Die Löwin aus Bregu i Lumit
Für die Kinder in Tiranas Armenvierteln gibt es nur minimale Chancen der vererbten Armut zu entkommen.
Fabjola ist ein aufgewecktes Mädchen. In der Schule ist sie die Klassenbeste. Trotzdem wird die Zehnjährige wohl nie eine Einrichtung für höhere Bildung besuchen, denn sie wurde in eine Roma-Familie in Tiranas Armenviertel Bregu i Lumit hineingeboren.
Aufgestellte Ohren, vier große Pfoten und ein ockerfarbenes Haarkleid – langsam nimmt die Zeichnung Form an. Behutsam malt eine Kinderhand die Konturen aus, während die anderen Schüler gespannt über die Schulter des Mädchens schauen. „Er ist stark und gibt nie auf, das mag ich”, erzählt Fabjola und malt die Mähne des Löwen fertig. In Großbuchstaben schreibt sie „SIMBA” über die Raubkatze. Obwohl die Zehnjährige alle Tiere gerne mag, ist der Löwe ihr Lieblingstier. Im Biologieunterricht hat sie schon viel darüber gehört.
„Sie ist ein kluges Mädchen und will jeden Tag etwas Neues lernen”, sagt ihre Lehrerin, die seit 2008 im Kinderzentrum Eden unterrichtet. Hier werden Kinder und Jugendliche beim Lernen unterstützt, bekommen warme Mahlzeiten und haben einen Platz zum Spielen. Die Einrichtung liegt am Stadtrand von Tirana, inmitten des Viertels Bregu i Lumit. Fabjola kommt bereits seit vier Jahren von Montag bis Freitag immer nachmittags ins Zentrum. Am Vormittag besucht sie die öffentliche Schule. Das Mädchen könnte den Nachmittag auch zuhause verbringen, doch in der Gegend gibt es nicht viel, womit sich heranwachsende Kinder beschäftigen könnten.
Genau wie der Großteil der Menschen in Bregu i Lumit stammt auch die Zehnjährige aus einer Roma-Familie. Sie ist eine von ungefähr 115.000 Menschen dieser Bevölkerungsgruppe, die heute in Albanien leben. Diese Zahl basiert allerdings lediglich auf Schätzungen, da sich nur wenige von ihnen bei Volkszählungen als Roma deklarieren. Zudem ist unklar, ob die ebenfalls in Albanien lebenden Balkan-Ägypter auch zur Ethnie gehören oder nicht. Während diese sich selbst von den Roma unabhängig fühlen, ist die Politik gegenteiliger Meinung. Was die Volksgruppen jedoch verbindet, ist Diskriminierung durch und Missachtung vom Rest der Gesellschaft. Viele besitzen keine gültigen Dokumente und siedeln sich deshalb in informellen Gebieten wie Bregu i Lumit an. Auf der Landkarte existieren solche Viertel nicht, auch Straßennamen gibt es keine.
Vergessener Ort am Rande der Stadt
Bregu i Lumit, übersetzt „Flussufer”, ist weniger ein Viertel als ein weitläufiges, diffuses Gebiet entlang des Flusses Lana. Nur eine halbe Autostunde von der Innenstadt Tiranas entfernt, fühlt man sich hier wie in einer anderen Welt. Kinder spielen zwischen Sperrmüll, Karren mit vorgespannten Eseln dienen als Fuhrwerk. Rund um das Gewässer leben rund 60.000 Menschen, die meisten davon in ärmlichen Verhältnissen. Es fehlt an Arbeit, medizinischer Versorgung und vor allem an Perspektiven. Das Kinderzentrum Eden versucht, zur Verbesserung dieser Situation beizutragen und möchte für die kleinsten Bewohner ein sicherer Zufluchtsort sein. Betrieben wird das Haus von der NGO SHKEJ. Im Jahr 2003 von einer Gruppe Studierender gegründet, setzt sich die Organisation seither vor allem für Straßenkinder, Frauenrechte und Familien ein. SHKEJ versorgt die Menschen mit dem Allernötigsten – etwa mit warmen Mahlzeiten, Medikamenten und Kleidung. Und auch, wenn einzelne Familien konkrete Hilfe brauchen, bietet die Organisation ihre Unterstützung an.
Dass die NGO dies jedoch nicht ohne finanzielle Hilfe von außen schaffen kann, wird im Kinderzentrum Eden sichtbar. Die beiden Klassenräume sind nur mit dem Wichtigsten ausgestattet. Einige wenige Bücher lehnen in abgenutzten Regalen, Spielzeug findet man kaum. Die Holztische sind alt und die Schrauben an den Stühlen locker. Bunte Plakate und Zeichnungen verdecken Risse in den Wänden. Einzig und allein an Buntstiften und Papier mangelt es hier nicht. Das liegt wohl daran, dass Kunst und Musik zu den Lieblingsfächern der meisten Kinder zählen.
“Hier im Viertel kommt es noch oft vor, dass Frauen sehr jung – etwa mit 16 Jahren – verheiratet werden.”
Nicht selten wird der asphaltierte Hof des Kinderzentrums deshalb zur Tanzfläche umfunktioniert. Auch heute – am internationalen Tag des Kindes – ertönen Musik und Gelächter aus der Laube im Garten. Schließt man die Augen, könnte man meinen, mitten in der Innenstadt von Tirana zu stehen, wo gerade Umzüge und Feierlichkeiten zu Ehren der Jüngsten stattfinden. Hunderte von ihnen schreiten den Boulevard auf und ab, an Ständen tummeln sich Menschen, um Süßigkeiten und Spielsachen für ihre Kleinen zu kaufen. Doch davon bekommen die Mädchen und Jungen aus dem Kinderzentrum nichts mit. Sie feiern ihr eigenes kleines Fest.
Ein Junge in abgewetzten Turnschuhen hat die Beine seines gleichaltrigen Freundes über die Schultern genommen. Immer schneller wirbelt er ihn herum. Um die beiden hat sich ein Kreis aus Kindern gebildet – die einen kreischen vor Begeisterung, die anderen klatschen und feuern die Jungen an. Die Kinder genießen es, einfach nur Kind zu sein. Auch Fabjola ist hier. Ihre Buntstifte hat sie kurz zur Seite gelegt. Gemeinsam mit einem Jungen trägt sie ein Gedicht vor, bevor sie später mit ihrer besten Freundin Adriana an der einen und der Lehrerin an der anderen Hand durch den Garten tanzt. Eine junge Frau drängt sich durch die Menge. Sie geht die Stiege hinauf und betritt das Büro im Haus. In ihrer Hand hält sie einen Zettel – eine Arztrechnung. Das Geld ihrer Familie reicht nicht, um diese zu bezahlen. „Oft bitten uns die Eltern um Hilfe. Wenn möglich, bezahlen wir für Medikamente, Arztbesuche oder Brillengläser”, erzählt Elvis Mancellari, einer der drei Sozialarbeiter des Kinderzentrums, später. Damit ist das Zentrum die einzige Einrichtung im Viertel, die nicht nur die Kleinen täglich beim Lernen unterstützt, sondern auch deren Familien durch finanzielle Hilfe.
Postcards from Albania
Postcards from Albania ist ein journalistisches Rechercheprojekt von Studierenden des Studiengangs Journalismus und PR der FH Joanneum in Graz. Im Frühsommer 2018 berichtete das 19-köpfige Redaktionsteam live von seiner zehntägigen Recherchreise durch den Westbalkan. erstestiftung.org teilt ausgewählte Artikel aus dem daraus entstandenen umfassenden Online- und Printmagazin und hat diese ins Englische übersetzt.
Von politischer Seite kommt kaum Unterstützung. „Die Regierung konzentriert sich nur auf Betriebe im Zentrum von Tirana. Hier ist es dagegen sehr schwierig”, sagt Mancellari, der seit zwei Jahren im Kinderzentrum Eden beschäftigt ist. Erion Veliaj, der amtierende Bürgermeister von Tirana, sei einmal zu Besuch gewesen. Später hätte man Fotos von Veliaj mit den Kindern in den Zeitungen gesehen, Subventionen gab es allerdings nie. Deshalb finanziert sich die gesamte Einrichtung ausschließlich aus Spenden, die unter anderem von der Caritas St. Pölten kommen. Vor allem im Winter gelangt das Zentrum oft an die Grenzen seiner Kapazitäten. Mehr als 70 Besucher haben im zweistöckigen Haus mit zwei Klassenräumen nicht Platz – nur ein Bruchteil aller Kinder aus Bregu i Lumit.
Bis zu ihrem 18. Geburtstag können die Kinder das Kinderzentrum Eden besuchen. Wie ihr Leben danach weitergeht, ist oft ungewiss. Neun von zehn Albanern schließen die Mittelschule ab, im Gegensatz dazu erlangt nur jedes zweite Roma-Kind nach der Volksschule weitere Bildung. „Ich will einmal Fußballer sein“, ruft Ramis durch die Klasse, als er gefragt wird, was er später gerne werden möchte. Feuerwehrmann, Pilot, Bäcker und Lehrer steht bei den anderen Buben ganz oben auf der Liste. Von den Mädchen hat kein einziges geantwortet. Auch Fabjola schweigt. „Hier im Viertel kommt es noch oft vor, dass Frauen sehr jung – etwa mit 16 Jahren – verheiratet werden”, sagt die Lehrerin, Greta Koxhajo Pjetri. Für die meisten ist es selbstverständlich, dass sie ihre Zeit nicht in einer höheren Schule, sondern zuhause in der Küche verbringen werden. Doch auch für die Buben sieht die Realität oftmals anders als ihre Erwartungen aus.
Zwischen Asche und Aufbruch
Schwarzer Rauch steigt auf. Ein Junge hat gerade ein Feuer am nahegelegenen Fluss angezündet. Vermoderte Kleider, ausrangierte Haushaltsgeräte und Plastikteile türmen sich am Ufer – Müll, so weit das Auge reicht. Mit Flip-Flops an den Füßen steigt der Bub in Trümmern und Asche umher. Gemeinsam mit seinem Vater stochert er in lodernden Autoteilen. Der beißende Geruch von schmelzendem Kunststoff lässt einem kaum Luft zum Atmen. Der Junge hat sich längst daran gewöhnt, denn er verbringt jeden Tag hier am Flussufer. Mit dem ausgebrannten Metall, das er aus alten Kabeln und Autoteilen gewinnt, verdient der etwa Zwölfjährige ungefähr 500 Lek, umgerechnet nicht einmal vier Euro, pro Tag. Gerade so viel, dass seine Familie überleben kann.
In den meisten Roma-Familien sind die Männer für das gesamte Familieneinkommen verantwortlich. Da ihnen eine gute Ausbildung fehlt, bleiben nur schlecht bezahlte Arbeiten übrig. „Viele verdienen ihr Geld mit dem Sammeln von Mehrwegflaschen”, erklärt Mancellari und zeigt dabei auf einen der riesigen Säcke voller Plastik, die vor den Hütten vieler Familien lagern. Zusammen mit zwei Kollegen unterstützt er rund vierzig Familien, die um das Kinderzentrum herum wohnen, bei der Arbeitssuche. Regelmäßig macht er sich auf den Weg zu den Familien und spricht mit ihnen über ihre Sorgen – so wie heute. Mancellari klopft an eine der Holztüren. Eine junge Frau, sie ist um die 25 Jahre alt, öffnet diese. Sie begrüßt den Sozialarbeiter und bittet ihn ins Haus. Auch im Inneren der Behausungen ist die Armut in allen Ecken sichtbar. Großfamilien leben auf wenigen Quadratmetern. Ein einziges Zimmer dient der sechsköpfigen Familie als Küche, Schlaf- und Wohnzimmer zugleich, eine Waschschüssel vor der Hütte als Bad. Durch das Dach dringt Wasser ins Haus, im Winter durch die Wände die Kälte. Das einzige Foto an der Wand zeigt die junge Frau und ihren Mann – lachend bei ihrer Hochzeit. Auch heute trägt sie dieselben Ohrringe und ihre langen Haare hat sie locker hochgesteckt. Nur das Lächeln ist verhaltener geworden. Karies und faule Zähne seien hier ein großes Problem, sagt Mancellari später.
In den letzten zehn Jahren – so lange besteht das Kinderzentrum Eden – hat sich nicht viel an den Umständen in Bregu i Lumit verändert. Noch immer prägen Armut und schlechte Gesundheitsversorgung das Viertel. Während die Menschen rund um den Skanderbeg-Platz mit Michael-Kors-Taschen spazieren gehen, fehlt es in Bregu i Lumit an Grundsätzlichem – wie zum Beispiel an Zahnbürsten. Dass die meisten älteren Bewohner nicht lesen oder schreiben können, erschwert die Entwicklungs- oder Aufklärungsarbeit zusätzlich. Anders als in westlichen Ländern sind es hier die Kinder, die versuchen, ihren Eltern nachmittags das Lesen und Schreiben beizubringen.
Das Kinderzentrum Eden spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Doch Schulbildung und finanzielle Hilfe allein reichen nicht aus. Die negative Denkhaltung gegenüber Roma, die schon seit Jahrhunderten in den Köpfen der Menschen verankert ist, hat sich in Albanien nur wenig verbessert. Schon zu Zeiten der Jugoslawienkriege wurden Roma am Westbalkan diskriminiert. Nirgendwo auf der Welt leben sie als Mehrheit der Gesellschaft. Dennoch bilden sie die größte ethnische Minderheit Europas. Die Marginalisierung dieser Bevölkerungsgruppe ist bis heute in vielen Ländern ein Problem. „Die Einstellung der Menschen zu verändern, ist sehr viel Arbeit. In ein paar Jahren ist das leider unmöglich”, sagt Mancellari. Trotzdem ist das Zentrum ein Anfang, nur so bekommen Kindern wie Fabjola eine Chance auf eine bessere Zukunft.
“Viele verdienen ihr Geld mit dem Sammeln von Mehrwegflaschen.”
Ihren Löwen hat das Mädchen mittlerweile fast fertig gezeichnet. Während die anderen Kinder im Hof die letzten Papiergirlanden wegräumen, legt Fabjola ihren orangen Filzstift aus der Hand und tauscht ihn gegen einen grünen. Die braunen Locken hängen ihr ins Gesicht, während sie mit langen Strichen den Hintergrund des Blattes grün einfärbt. „Der Löwe ist nicht nur stark, sondern auch in Freiheit. Er kann tun, was immer er will”, sagt die Zehnjährige. Man möchte meinen, dass sich in dem Tier ihre eigenen Träume verstecken. Das Mädchen teilt Eigenschaften wie Klugheit, Entschlossenheit und innere Stärke mit ihrem Lieblingstier. Ob sie allerdings auch einmal so frei wie ein Löwe sein kann, ist ungewiss. Selbstbestimmung und Unabhängigkeit gehen meist mit einem höheren Bildungsstand einher. Bis heute hat noch kein einziges Kind aus dem Zentrum eine Universität besucht. Fabjola wäre die Erste.
Erstmals publiziert im November 2018 in der Printversion von Postcards from Albania
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Katrin Blaß, Laura Reibenschuh / FH Joanneum. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Fabjolas Raubkatze namens “Simba”. Foto: © Alina Neumann, Roman Wagner