„Die Jüngsten sind zwischen Ruinen aufgewachsen.”
Pierre Courtin spricht mit Artportal über die dynamische Kunstszene von Bosnien und Herzegowina
Von einem Kunstmarkt kann man kaum sprechen, die Wirtschaft ist instabil und die Lage schwierig. Mit der Kreativität verhält es sich umgekehrt: Die Kunstszene ist aktiv und lebendig. Sári Stenczer vom ungarischen Online-Magazin Artportal war in Sarajevo und führte ein Gespräch mit Pierre Courtin, dem Leiter der Galerie Duplex100m2.
Die Galerie Duplex100m2 aus Sarajevo dürfte auch in der Kunstszene außerhalb Bosniens bekannt sein, denn die Galerie stellte einerseits in den letzten zwei Jahren auf dem Art Market Budapest aus; und ihre KünstlerInnen nehmen außerdem regelmäßig an internationalen Ausstellungen teil. Die einzigartige Geschichte der Galerie kennen aber wahrscheinlich nur wenige.
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Zum Ende dieses Sommers besuchte das ungarische Kunstmagazin Artportal Pierre Courtin, den Gründer der Galerie Duplex100m2, in der Innenstadt von Sarajevo. Im Dezember 2017 schließt die Galerie für mehrere Monate.
Könntest Du kurz erzählen, wie Du als Franzose in der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina von einem Erasmusstudenten zum Galeriebesitzer geworden bist?
Eigentlich war es Zufall. Ich studierte an der ENSBA (École Nationale Supérieure des Beaux-Arts, Paris – Red.) und beantragte ein Stipendium für Sarajevo. Ich bekam es vielleicht auch deshalb, weil ich der einzige Bewerber war – das war im Jahr 2001. Danach fuhr ich immer wieder nach Sarajevo und schließlich stand meine Entscheidung fest: ich muss im Stadtzentrum eine Galerie für zeitgenössische Kunst eröffnen. Das war die Galerija 10m2.
Zunächst habe ich nicht geplant, hier zu bleiben; ich hatte vor, den Laden ungefähr zwei Jahre lang zu betreiben, aber man konnte den Lauf der Dinge nicht aufhalten. Das Ganze entwickelte sich von Projekt zu Projekt und es war unmöglich, die Kommandobrücke zu verlassen. Noch dazu kam, dass ich mir schon lange gewünscht hatte, eine eigene Galerie zu leiten. Als Teenager habe ich jahrelang an den Wochenenden in einer Galerie in Lille gearbeitet. 2004 hat es in Sarajevo einfach gepasst.
Mit wie vielen KünstlerInnen kannst Du dich gleichzeitig beschäftigen und auf welcher Grundlage führst du deine Galerie?
Ich arbeite tagtäglich mit einem Dutzend KünstlerInnen, aber auch GastkünstlerInnen stellen regelmäßig bei uns aus. Die Galerie hatte von Anfang an den Auftrag sich mit der zeitgenössischen Kunst Bosnien und Herzegowinas und des Balkan zu beschäftigen. Noch konkreter: am meisten interessieren mich die Kultur der Erinnerung und die Fragen, die sich aus ihr ergeben.
Arbeitest Du mit anderen Galerien oder Institutionen auf dem Balkan zusammen? Oder ist es leichter, Beziehungen außerhalb der Region zu knüpfen?
Es gab viele Gelegenheiten zur Zusammenarbeit, aber ehrlich gesagt sind es nie genug, und wir müssen diesen Bereich unserer Arbeit stärker verfolgen. In Sarajevo ist es natürlich leichter, weil wir uns auskennen. Ich arbeite hier ständig mit Festivals oder privaten Partnern zusammen. Weiters sind wir Teil des Balkannetzwerks geworden: wir haben überall hin gute Verbindungen. Es fehlt nicht an Ideen oder Projekten, sondern an den finanziellen Grundlagen – und ich spreche hier in erster Linie über Bosnien und Herzegowina, Serbien, Kroatien und Slowenien. Dies behindert die Bewegung, die heute so unentbehrliche Kooperation.
Gibt es richtige SammlerInnen im Land oder verkaufst du überwiegend ins Ausland? Und interessiert man sich dort noch für die südosteuropäische Kunst oder hat sich der Fokus auf geografisch fernere Gebiete verschoben?
In diesem Land gibt es eigentlich keinen Kunstmarkt. Das Sammeln hat hier keine Tradition und es gibt keine ernsthaften SammlerInnen zeitgenössischer Kunst. Es wäre aber zu einfach, das auf die Wirtschaftskrise und die ständige Notlage des Landes zuschieben. Für mich ist es eher ein kulturelles denn ein finanzielles Problem. Wir haben natürlich einige inländische KundInnen, aber sie kaufen eher aus Liebe zur Kunst. Meist sind es Mitglieder der hier lebenden internationalen Community. Sie haben einen guten Job und ein gutes Einkommen und können es sich leisten, mal ein Kunstwerk zu kaufen. Der Großteil der SammlerInnen, die mit denen wir in Kontakt stehen, sind also AusländerInnen, meistens aus Frankreich, Deutschland und der Schweiz.
Wie würdest Du in wenigen Worten die zeitgenössische Kunstszene in Bosnien charakterisieren? Welche Chancen hat hier ein junger Künstler, eine junge Künstlerin?
Darüber könnte man ein Buch schreiben. Erwähnenswert ist vielleicht, dass sehr viele außergewöhnliche KünstlerInnen trotz der katastrophalen institutionellen Lage und fast ohne Subventionen intensiv arbeiten und die Szene sehr aktiv ist.
Ich habe das Gefühl, dass ein eigentümliches Gleichgewicht zwischen der überbordenden Kreativität und den dürftigen institutionellen Möglichkeiten besteht.
Natürlich achtet jeder darauf, sein Stück vom Kuchen zu bekommen, aber nach meinen Erfahrungen in Sarajevo ist hier wechselseitige Solidarität lebenswichtig. Es haben sich auch viele Privatinitiativen gebildet, junge KünstlerInnen und ForscherInnen eröffnen unabhängige Orte. Das Fehlen von Institutionen zwang also die Protagonisten der Kunstszene andere Mittel und Wege zu finden, um arbeiten zu können. Daraus lässt sich eindeutig schließen, wie beschränkt die Möglichkeiten für junge KünstlerInnen sind, in Erscheinung zu treten, ganz besonders auf internationaler Ebene. Sehr wenige Galerien stellen auf Kunstmessen bosnische KünstlerInnen aus. Nie waren ausreichende finanzielle Mittel da, um Kunst aus der Region nach Paris, New York, London, Basel zu bringen.
Und die Politik? Beschäftigen sich die KünstlerInnen mit lokalen oder internationalen Konflikten, mit den vorhandenen Spuren ihrer nationalen Geschichte und den Jugoslawienkriegen? In welcher Form betrifft dieser belastete Kontext deine Arbeit?
Auch darüber könnte man einen Essay schreiben. Vergangenheit und Gegenwart von Bosnien und Herzegowina haben natürlich einen sehr großen Einfluss auf die zeitgenössische Kunst. Der Krieg hat das Land zerrissen und deformiert, gerade dort, wo es am schönsten war. Heute gibt es zwei Landesteile (die Republika Srpska und die Föderation Bosnien und Herzegowina – Red.), die in einem total unbrauchbaren, im Abkommen von Dayton entworfenen gemeinsamen politischen System in wirtschaftlicher Agonie nebeneinander leben. Ihre Zukunft ist vollkommen unsicher.
Die KünstlerInnen, mit denen ich arbeite, haben alle den Krieg erlebt. Manche machten direkte Erfahrungen, manche überstanden die Kriegsjahre in Zwangsemigration. Die Jüngsten sind zwischen Ruinen, dann auf einer riesigen Baustelle aufgewachsen. Doch viel mehr als der Krieg selbst treten zumeist Formen der Erinnerung und der Identität in den Werken in Erscheinung. Gedächtnis bildet und wandelt sich bis zum heutigen Tag, da es in diesem Land nicht wirklich kollektiv gelebt wird. Vielleicht sind die KünstlerInnen, die heuzutage ihre Ausbildung abschließen, die ersten, die versuchen, sich davon abzugrenzen.
Musstest Du in den vergangenen fünfzehn Jahren deine Strategie ändern? Hast Du konkrete Pläne für die Zukunft, die Du uns mitteilen möchtest?
Meine Maxime ist dieselbe geblieben: totale Unabhängigkeit, besonders hinsichtlich der Professionalität des künstlerischen Programms. Die Galerie Duplex bietet Möglichkeiten für viele KünstlerInnen, trägt zum Zustandekommen und zur Präsentation ihrer Werke bei, und veranstaltet Ausstellungen auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene. Sie verbessert die Präsenz der KünstlerInnen innerhalb und außerhalb des Landes, besonders auf internationalen Kunstmessen. Sie bringt sie mit der zeitgenössischen Szene zusammen – mit anderen KünstlerInnen, KuratorInnen, Institutionen und Privatpersonen. Wir machen all dies in der Hoffnung, neue Projekte zu fördern und eine Plattform für Begegnungen und für Gelegenheiten zur Zusammenarbeit zu gründen.
Jetzt denke ich gerade darüber nach, wie ich das nächste Jahr gestalten soll. Im Dezember 2017 schließe ich den Ausstellungsraum, was natürlich nicht bedeutet, dass Duplex stillsteht. Sechs Monate widmen wir der Redaktion eines Buch, das auf unsere Aktivitäten zwischen 2012 und 2017 zurückblicken wird (über die Zeit zwischen 2004 und 2011 gibt es schon einen dicken Band – Red.). Wir denken auch darüber nach einen Dokumentarfilm über Bosniens Kunstszene von 1995 bis heute zu drehen.
Wenn alles gut läuft, können wir den Ausstellungsraum im Juni 2018 wieder eröffnen.
Das Interview wurde auf Ungarisch abgehalten und aufgezeichnet.
Erstmals publiziert am 11. September 2017 auf Artportal.hu.
Aus dem Ungarischen von Zsóka Leposa.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Sári Stenczer. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Die ehemalige Bobbahn der Olympischen Winterspiele 1984 in Sarajevo diente während der Belagerung der Stadt den serbischen Streitkräften als Deckung. Foto: © Krisztina Erdei.