dem EU-Ausland und Sozialleistungen für EU-BürgerInnen finden sich in unterschiedlicher Schärfe bei der Volkspartei (ÖVP) und im „Plan A“ der SPÖ (Seite 30). Nachdem sich die zu erwartende Koalition aus ÖVP und FPÖ in diesem Punkt sehr stark ähnelt, ist annehmbar, dass derartige Maßnahmen ebenfalls im Regierungsprogramm zu finden sein werden.

Fakt ist, dass Migration aus den zentral- und osteuropäischen Staaten nach Österreich in den letzten Jahren zunahm: So stieg die Anzahl der Beschäftigten aus Zentral- und Osteuropa seit 2013 von rund 180.000 auf knapp 300.000. Den größten Anteil daran hatten im August 2017 Beschäftigte aus Ungarn (90 Tsd.) vor Rumänien (52 Tsd.), Polen (40 Tsd.) und der Slowakei (34 Tsd.).

Einem Bericht des AMS vom Februar 2016 zufolge waren dabei die Bereiche „Beherbergung und Gastronomie“, das Baugewerbe sowie die Kategorie „Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“ besonders stark vertreten. Letzteres betrifft laut AMS vor allem befristete Anstellungsverhältnisse und den Bereich „Reinigung von Gebäuden, Straßen und Verkehrsmitteln“. Das Gesundheitswesen, sprich die Pflege, ist ein weiterer Bereich in dem überdurchschnittlich viele Menschen, insbesondere Frauen, aus Zentral- und Osteuropa beschäftigt sind.

All diese Berufsfelder weisen in Österreich einen Mangel an Arbeitskräften auf oder sind von besonders großem Druck auf die Lohnkosten gekennzeichnet. Viele dieser Berufsgruppen zählen somit zu den tendenziell schlecht bezahlten Anstellungsverhältnissen und das obwohl die Belastungen teilweise enorm sind. Anhand des Pflegebereichs lässt sich dies besonders gut verdeutlichen, denn dieser ist von einem Missverhältnis von hoher Arbeitsbelastung, einem de facto 24/7-Anstellungsverhältnis und dem geringen Gehalt geprägt. Nur wenige ÖsterreicherInnen würden wohl solchen Konditionen zustimmen.

Das Wohlstandsgefälle innerhalb der Europäischen Union

Als eine der treibenden Kräfte der Arbeitsmigration aus Zentral- und Osteuropa ist das immer noch große Wohlstandsgefälle zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten zu nennen. Dieses bedingt die Migration von der ökonomischen (Semi-)Peripherie zum Zentrum. Der folgende Vergleich des Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukts in Kaufkraftstandards (KKS) zeigt, dass der Unterschied zwischen „Ost“ und „West“ nach wie vor besteht.

Wie die Grafik allerdings auch verdeutlicht, kam es in den letzten zehn Jahren zu einer Annäherung der neuen Mitgliedstaaten an den EU-Durchschnitt (=100). Lag das Pro-Kopf-BIP in KKS der zentral- und osteuropäischen EU-Mitglieder 2006 noch bei rund 59, stieg es bis 2016 auf knapp 70 an. Der Prozess des Aufholens verlief allerdings langsamer als gedacht. Dies ist unter anderem durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 bedingt, die die Staaten Zentral- und Osteuropas deutlich härter getroffenen hat. Inzwischen hat das Wirtschaftswachstum in Zentral- und Osteuropa aber wieder stärker angezogen und liegt über dem EU-Durchschnitt.

Österreich ein Opfer der Osterweiterung?

In den Debatten des Wahlkampfs wurde vor allem die Arbeitsmigration nach Österreich und somit Österreich als Opfer der EU-Osterweiterung thematisiert. Die Tatsache, dass Österreich zu den großen Profiteuren des europäischen Binnenmarkts, insbesondere der Osterweiterung, zählt, wurde dabei selten erwähnt. Ebenso wurde ausgeblendet, dass eine Drosselung der innereuropäischen Migration gegen die Grundwerte (und die Verträge) der Europäischen Union verstoßen würde.

Eine zentrale Säule der Europäischen Union stellt der europäische Binnenmarkt dar. Dieser soll einerseits durch wirtschaftliche Verflechtung und Kooperation Frieden sicherstellen; andererseits zu mehr Wohlstand in der Europäischen Union führen. Der europäische Binnenmarkt basiert auf vier Grundfreiheiten: freier Verkehr von Dienstleistungen, Kapital, Waren und Personen. Die Personenverkehrsfreiheit ermöglicht UnionsbürgerInnen, in einem anderen Mitgliedstaat sesshaft zu sein bzw. zu arbeiten.

Die Staaten Zentral- und Osteuropas traten der Europäischen Union sukzessive bei (2004, 2007, 2013). Vor allem von den BefürworterInnen der Osterweiterung wurde dabei die historische Dimension dieser Entscheidung betont. Der damalige deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder hob beispielsweise hervor, dass „schon die Gründungsväter der Europäischen Union fest davon überzeugt waren, dass dieses Europa nicht am Eisernen Vorhang enden darf“. Somit wachse die „europäische Familie“ nun endlich wieder zusammen.

Aufgrund des großen ökonomischen Unterschieds zwischen alten und neuen Mitgliedern der Europäischen Union wurden die neuen Mitglieder graduell integriert. So wurden die Arbeitsmärkte der alten Mitgliedstaaten erst für hochqualifizierte Schlüsselkräfte, dann SaisonarbeiterInnen und Mangelberufe und schließlich mit 1. Mai 2011 für alle Berufsgruppen aus den 2004 beigetretenen Staaten geöffnet (für Rumänien und Bulgarien war dies 2014 der Fall).

Überwiegende Zustimmung zu innereuropäischer Migration

Neben den europäischen Grundwerten (und Verträgen) ist hervorzuheben, dass die Zustimmung zur innereuropäischen Migration in Österreich seit 2015 wächst. Seit Herbst 2014 erfragt die Europäische Kommission in den halbjährlich durchgeführten Eurobarometerumfragen die Einstellungen der europäischen Bevölkerung zu Migration innerhalb der Europäischen Union. Dabei zeigt sich, dass es aktuell (Mai 2017) in nahezu allen Mitgliedstaaten mehrheitlich Zustimmung zu innereuropäischer Migration gibt. Österreich liegt mit einer deutlichen Zustimmungsrate von 62 Prozent auf dem 16. Platz (EU-Durchschnitt: 63 Prozent).

In der folgenden Grafik wird deutlich, dass die Mitgliedstaaten in Zentral- und Osteuropa tendenziell negativer gegenüber innereuropäischer Migration eingestellt sind. Die Grafik veranschaulicht ebenfalls, dass die Zustimmung im EU- Durschnitt seit Frühjahr 2015 stetig steigt, von rund 52 Prozent auf etwas mehr als 63 Prozent.

Österreichische Wirtschaft als Profiteur der EU-Osterweiterung

Eine weitere, wenig berücksichtigte Facette der Debatte zur innereuropäischen Migration aus Zentral- und Osteuropa nach Österreich ist, dass zahlreiche österreichische Firmen in Zentral- und Osteuropa in verschiedenen Sektoren aktiv sind. Unter anderem sind hier das Finanz- und Versicherungswesen, aber auch der Immobilienmarkt und die Weiterverarbeitung von Waren zu nennen. Neben dem Zugang zu neuen Absatzmärkten durch die Osterweiterung profitieren österreichische Firmen vor allem vom Lohngefälle zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten.

Einer Schätzung der Wirtschaftskammer (WKO) nach hängt jeder zehnte Arbeitsplatz in Österreich von der Exporttätigkeit nach Zentral- und Osteuropa ab. Zudem erwirtschaften österreichische Firmen rund 25 Prozent ihrer Gewinne im Ausland in Zentral- und Osteuropa.

Folgen für die zentral- und osteuropäischen Gesellschaften

Eine ebenfalls in Österreich kaum diskutierte Frage sind die Folgen für die zentral- und osteuropäischen Gesellschaften. Nahezu alle neuen EU-Mitgliedstaaten haben seit dem Fall des Eisernen Vorhangs rund zehn Prozent der Bevölkerung durch Migration verloren. Migrationsziele sind dabei, neben den USA, Großbritannien, Deutschland und auch Österreich. Diese Abwanderungserfahrung und deren Folgekosten sind Gründe, warum innereuropäische Migration in Zentral- und Osteuropa kritischer gesehen wird als in der restlichen EU.

Vor allem der Verlust von hochqualifiziertem Personal (brain drain) hat dabei negative Folgen für die Staaten, da eine Vielzahl an Stellen unbesetzt bleibt. Zudem führt das Lohngefälle innerhalb der Europäischen Union dazu, dass hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Zentral- und Osteuropa in Westeuropa in Jobs, die unterhalb ihrer Qualifikation liegen, mehr verdienen als in ihren ursprünglich erlernten Berufen in ihren Heimatländern (brain waste). Davon betroffen sind beispielsweise das Gesundheitswesen, aber auch der IT-Sektor.

Eine Arbeitsmarktbeschränkung: unwahrscheinlich und mit negativen Folgen

Die im Wahlkampf diskutierte Diskriminierung von EU-BürgerInnen auf dem österreichischen Arbeitsmarkt wäre ein klarer Verstoß gegen die Grundwerte der Europäischen Union sowie deren Verträge. Artikel 21 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sieht zwar die Möglichkeit vor, dass in einem „besonderen Gesetzgebungsverfahren Maßnahmen erlassen [werden können], die die soziale Sicherheit oder den sozialen Schutz betreffen“. Diese müssen aber nach Anhörung des Europäischen Parlaments im Europäischen Rat, sprich von den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einstimmig beschlossen werden und würden dann für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen gelten. Nachdem eine derartige Maßnahme nicht unter allen 28 bzw. demnächst 27 Mitgliedstaaten konsensfähig wäre, ist eine EU-weite Regelung unwahrscheinlich.

Selbst wenn es der kommenden Regierung Österreichs gelingen würde, eine Maßnahme zu ergreifen, hätte eine Beschränkung des Arbeitsmarkts weitreichende Folgen und würde ein großes mediales Echo in Europa erfahren. In Zeiten des Brexits sowie der unklaren Ausrichtung der Europäischen Union würde eine derartige Maßnahme dem europäischen Projekt weiteren Schaden zufügen. Nachdem die Europapolitik eines der umstrittenen Themen der noch laufenden Koalitionsverhandlungen darstellt, bleibt offen, welche Position die zukünftige Regierung Österreichs dort einnehmen wird.

Zudem würde eine derartige Maßnahme nicht ohne Gegenreaktion aus den zentral- und osteuropäischen EU-Mitgliedern hingenommen werden. Denkbar wäre es, dass die zentral- und osteuropäischen Staaten dann ihren Markt verstärkt abschotten und Hürden für ausländische Unternehmen einziehen. Das wiederum würde der österreichischen Wirtschaft mittel- und langfristig schaden. Insofern sollte auch diese Seite der Medaille – die negativen Folgen für das europäische Projekt und die österreichische Wirtschaft – beleuchtet werden, wenn von einer Drosselung der innereuropäischen Migration gesprochen wird.

Erstmals publiziert am 12. Dezember 2017 im Eastblog (Blog der Forschungsgruppe Osteuropa am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien) und am 13. Dezember 2017 auf derstandard.at.

Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © Tobias Spöri. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Baustelle Hauptbahnhof Wien. Foto: © iStock/tommy_wunderer.

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

Das könnte Sie auch interessieren