Die Kyiv Biennial wurde inmitten der turbulenten politischen Ereignisse des Jahres 2015 vom Visual Culture Research Center (VCRC) ins Leben gerufen. Die Majdan-Revolution stieß zwar wesentliche politische, gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen in der Ukraine an, diese wurden jedoch von der russischen Besetzung der Krim und dem Beginn des Krieges im Donbas überschattet.
Wir haben uns online mit Vasyl Cherepanyn, dem Leiter des VCRC, über die neuen Wege, die die Kyiv Biennial seither beschritten hat, unterhalten. Wir sprachen über Themen wie das Erbe und den Einfluss der Majdan-Revolution(en) auf den ukrainischen Kunst- und Kulturbetrieb, die Besonderheiten des Kunst- und Kulturschaffens in der Ukraine, die Zukunftsperspektiven des Kulturbereichs in Europa und die Frage, wie Osteuropa eine neue Subjektivität für sich gewinnen kann.
Vasyl CherepanynVasyl Cherepanyn (Ukraine, 1980) ist Leiter des Visual Culture Research Center (VCRC), das er 2008 in Kyjiw als Kooperationsplattform für Wissenschaft, Kunst und Aktivismus mitbegründet hat. Er promovierte in Philosophie (Ästhetik) und war Dozent an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla-Akademie, der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), der Universität Helsinki, der Freien Universität Berlin, der Merz Akademie Stuttgart, der Universität Wien, dem Institut für Höhere Studien der politischen Kritik Warschau und der Universität Greifswald. Außerdem war er 2016 Visiting Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Cherepanyn ist Mitherausgeber des Guidebook of the Kyiv International (Medusa Books, 2018) sowie ’68 NOW (Archive Books, 2019) und kuratierte unter anderem The European International (Rijksakademie van beeldende kunsten, Amsterdam, 2018), Hybrid Peace (Stroom, Den Haag, 2019) und Armed Democracy (zweite Ausgabe der Biennale Warschau, 2022). ist Mitbegründer des VCRCDas VCRC organisiert die Biennale in Kyjiw (The School of Kyiv, 2015; The Kyiv International, 2017; The Kyiv International –’68 NOW, 2018; Black Cloud, 2019; Allied, 2021) und ist Gründungsmitglied der East Europe Biennial Alliance. 2015 erhielt das VCRC den European Cultural Foundation Princess Margriet Award for Culture 2015 der Europan Cultural Foundation und 2018 ein Arbeitsstipendium des Igor Zabel Award for Culture and Theory., das 2008 in Kyjiw als Kooperationsplattform für Wissenschaft, Kunst und Aktivismus ins Leben gerufen wurde. Seit 2015 organisiert das VCRC die Biennale in Kyjiw, ein internationales interdisziplinäres Kunst-, Wissens- und Politikforum, das Ausstellungen und Diskussionsplattformen umfasst. Die Kyiv Biennial ist Gründungsmitglied der East Europe Biennial Alliance, zu der auch die Biennale Warschau, die Biennale Matter of Art Prag, die OFF-Biennale Budapest und das Survival Kit Festival Riga gehören.
Von außen betrachtet fällt es schwer, die komplexen Umstände zu erfassen, unter denen der ukrainische Kunst- und Kulturbereich derzeit zu arbeiten versucht. Für ein besseres Verständnis lohnt sich meiner Meinung nach ein Blick in die Vergangenheit und eine genauere Betrachtung der Richtung, die der Kultursektor und die Kyiv Biennial in den letzten Jahren eingeschlagen haben. Der Majdan scheint mir hierfür ein geeigneter Ausgangspunkt. Was bedeutet er rückblickend für Sie?
Der Majdan ist tatsächlich in vielerlei Hinsicht ein wichtiger Ausgangspunkt. Auf diesem zentralen Platz der Unabhängigkeit fanden im Verlauf der Geschichte der Ukraine verschiedene Unruhen und Aufstände statt. Diesbezüglich hat der Majdan Tradition. Die Proteste im Jahr 2014 kann man wohl als die bislang letzte europäische Revolution bezeichnen. Neben ihrer Bedeutung für das Land selbst waren sie auch von gesamteuropäischer Relevanz und Teil einer globalen Welle von Aufständen, die mit Occupy Wall Street in den USA begann und zu der auch der sogenannte Arabische Frühling zählte.
Im osteuropäischen Kontext, wo Rechtspopulismus und verschiedene autoritäre Tendenzen die politische Bühne beherrschten, war der Majdan ein einzigartiges Beispiel des Widerstands gegen all diese Entwicklungen. Ich würde sogar sagen, dass die ukrainische Gesellschaft, wie wir sie heute kennen, auf dem Majdan ihren Anfang nahm. Er war insofern wichtig, als er eine Chance des Protests aufzeigte, die andere Proteste erst möglich machte. So gesehen handelte es sich um einen Gründungsakt, der die Mobilisierung der Zivilgesellschaft und des sozialen Sektors als solchen ermöglichte. Nicht nur die Kyiv Biennial, sondern jede Art von kulturellem Engagement im gesellschaftlichen Kontext würde ohne den Majdan keinen Sinn ergeben. Der Majdan war auch richtungsweisend für das politische Leben, denn mit ihm begann eine neue Form des Umgangs der ukrainischen Gesellschaft mit dem Staat.
Der Majdan ist als Gesamtkunstwerk zu verstehen. Er fungierte als eine Gesamtinstallation von unterschiedlicher ästhetischer, politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Dimension, die im Laufe ihrer Entwicklung eine fortwährende Medialisierung erfuhr. Darüber hinaus hat sich der Majdan vor allem als politisches Phänomen durchgesetzt, der die osteuropäische Region etwas Entscheidendes gelehrt hat: Revolutionen funktionieren tatsächlich und machen den Staat besser.
Der Majdan hat die Menschen in der gesamten Ukraine erfasst und gezeigt, in welchem Maße ihre Bevölkerung zur Selbstorganisation fähig ist. Nach dem anfänglichen Schock gelang es der ukrainischen Gesellschaft, sich am 24. Februar 2022 neu zu formieren und in einem unglaublichen Ausmaß Widerstand zu leisten. Das ganze Land ist zu einem kollektiven bewaffneten Majdan geworden, aber diesmal Seite an Seite mit dem Staat.
Die erste Ausgabe der Kyiv Biennial, The School of Kyiv, baute stark auf den Erfahrungen der Revolution auf und versuchte, anhand von Rückschlüssen aus der Majdan-Bewegung zu untersuchen, was die Ukraine und Europa voneinander lernen können. Als Sie die Biennale ins Leben riefen, was war das Vermächtnis des Majdan, das Sie in Ihre Aktivitäten einfließen lassen wollten?
Die Kyiv Biennial basierte nicht nur im politischen, sondern auch im kulturellen Sinn auf der Idee der Platzbesetzung. Wir wollten das auf dem Majdan erklärte Ziel weiterverfolgen: den öffentlichen Kulturbereich in eine politische Agora verwandeln, auf der Kulturschaffende, Künstlerinnen und Wissenschaftler ihre Ideen weiterentwickeln konnten. Zudem sollten Bedingungen geschaffen werden, die eine Einbindung der Initiativen und öffentlichen politischen Stimmung, die auf dem Platz zu vernehmen waren, ermöglichen. In gewisser Weise war die Biennale eine Art Fortsetzung des Majdan im Kulturbereich, mit dem Ziel, seine Versprechen einzulösen. Als ein übergreifendes Projekt, das verschiedene künstlerische Initiativen und Diskussionsplattformen vereint, kann die Biennale als eine andere Form von Gesamtkunstwerk betrachtet werden. In der ersten Ausgabe wurde sie auf Kyjiw, die Stadt des Majdan, projiziert, um der Fortsetzung dieser Arbeit einen institutionellen Rahmen zu geben.
Welchen Einfluss hatte der Majdan auf den ukrainischen Kunst- und Kulturbereich?
Der Kulturbereich in der Ukraine wurde durch revolutionäre Ereignisse wie die beiden Majdans in den Jahren 2004 und 2014 geprägt. Die Kunstszene, wie wir sie heute kennen, wurde aus dem Geist der Revolution geboren. Letztere hatte einen großen Einfluss darauf, wie Künstlerinnen und Künstler arbeiten, wie sie sich organisieren, welche Medien sie nutzen und mit welchen Themen sie sich befassen. Der Modus Operandi des Kulturbereichs resultierte aus der Erfahrung, auf dem Platz sowohl als Kunst- und Kulturschaffende als auch als Bürger Haltung zu zeigen. Ich denke, das ist wirklich einzigartig. Es gibt kaum ein anderes Land in Europa, in dem die Kultur so sehr mit der Art der politischen Umwälzungen und Aufstände verflochten und von ihnen abhängig ist. Wenn man die zeitgenössische visuelle Kultur der Ukraine analysieren und verstehen will, muss man dies berücksichtigen; dieser revolutionäre Hintergrund ist tatsächlich ein Ausgangspunkt. Die ukrainischen Kulturinstitutionen sowie die Künstlerinnen und Künstler selbst haben viele Ansätze entwickelt, die sich auch anderswo anwenden lassen, etwa Ausstellungsformate und -orte, Performativität, aktionistische Praktiken, utopisches Denken, Dokumentalität oder die Nutzung des öffentlichen Raums. Die erste Ausgabe der Kyiv Biennial hieß nicht zufällig The School of Kyiv. Unser Ziel war es, einen Rahmen zu schaffen, von dem andere lernen können.
Ich denke, Sie haben einen wesentlichen Punkt angesprochen, als Sie den Einfluss von Revolutionen auf den Kunstbereich hervorhoben. Ich stimme auch zu, dass die Kunst in der Ukraine, anders als in den meisten europäischen Ländern, tatsächlich in der Lage zu sein scheint, eine politische Wirkung zu entfalten. Ich habe mich jedoch gefragt, welche Rolle der Kontext dabei spielt. Meiner Erfahrung nach verliert diese wirklich einfühlsame und komplexe Bildsprache, mit der Ängste und soziopolitische Konflikte in der ukrainischen Gesellschaft künstlerisch verarbeitet werden, an Kraft, wenn die Werke anderswo ausgestellt werden.
In gewisser Hinsicht ist das natürlich kontextabhängig. Ich denke jedoch, dass das Wesen der ukrainischen Kultur es einem erlaubt, außerhalb des eigenen Metiers tätig zu werden. Im Westen hat man künstlerisch alle Freiheiten, solange man sich nicht in die Politik einmischt. In der Ukraine fungiert der Kunst- und Kulturbereich selbst als Agora. Gerade der Kulturbereich hat das Potenzial, gesellschaftlich relevante Themen zu diskutieren und ideologische Fragen oder gegensätzliche politische Ansichten zu Themen wie Erinnerungspolitik, die Haltung gegenüber der sowjetischen Vergangenheit oder die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu provozieren. Nicht selten sind es Kunst- und Kulturschaffende, die diese Diskussionen aufbringen und vorantreiben.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Im Unterschied zum Westen ist die Kultur hier nicht so sehr als eigenständiger Bereich strukturiert. Das mag anarchistisch erscheinen, zeigt aber auch, dass sie erst im Begriff ist, sich institutionell und autonom zu formieren. Aus diesem Grund geht man in der Kunst und Kultur in viele unerwartete Richtungen und schlägt auch neue Wege ein.
Der Kulturbereich in der Ukraine ist mit einigen Ausnahmen nicht von staatlicher Finanzierung abhängig und dadurch selbstreguliert. Selbst wenn es einen gewissen Druck vonseiten des Staates gibt, kann er keine wirkliche Kontrolle ausüben. Das hat natürlich Vor- und Nachteile. In der Ukraine ist der Kulturbereich nicht institutionell geschützt, weshalb sich jeder von außen einmischen oder ihm eine bestimmte Agenda aufzwingen kann. Dies erschwert auch den Kulturbetrieb als solchen, da man sich mittelfristig nicht auf nachhaltige Strukturen verlassen kann. Andererseits steht die Kultur aufgrund des Fehlens klar definierter Grenzen in ständigem Austausch und Wechselbeziehung mit anderen Bereichen der Gesellschaft.
“Künstlerin bzw. Kulturschaffender in der Ukraine zu sein, ist nicht so sehr ein Beruf als vielmehr eine Mission.”
Dadurch können Kunstwerke und Ausstellungen entstehen, die als direkte politische Statements funktionieren und Reaktionen von politischen Gruppierungen auslösen können. Diese Politizität spielt im Kunstsystem im Westen keine so große Rolle. Du kannst dort zwar tun, was dir beliebt, aber eigentlich schenkt dir niemand ernsthaft Beachtung. In vielen europäischen Ländern können die Medien oder der öffentliche Diskurs politische Alternativen anbieten, vielleicht mit Ausnahme von Ungarn – leider. In der Ukraine ist diese Alternative die Kultur, und das hat meiner Meinung nach unweigerlich Auswirkungen auf die Art und Weise, wie über Politik gedacht wird.
Das kann große Chancen eröffnen, aber gleichzeitig könnte es auch zu viel Druck auf die Kunst- und Kulturschaffenden ausüben.
Westliche Kulturschaffende üben im Normalfall einfach ihren Beruf aus. Sie folgen vorgegebenen Abläufen und dem, was bereits für sie auf den Weg gebracht wurde. In der Ukraine gibt es, wie ich schon erwähnte, keine klaren Richtungen. Man testet verschiedene Grenzen aus, was politische Veränderungen bewirken oder Reaktionen hervorrufen kann. Das bedeutet tatsächlich viel mehr Druck und Verantwortung. Künstlerin bzw. Kulturschaffender in der Ukraine zu sein, ist nicht so sehr ein Beruf als vielmehr eine Mission. Man hat eine gewisse politische Haltung und ist deshalb in diesem Bereich tätig. Diese Menschen haben vielleicht keinen politischen Einfluss, aber ihre Mission besteht darin, etwas zu konzipieren und zu vermitteln, um eine ungerechte Situation zu korrigieren. Das erinnert mich an das Phänomen der osteuropäischen Intelligenzija in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Sie haben den westlichen Institutionen bei der Unterstützung der Ukraine im aktuellen Krieg eine zögerliche Haltung vorgeworfen. Diese weigern sich, ihre Komfortzone zu verlassen, und haben sich, wie Sie schrieben, „einfach auf einen White-Cube-Radikalismus und selbstzufriedene Humanität verlegt“. Ich fand den Ausdruck „White-Cube-Radikalismus“ sehr treffend, und meines Erachtens ist es genau dieses eingefahrene und zuweilen sehr bürokratische System, das es der Kunst schwer machen kann, über ihre Grenzen hinaus Wirkung zu erzielen.
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass wir ohne die humanitäre Hilfe und die Solidaritätsmaßnahmen, die von verschiedenen Kultureinrichtungen in der EU und anderen Ländern geleistet wurden, nicht überleben würden. Wir sind sehr dankbar für diese äußerst wertvolle Unterstützung. Für mich bedeutet politisches Engagement nicht nur irgendeinen trendigen Radical-Chic-Diskurs, wie er in der Kunstszene weit verbreitet ist. In dem Artikel habe ich darauf hingewiesen, dass es ebenso notwendig ist, die Grenzen des Kulturbereichs zu überschreiten und über sie hinaus zu wachsen. Es spricht nichts gegen eine gewisse Radikalität auf Konferenzen oder in Ausstellungen, aber wenn man politische Ziele erreichen will, muss man die Komfortzone verlassen. Wenn man sich einfach an die institutionellen Grenzen hält und versucht, das zu bewahren, was innerhalb dieser Grenzen liegt, wird sich der Aktionsradius verkleinern. Das betrifft nicht nur die Ukraine. Es ist kein Zufall, dass in vielen osteuropäischen Ländern wie Ungarn oder Polen Kultureinrichtungen vom rechten Lager eingenommen und Leute aus diesem Lager mit deren (künstlerischer) Leitung betraut werden. Wenn diese Welle des rechten Autoritarismus die Kultur erreicht, deutet das darauf hin, dass es bereits zu spät ist. Um die Freiheit zu bewahren, die Kultureinrichtungen in ihrem eigenen Bereich errungen haben, müssen sie sich aus der Komfortzone herausbewegen und für die Sache kämpfen.
“Wenn diese Welle des rechten Autoritarismus die Kultur erreicht, deutet das darauf hin, dass es bereits zu spät ist. Um die Freiheit zu bewahren, die Kultureinrichtungen in ihrem eigenen Bereich errungen haben, müssen sie sich aus der Komfortzone herausbewegen und für die Sache kämpfen.”
In den vergangenen Kriegsmonaten waren viele Institutionen dazu nicht bereit, auch wenn dies keine radikalen Maßnahmen erfordern würde. Ich will das nicht überbewerten, aber Kultur kann ein ziemlich mächtiges Instrument sein. Man kann mit all den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen, politische Zeichen setzen, mehr Druck auf die Öffentlichkeit und die Behörden ausüben, mehr Maßnahmen von der Regierung einfordern usw. Das bedeutet, dass man sich mit Politik nicht nur innerhalb des Kulturbereichs befassen muss, sondern als Kulturschaffende/r auch außerhalb dieses Bereichs politisch tätig werden kann. Leider ist diese Chance in Europa vertan worden.
Dieser „White-Cube-Radikalismus“ ist tatsächlich symptomatisch für die Art und Weise, wie der Kulturbereich in Europa institutionell funktioniert. Auf der einen Seite haben wir große, schwerfällige Institutionen, die sich scheuen, unabhängig zu arbeiten. Ihr Modus Operandi lässt keine Alternative zu, sie folgen im Wesentlichen der Regierungslinie.
Auf der anderen Seite gibt es das, was ich horizontale Diktatur nenne. Ich meine damit institutionelle Kollektive und kuratorische Gruppen, die den Modus der partizipativen Demokratie proklamieren und praktizieren. Da jede Entscheidung kollektiv getroffen werden muss, wird endlos über jedes Detail diskutiert. Am Ende des Tages ist alles offen, weil man sich nicht gemeinsam für etwas entscheiden konnte. Unabhängig davon, ob eine institutionelle Struktur zentralisiert und vertikal oder aber horizontal und partizipatorisch ist, ist sie also in jedem Fall für die politische Sache völlig ungeeignet. Selbst unter Berücksichtigung ihrer finanziellen Abhängigkeit oder ihrer Sorge, eine dem Regierungskurs widersprechende Meinung zu äußern, finde ich das immer noch verblüffend, da sie im Grunde nichts riskieren. Es stellt sich also die Frage: Wann würde eine Reaktion denn erfolgen? Im Osten haben wir vereinnahmte Kultureinrichtungen und im Westen solche, die in ihrer heilen kleinen Welt leben. Für mich lässt es nichts Gutes ahnen, dass der Kulturbereich in Europa nicht wirklich in der Lage ist, Vorschläge für politische oder gesellschaftliche Alternativen vorzulegen. Er untergräbt seinen eigenen Modus Operandi und verliert an Einfluss. Die europäische Kultur gibt ihre politische Machtposition leider einfach auf.
Um auf die Kyiv Biennial zurückzukommen: Die zweite Ausgabe trug den Titel The Kyiv International und konzentrierte sich auf die Idee einer politischen Internationalen und deren emanzipatorisches Potenzial. Wenn man sich die Geschichte der Biennale ansieht, lässt sich beobachten, dass fortwährend versucht wurde, eine passende Sprache zu finden, um die Gegebenheiten und Erfahrungen in der Ukraine zu erklären. Die verschiedenen Ausgaben spiegeln für mich auch die ständige Suche nach internationalen Partnern als potenzielle Verbündete beim Aufbau einer solidarischen, alternativen Zukunft wider. Ich denke, es ist kein Zufall, dass Sie in Osteuropa fündig wurden, was im Jahr 2018 zur Gründung der East Europe Biennial Alliance (EEBA) geführt hat. Glauben Sie, dass diese Übersetzung in Osteuropa besser funktioniert? Kann die gemeinsame Erfahrung der sowjetischen Vergangenheit helfen, eine gemeinsame Sprache zu sprechen?
Persönlich und politisch bin ich ein starker Befürworter des Internationalismus im eigentlichen Sinn. Ich glaube nicht, dass Nationalstaaten auf sich allein gestellt globale Entwicklungen überstehen bzw. reüssieren können. Dieser Illusion gab man sich im späten 19. Jahrhundert hin. Unter einem internationalistischen Dach können sich bessere Dinge entwickeln, und unter diesem Gesichtspunkt ist es ganz selbstverständlich, dass die Ukraine der EU beitreten will.
Die Kyiv International war eine Art Übersetzungslabor. Sie lässt sich mittels der Idee einer unterschiedlichen, aber gemeinsamen Vergangenheit erklären, die zeigt, dass durch Europa nach wie vor eine markante Trennlinie zwischen West und Ost verläuft. Wir haben unsere Biennale-Allianz bewusst East Europe genannt und meinen damit den gesamten Osten Europas, nicht nur Osteuropa (das sich normalerweise scheu hinter dem Begriff „Mittel“ verbirgt), sondern auch den postsowjetischen Osten Europas sowie den sogenannten Nahen Osten, einschließlich Zentralasien, des Balkans und Nordafrika – Gebiete, mit denen wir zu Zeiten des Kalten Krieges eng verbunden waren. Diese (Halb-)Peripherien sind eine entscheidende Region Europas, in der um dessen Schicksal gekämpft wurde – ein Schicksal, das im Moment im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Schlachtfeld entschieden wird.
Diese Idee einer unterschiedlichen, aber gemeinsamen Vergangenheit ist auch mit dem Kolonialismus und den Dekolonisierungsprozessen verknüpft. Dekolonialität ist heute ein Modetrend, und beinah jede kulturelle Institution in Europa setzt sich mit diesem Thema auf die eine oder andere Weise auseinander. In den westlichen Metropolen basiert der (De)kolonisierungsdiskurs im Wesentlichen auf der Prämisse der Hautfarbe und der Geschichte großer Seenationen. Man ist jedoch permanent nicht in der Lage, den gegenwärtigen Kolonialismus vor der eigenen Nase zu erkennen. Westliche Politik und Kulturträger vermögen es scheinbar nicht, das Vokabular und die Matrix der dekolonialistischen Analyse auf den Osten Europas anzuwenden.
Ein Mangel an Handlungsfähigkeit oder Subjektivität ist das, was die Kolonisatoren typischerweise den Kolonisierten zuschreiben. Dieselbe Haltung ist auch heute noch häufig im Westen zu beobachten, wo man die osteuropäische Erfahrung als zweitrangig betrachtet. Der Westen gilt als das echte, zivilisierte und kultivierte Europa, während der Osten mit dem, was vom Kommunismus, Totalitarismus usw. übrig blieb, ein Second-Hand-Europa ist. Seit dem Zusammenbruch der UdSSR bestand die den östlichen Ländern zugedachte wichtigste Aufgabe darin, zum Westen aufzuschließen. Die Erfahrungen des realen Osteuropas wurden lange Zeit ignoriert, da Moskau, die andere Reichsmetropole, für den Westen stets der wichtigste Referenzpunkt im Osten war. Im Rahmen der EEBA wollen wir alternative Diskurse über diese Region, ihre Geschichte und Subjektivität vorstellen und die typischen (neo-)kolonialen Ansätze infrage stellen.
Im Rahmen der EEBA haben Sie kürzlich eine neue Diskussionsreihe über Russlands militärische Invasion in der Ukraine gestartet. Sie kuratierten das erste öffentliche Programm Armed Democracy (Bewaffnete Demokratie), in dem dieses Bestreben, Osteuropa eine neue Subjektivität zu verleihen, ebenfalls eine zentrale Rolle spielte. Das im Rahmen der zweiten Ausgabe der Biennale Warschau organisierte Programm bestand aus Vorträgen und Diskussionen und behandelte unter anderem Themen wie die Bedeutung und Tragweite der Dokumentation russischer Kriegsverbrechen, die Merkmale einer militanten Demokratie und das Trauma der Entkolonialisierung. Das Programm unternahm den wichtigen Versuch, den Krieg aus der Perspektive der osteuropäischen Region zu beleuchten und die russische Aggression in diesem größeren Kontext zu analysieren. Wie haben Sie sich diesem komplexen Thema genähert?
Das Programm nahm die neuen Realitäten in den Blick, die durch diesen Krieg entstanden sind, sowie Herausforderungen, wie die Militarisierung oder neue faschistische Bedrohungen. In der EU war man darauf schlichtweg nicht vorbereitet, da angenommen wurde, all diese Dinge gehörten einer fernen Vergangenheit an. Was Osteuropa betrifft, so wurden die Sorgen und Ängste dieser Länder nicht ernst genommen. Jetzt erklären uns verschiedene europäische Staats- und Regierungschefs, dass es diesen Krieg nicht gäbe, wenn die Sanktionen und Reaktionen, die auf die landesweite Invasion folgten, bereits nach der russischen Besetzung der Krim im Jahr 2014 erfolgt wären. Im Unterschied zur EU, die stets zu spät agiert, basierte die Bewaffnete Demokratie auf der Idee, vorausschauend zu handeln.
Im Rahmen des Programms haben wir versucht, einen Überblick über verschiedene Aspekte des russischen Vernichtungskriegs gegen die Ukraine und Europa zu gewinnen. Wir erkannten, dass einige der früheren Diskurse im aktuellen Kontext möglicherweise nicht funktionieren, und versuchten, eine kognitive Zuordnung von Theorien, politischen Ansätzen und allfälligen Terminologien zur Analyse der aktuellen Gräueltaten vorzunehmen. Es war ein Versuch, anhand theoretischer und analytischer Mittel zu verstehen, was funktioniert, was auf die heutige Welt anwendbar und welche Art von Analyse am effizientesten ist. Unsere wichtigste Frage lautete: Wie konnte es dazu kommen, dass wir trotz aller „Nie wieder“-Beschwörungen einen weiteren faschistischen Angriffskrieg auf dem europäischen Kontinent erleben?
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 21. Dezember 2022 auf balkon.art.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Kinga Lendeczki / Balkon. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen bzw. am Beginn vermerkt. Titelbild: Open Call (For Opinions). Theaterausstellung von Studio Laif (Tschechische Republik/Slowakei). Foto: Oleksandr Kovalenko