Der Weg in die Unfreiheit

Wenn wir nicht endlich aufwachen, dann wird die freie Welt vielleicht schon bald Vergangenheit sein, meint Timothy Snyder.

Mit dem Ende des Kalten Krieges hatten die liberalen Demokratien des Westens gesiegt. Von nun an würde die Menschheit eine friedvolle, globalisierte Zukunft erwarten. Doch das war ein Irrtum. Seit Putin seine Macht in Russland etabliert hat, rollt eine Welle des Autoritarismus von Osten nach Westen, die Europa erfasst hat und mit Donald Trump auch im Weißen Haus angekommen ist. Der nachfolgende Text ist ein Abdruck des aktuellen Buches Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika des Historikers Timothy Snyder.

Unausweichlichkeit und Ewigkeit verwandeln Fakten in Narrative. Wer sich von der Unausweichlichkeit getragen fühlt, sieht in jeder Tatsache ein kurzzeitiges Phänomen, das die Erzählung vom Fortschritt nicht grundsätzlich verändert. Wer zur Ewigkeit überwechselt, definiert jedes neue Ereignis als ein weiteres Moment einer zeitlosen Bedrohung. Beide geben sich den Anschein von Geschichte, beide schaffen Geschichte ab.

Unausweichlichkeitspolitiker lehren, dass die Spezifika der Vergangenheit irrelevant seien, da alles, was geschieht, nur Wasser auf die Mühlen des Fortschritts ist. Ewigkeitspolitiker springen von einem Zeitpunkt zum nächsten, über Jahrzehnte oder auch Jahrhunderte, um einen Mythos von Unschuld und Gefahr aufzubauen. Sie imaginieren Zyklen der Bedrohung in der Vergangenheit. Sie erschaffen ein imaginäres Muster, das sie in der Gegenwart Realität werden lassen, indem sie künstliche Krisen und tägliche Aufregergeschichten produzieren.

Unausweichlichkeit und Ewigkeit haben ihre je eigenen Propagandastile. Politiker der Unausweichlichkeit verschönern Fakten zu einem Kokon des Wohlgefühls. Politiker der Ewigkeit unterdrücken Fakten, um auszublenden, dass Menschen in anderen Ländern freier und wohlhabender sind, und sie unterdrücken die Idee, dass die Konzeption von Reformen auf Wissen basieren könnte. In den 2010er Jahren war vieles von dem, was geschah, im Rahmen einer politischen Fiktion inszeniert worden. Es waren spektakuläre Geschichten, die Aufmerksamkeit beanspruchten und auch den Raum, den man eigentlich gebraucht hätte, um nachzudenken. Aber wie auch immer die Propaganda auf die Zeitgenossen wirken mag, das endgültige Urteil der Geschichte ist damit nicht gesprochen. Es besteht eine Differenz zwischen der Erinnerung, den Eindrücken, die auf uns einwirken, und der Geschichte, den Zusammenhängen, die wir herausarbeiten – vorausgesetzt, der Wille dazu ist da.

In diesem Buch wird der Versuch unternommen, die Gegenwart für die Geschichte und damit die Geschichte für die Politik zurückzugewinnen. Es geht darum, eine Reihe von miteinander in Beziehung stehenden Geschehnissen unserer gegenwärtigen weltgeschichtlichen Lage zu verstehen, wobei die Spanne von Russland bis zu den Vereinigten Staaten reicht, und das zu einer Zeit, in der die Faktizität als solche infrage gestellt wird. Russlands Invasion der Ukraine im Jahre 2014 war ein Test für den Realitätssinn der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten. Viele Europäer und Amerikaner fanden es einfacher, die Propagandaphantome der Russen zu akzeptieren, als die Rechtsordnung zu verteidigen. Europäer und Amerikaner vergeudeten viel Zeit mit der Frage, ob eine Invasion stattgefunden habe, ob die Ukraine ein Land sei und ob sie nicht irgendwie und überhaupt überfallen werden musste. Hier wurde eine umfassende Schwachstelle sichtbar, die Russland bald in Europa und in den Vereinigten Staaten ausnutzte.

Chronik einer politschen Katastrophe

Gleichheit oder Oligarchie, Individualismus oder Unfreiheit, Wahrheit oder Fake News – die Welt, wie wir sie kannten, steht am Scheideweg. Viel hat der Westen selbst dazu beigetragen. Aber er hat auch mächtige Feinde, die seine Institutionen mit allen Mitteln untergraben wollen. Timothy Snyder verfasste die Chronik einer über uns hereinbrechenden politischen Katastrophe – der Aufstieg autoritärer Regime in Russland, Europa und den USA. Er schildert die beängstigenden Kontakte zwischen russischen Oligarchen und Donald Trump, und er warnt uns vor den Konsequenzen: Wenn wir nicht endlich aufwachen, dann wird die freie Welt vielleicht schon bald Vergangenheit sein.

Dieser Text ist ein Abdruck aus Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit – Russland, Europa, Amerika. Übersetzt von Ulla Höber und Werner Roller. © Verlag C.H.Beck, München 2018.

Geschichtsschreibung entstand als wissenschaftliche Disziplin in der Konfrontation mit der Kriegspropaganda. In seinem Buch über den Peloponnesischen Krieg, einem der frühesten Werke der europäischen Geschichtsschreibung, unterschied Thukydides genau zwischen den Berichten der Befehlshaber und den tatsächlichen Gründen für ihre Entscheidungen. Heutzutage wird der investigative Journalismus immer unersetzlicher, weil wachsende Ungleichheit die politische Fiktion befördert. Seine Renaissance erlebte er während der russischen Invasion der Ukraine, als mutige Reporter aus der Gefahrenzone berichteten. In Russland und in der Ukraine waren journalistische Initiativen zu den Themen Kleptokratie und Korruption entstanden, dann berichteten Journalisten, die Erfahrungen auf diesen Feldern gesammelt hatten, über den Krieg.

Was in Russland bereits eingetreten ist, geschieht vielleicht auch in Amerika und Europa: die Etablierung massiver Ungleichheit, die Ersetzung von Politik durch Propaganda, der Übergang von der Politik der Unausweichlichkeit zur Politik der Ewigkeit. Das russische Führungspersonal konnte Amerika und Europa in die Ewigkeit einladen, weil Russland zuerst dort angekommen war. Man beobachtete bei Amerikanern und Europäern die Schwächen, die man im eigenen Land bereits erkannt und ausgebeutet hatte.

Auf die Ereignisse der 2010er Jahre waren viele Amerikaner und Europäer nicht vorbereitet: das Aufkommen antidemokratischer Politik, die Abwendung Russlands von Europa und die Invasion der Ukraine, das Brexit-Referendum, die Wahl Trumps. Die Amerikaner neigen bei Überraschungen zu zwei Reaktionen. Entweder reden sie sich ein, das unerwartete Ereignis gebe es in Wirklichkeit gar nicht, oder sie behaupten, es sei so vollkommen neu, dass es sich dem historischen Verständnis entziehe. Entweder wird alles irgendwie gut, oder es ist so schrecklich, dass man nichts dagegen unternehmen kann. Die erste Reaktion ist der Verteidigungsmechanismus der Politik der Unausweichlichkeit. Die zweite kommt mit dem ächzenden Geräusch, das kurz vor dem Zusammenbruch der Unausweichlichkeit entsteht, wenn sie den Weg für die Ewigkeit freigibt. Die Politik der Unausweichlichkeit erodiert das Verantwortungsbewusstsein der Bürger, und falls eine ernste Herausforderung kommt, mutiert sie zur Politik der Ewigkeit. Die Amerikaner zeigten beide Reaktionen, als Russlands Wunschkandidat Präsident der Vereinigten Staaten wurde.

In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts und in der ersten Dekade des 21. ging der Einfluss von West nach Ost: mit der Übernahme von ökonomischen und politischen Vorbildern, der Verbreitung der englischen Sprache, der Erweiterung der Europäischen Union und der NATO. Inzwischen haben deregulierte Sphären des amerikanischen und europäischen Kapitalismus wohlhabende Russen in ein Reich gelockt, in dem es keine Ost-West-Geographie gibt, sondern Offshore-Bankkonten, Briefkastenfirmen und anonyme Deals, bei denen das Vermögen gewaschen wird, das dem russischen Volk gestohlen wurde. Auch aus diesem Grund driftete der Einfluss in den 2010er Jahren von Ost nach West, als die Ausnahme des Offshore zur Regel und die russische politische Fiktion außerhalb von Russland wirkmächtig wurde. Im Peloponnesischen Krieg definierte Thukydides „Oligarchie“ als „Herrschaft von Wenigen“ im Gegensatz zur „Demokratie“. Aristoteles verstand unter „Oligarchie“ die „Herrschaft der Wenigen, die reich sind“. In dieser Bedeutungsvariante erlebte das Wort Oligarchie in den 1990er Jahren in der russischen Sprache seine Renaissance – und die Erklärung von der „Herrschaft der wenigen, die reich sind“, the rule of the wealthy few, in den 2010er Jahren dann, aus gutem Grund, im Englischen.

Begriffe und Verfahrensweisen wanderten vom Osten in den Westen. Zum Beispiel das Wort Fake wie in Fake News: Das klingt wie eine amerikanische Erfindung, und Donald Trump reklamiert sie für sich, aber der Ausdruck wurde in Russland und in der Ukraine schon lange benutzt, bevor er seinen Siegeszug in den Vereinigten Staaten antrat. Er bedeutet, dass sich ein fiktionaler Text als journalistischer ausgibt, und zwar sowohl um Verwirrung über ein bestimmtes Geschehen zu stiften, als auch um den Journalismus als solchen zu diskreditieren. Politiker der Ewigkeit verbreiten zunächst selbst Fake News, dann behaupten sie, alle Nachrichten seien Fake, und schließlich, dass allein ihre eigenen Spektakel wahr seien. Die russische Kampagne, die die internationale Öffentlichkeit mit Fiktionen überschwemmen sollte, begann 2014 in der Ukraine und griff 2015 auf die Vereinigten Staaten über, wo sie 2016 dazu beitrug, den Präsidenten zu wählen. Die Technik war überall dieselbe, allerdings wurde sie mit der Zeit immer raffinierter.

Russland war in den 2010er Jahren ein kleptokratisches Regime, das entschlossen war, die Politik der Ewigkeit zu exportieren: Faktizität zu vernichten, Ungleichheit zu zementieren und ähnliche Tendenzen in Europa und in den Vereinigten Staaten zu beschleunigen. Das wird gut an der Ukraine sichtbar, wo Russland einen regelrechten Krieg führte, während es die Kampagnen zur Zerrüttung der Europäischen Union und der Vereinigten Staaten verstärkte. Der Berater des ersten pro-russischen amerikanischen Präsidentschaftskandidaten war der Berater des letzten pro-russischen Präsidenten der Ukraine gewesen. Russische Taktiken, die in der Ukraine scheiterten, waren nun in den Vereinigten Staaten erfolgreich. Russische und ukrainische Oligarchen versteckten ihr Geld so, dass der Aufstieg eines amerikanischen Präsidentschaftskandidaten davon profitierte. Das alles ist eine einzige, zusammengehörende Geschichte, die Geschichte unserer Gegenwart und unserer Entscheidungen.

Dieser Text ist ein Abdruck aus “Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit” und wurde ebenfalls in der IWMpost Nr. 122 (Herbst/Winter 2018) publiziert.
Übersetzt von Ulla Höber und Werner Roller.


Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © Timothy Snyder / C.H.Beck.
Titelbild: Der russische Präsident Vladimir Putin bei den Gedenkfeierlichkeiten am 16. Oktober 2014 in Belgrad anlässlich der Befreiung der Stadt durch die Rote Armee und die jugoslawischen Partisanen 1944. Foto: © dicus63 / iStock

Bei der Eröffnung des Vienna Humanities Festival 2018 – im Rahmen einer Wiener Vorlesung – hat Timothy Snyder über sein aktuelles Buch gesprochen und anschließend mit der Rektorin des IWM, Shalini Randeria, darüber diskutiert, welche Möglichkeiten es gibt, in dieser Zeit der Ungewissheit voranzukommen. Moderiert hat Lisa Nimmervoll (Der Standard).

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Das Vienna Humanities Festival, veranstaltet vom IWM, Wien Museum und Time to Talk, ist eine Reihe von rund 40 Veranstaltungen (in deutscher und englischer Sprache), die vom 27. bis 30. September 2018 zum dritten Mal im Wien Museum, der TU Wien, der Evangelische Volksschule und dem Stadtkino stattfanden.

Das Thema “Macht und Ohnmacht” von 2018 befasste sich mit der Verwundbarkeit von Demokratien in Europa angesichts historischer Ereignisse und versucht, sie in einen Zusammenhang mit aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen zu stellen.

Timothy Snyder: Judenplatz 1010

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

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