Während in Europa vor Kurzem die wichtigsten Wahlen in der Geschichte der Europäischen Union stattgefunden haben – und das Thema Identität erneut eine maßgebliche Rolle spielt –, besuchten wir die Orte, an denen Europas schlimmste Albträume wahr geworden sind. Von Srebrenica bis Kosovska Mitrovica: Manche sind nach Jahren in diese Städte, die dem Nationalismus zum Opfer gefallen waren, zurückgekehrt, um einem Land, das vor 20 Jahren aufgelöst wurde, eine neue Identität zu geben.
Was bedeutet es heute, europäisch zu sein? Die EU feierte dieses Jahr ihren 62. Geburtstag und die jungen Menschen, die dieser Union angehören, fragen sich nun, warum sie für etwas Begeisterung zeigen sollen, das es bereits gibt. Diese Frage können vielleicht jene beantworten, die nicht zur Europäischen Union gehören. Was können wir vom Balkan lernen, während wir den Ausgang der Europawahlen erst noch verdauen müssen? Wie kann es eine neue Perspektive geben, wenn das Trennende noch immer überwiegt?
Wir leben in einem Jahrhundert [20. Jahrhundert] des Aufbruchs, der Migration, des Exodus, des Verschwindens, einem Jahrhundert, in dem Menschen hilflos dabei zusehen mussten, wie jene, die ihnen nahestanden, hinter dem Horizont verschwanden.
Während die Auswanderungswelle von 1982 ein Verrat an Osteuropa war, schien das 1992 nicht der Fall gewesen zu sein. Nach 1989 führte der Wunsch nach dem, was Václav Havel „ein normales politisches Leben“ nannte, zu einer Massenauswanderung.Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay, Edition Suhrkamp, 2017 Gilt die gegenwärtige Abwanderung aus Osteuropa nach wie vor sowohl als demografischer als auch kultureller Verrat?
Ende 2013 lebten 5,7 Millionen Menschen aus dem Westbalkan im Ausland. Die durchschnittliche Emigrationsrate der Region lag bei 31,2 Prozent – von 18,2 Prozent in Serbien bis zu 45,3 Prozent in Montenegro.Marjan Petreski et al., The Size and Effects of Emigration and Remittances in the Western Balkans. A Forecasting Based on a Delphi Process, Südosteuropa. Journal of Politics and Society, De Gruyter, Vol. 65(4), Seiten 679-695, Dezember. Den Prognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zufolge wird Serbien ca. 9 Milliarden US-Dollar als direkte Folge der Abwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften aus den Bereichen Wissenschaft, Technologie und Innovation verlieren.
Es sind nicht nur die Jungen, die dem Westbalkan den Rücken kehren. Laut Statistik liegt das Medianalter der Menschen, die aus den ehemaligen jugoslawischen Republiken geflüchtet sind, in Serbien bei 43 Jahren, in Kroatien bei 42, in Bosnien und Herzegowina bei 39 und im Kosovo bei 29 Jahren. Im Vergleich zu 1989 haben 18,03 Prozent der Bevölkerung Bosniens das Land verlassen, in Serbien waren es 7,63 Prozent, in Kroatien 7,62 Prozent, im Kosovo 4,27 Prozent und in Slowenien 8,99 Prozent.
Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, lautet daher: Wie viele Menschen werden in zehn Jahren noch in diesen Ländern leben? Wir trafen Menschen, die sich entschieden haben, in jene Länder zurückzukehren, die die meisten, sofern sie die Möglichkeit haben, verlassen, um nach Westeuropa zu gehen.
Irvin Mujčić
Irvin Mujčić lebte von 1992 bis 2014 in Italien, nachdem er als Fünfjähriger gemeinsam mit seinen beiden Geschwistern und seiner Mutter dem Genozid entkommen war. Er verlor seinen Vater und seinen Onkel. Nach 22 Jahren entschloss er sich, in seine Geburtsstadt zurückzukehren, um sich ihrer Resilienz zu widmen. Dabei geht es ihm nicht darum, den Völkermord zu vergessen, sondern vielmehr dem Naturraum um die Stadt, für den Srebrenica vor dem Krieg bekannt war, zu neuem Stellenwert zu verhelfen. Mit dem House of Nature, einem Projekt, das Irvin Mujčić vor drei Jahren ins Leben rief, soll eine nachhaltige Entwicklung gefördert und die zerstörte Landschaft wieder neu belebt werden.
Überleben oder Verschwinden
Irvin kehrte zurück nach Srebrenica, wo sein Vater 1995 verschwand. Die Stadt erzählt immer noch eines der wohl schlimmsten Kapitel in der jüngeren Geschichte Europas, und noch immer flüchten viele von hier. Irvin kam mit einer Mission zurück: seine eigene Resilienz und die der Region zu stärken. Im Rahmen seines Projekts Srebrenica, city of hope gründete er das heutige House of Nature – ein seltenes Beispiel nachhaltiger Entwicklung im heutigen Europa.
„Welchen Sinn hat das Leben, wenn diese Stadt stirbt? Ausgehend von dieser Frage wurde meine Sehnsucht, wieder in meiner Geburtsstadt zu leben, immer stärker.“ Das war das Erste, was uns Irvin erzählte, als wir ihn im Haus seines Vaters in Srebrenica trafen. Wir besuchten ihn am 1. Mai, einem wie auch schon zu Zeiten des ehemaligen Jugoslawiens nach wie vor wichtigen Feiertag. Es war ein kalter, regnerischer 1. Mai und Irvin entzündete ein kleines Feuer, um uns zu wärmen. „Wenn du ein Trauma überwinden willst, dann musst du dich ihm stellen”, meinte er und erzählte, dass manche der Heimgekehrten unter Schlafstörungen litten. „Diese Entscheidung war für mich wirklich wichtig, weil ich genau das Gegenteil von dem tat, was die meisten Menschen hier auf dem Balkan machen. Ich entschloss mich zurückzukommen. Heute verlassen unzählige Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien ihre Heimat, um in Deutschland zu arbeiten. Ich tat genau das Gegenteil. Ich gab meinen gut bezahlten, sicheren Job in Brüssel auf, um nach Bosnien zurückzukehren, wo die Jugendarbeitslosenquote derzeit bei 60 Prozent liegt.“
Nach 22 Jahren in Italien war dieser Schritt für Irvin die erste wirklich bewusste Entscheidung in seinem Leben. „Ich wusste, dass ich ein großes Risiko einging, aber mir war auch klar, dass dies tatsächlich das war, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Seit ich mich dazu entschloss, sind sehr viele Dinge passiert, die auch mit meiner Identität zu tun haben. Du findest heraus, wer du wirklich bist, welche Dinge im Leben wichtig sind, weil du deine Komfortzone verlässt und in eine völlig unbekannte Welt eintauchst. Du kannst scheitern, aber du kannst auch überleben und etwas wirklich Wichtiges tun.“
In Srebrenica spricht man von einer Zeit des Friedens, einer Zeit des Kriegs und einer Zeit der Rückkehr. Als Friedenszeit gilt interessanterweise nur die Zeitspanne vor dem Krieg in den 1990er-Jahren. „Hier herrscht immer noch Krieg, er wird aber auf einer politischen und sozioökonomischen Ebene geführt.“ Überleben oder Verschwinden: Vor diese Wahl stellte der General der serbisch-bosnischen Armee Mladić die Bevölkerung während der Belagerung von Srebrenica 1995. „Ich denke heute oft über diesen Satz nach“, gesteht Irvin. „Heute hat die Politik andere Folgen. Die Menschen verlassen ihre Heimatstädte, um in Deutschland zu arbeiten. Was zurückbleibt, sind leere Städte und alte Menschen. Nur die Alten, die im Ausland Geld verdient haben, kehren zurück. Das ist der Moment, wo man sich wirklich fragt: Überleben oder Verschwinden?“
Srebrenica, city of hope
Am Beginn von Irvins Projekt stand die Idee, Srebrenica ein neues Image zu verleihen. „Meine Stadt ist nur für die Gräueltaten des Völkermords bekannt, mein Projekt nennt sich aber Srebrenica, city of hope. Ich möchte den Leuten die Schönheit dieses Ortes zeigen und ihnen die Geschichten der Menschen, die zurückgekehrt sind, erzählen.“ Herzstück des Projekts ist die Entwicklung eines nachhaltigen Tourismus, der Srebrenica von einer anderen Seite zeigen und generell eine andere Sichtweise des Lebens vermitteln soll. „Wir laden die Menschen ein, nach Srebrenica zu kommen, eine Zeit lang zu bleiben, die Menschen hier kennenzulernen und ihre Geschichten zu hören. Woran es derzeit hier fehlt, sind Alternativen.“
Srebrenica könnte mit seiner eigenen Geschichte der Resilienz Teil dieser Alternative sein. „Wir arbeiten im Rahmen des Projekts ‚Aus der Vergangenheit lernen, die Gegenwart auskosten, gemeinsam die Zukunft gestalten‘ auch sehr viel mit Schulen.“ Mit diesem Projekt versucht Irvin zu zeigen, wohin religiöser Fanatismus führen kann. „Das sieht man derzeit in Westeuropa. Es gibt immer mehr Nationalismus, Rassenhass und eine falsche Vorstellung von Diversität. Auf der anderen Seite versuchen wir auch, Achtung vor der Natur zu vermitteln. Während des Krieges zeigte sich in Srebrenica, dass man ohne Wasser und Land, ohne Solidarität und Freundschaft nicht leben kann. Es waren Dinge wie diese, die die Menschen den Krieg überleben ließen.“
Mit Srebrenica, city of hope soll die lokale Wirtschaft unterstützt werden, um Abwanderung zu verhindern. „Mit der Entwicklung des Tourismus wollen wir hier das Fehlen eines lokalen Marktes kompensieren. Es geht in erster Linie um eine nachhaltige lokale Wirtschaft und darum, den Bevölkerungsrückgang in der Region zu stoppen.“ Sechs verschiedene Ortschaften und Gemeinden rund um Srebrenica (Osmače, Perućacsee, Ljeskovik, Jasenová, Potočari, Šušnjare) und vier verschiedene Familien sind an diesem Projekt beteiligt. Eines der größten Probleme heutzutage ist es, junge Menschen miteinzubinden, für die das Leben hier in Bosnien besonders deprimierend ist. Sie sind mit der nationalistischen Rhetorik der Nachkriegszeit aufgewachsen. Deshalb ist eine generationenübergreifende Arbeit von immenser Bedeutung.
Irvin hat heute mit dem Mann, der er vor vier Jahren war, nicht mehr viel gemein. Als er aus Italien zurückkam, wo er mehr als 20 Jahre gelebt hatte, erschien es ihm wie die Rückkehr aus einem aufgezwungenen Exil. „Als ich 1992 ins Valcamonica in Italien kam, gab es nur zwei Menschen, die etwas gegen die Flüchtlinge aus Bosnien hatten. Die meisten Touristen, die heute hierher kommen, sind Italiener und ich möchte etwas von dem zurückgeben, was ich in Italien bekommen habe. Ich habe Italien gut kennengelernt und jetzt möchte ich anderen mein Land zeigen.“ Irvin ist auch der Einzige aus seiner Familie, der sich tatsächlich entschlossen hat zurückzukommen. „Meine Mutter, meine Schwester und mein Bruder kommen jetzt auch wieder öfter hierher und fühlen sich mit dem Land stärker verbunden.“ Weil er seinen eigenen Weg gefunden hat, seine Identität zu begreifen, sieht Irvin Bosnien als ein Land ohne fühlbare Grenzen. „Für mich bedeutet Bosnien, im Einklang mit der Natur und in Frieden mit anderen Menschen zu leben und ihre Traditionen und Lebensweisen zu respektieren.“
Emin Bektić
Emin und seine Familie sind Teil des Projekts Srebrenica, city of hope. Sie leben mit ihren 18 Pferden inmitten der Natur umgeben von Landminen auf einem von Panzern zernarbten Boden. Wer sie besucht, bekommt das andere Gesicht der Identität Srebrenicas zu sehen. Emin ist aus Deutschland zurückgekommen, wo er bis 2000 gearbeitet hatte. Er sieht sich als „deutscher Rentner“, der mit seiner Gitarre versucht, die Traditionen einer Region zu bewahren, die einen Großteil ihrer Bevölkerung verloren hat. „Wo sind unsere Serben?“, fragt er in seinen Gedichten.
Emin lebte 33 Jahre lang in Deutschland, wo er in der Nähe von Dortmund im Bergbau tätig war. „Ich würde nie in einem Bergwerk auf dem Balkan arbeiten. Die Arbeitsbedingungen hier sind unzumutbar. Mittlerweile würde ich auch nicht mehr in Deutschland leben wollen, aber in Belgrad, Sarajevo oder Zagreb genauso wenig. Ich bin alt und will jetzt auf meinem eigenen Land leben.“
Wenn es nach ihm geht, sollen auch seine vier Töchter in Bosnien bleiben. Er erzählte uns, dass er nicht immer an Gott glaube. „Ich habe sowohl mit dem Christentum als auch mit dem Islam Probleme. Man sieht mich als Muslim. Die Leute sagen hier oft: ‚Es war Gottes Wille.‘ Aber ich frage mich: Wollte Gott, dass ich dich töte? Dann glaube ich nicht an Gott. Unter diesen Umständen existiert Gott für mich nicht. Wenn das Gottes Wille war, dann ist er der schlimmste Feind der Menschheit.“
Während wir im Gras auf seinem Grundstück in der Nähe von Srebrenica sitzen, beklagt er den Bevölkerungsschwund seiner Stadt. „Niemand lebt mehr hier. Haben Sie irgendjemanden gesehen, als Sie die 16 Kilometer von der Stadt zu uns herausfuhren?“, fragt mich Emin. „Es ist niemand mehr da. Serben, Muslime, Zigeuner und Katholiken musizierten früher gemeinsam. Sie spielten die verschiedensten Instrumente. Jetzt spiele ich nur noch für die Besucher – hauptsächlich Italiener –, die Irvin herbringt. Ich spiele nicht mehr für Serben oder Muslime. Sie scheinen sich für ihre Geschichte zu schämen. Unsere Leute schämen sich für ihre eigene Musik. Wenn du dich für deine eigene Musik und Tradition schämst, dann gibt es keine Hoffnung für dich. In die Kirche oder die Moschee zu gehen, wird dir da auch nicht helfen. Ich brauche Deutschland nicht. Ich will mein eigenes Land. Wenn du eine Zukunft willst, musst du die Tradition hochhalten. Ich bin kein Hellseher, aber ich bin auch nicht blind. Ich kann sehen, dass wir Gefahr laufen, unsere Tradition zu verlieren.“
Seine Gedichte handeln vom Osmanischen Reich, vom Tito-Regime und nicht zuletzt vom letzten Krieg. „Hier in Srebrenica gibt es keinen ‚unserer‘ Serben mehr. Alle Menschen, die heute hier als Serben leben, sind nach dem Krieg gekommen.“ „Überleben oder Verschwinden“ – dieser Gedanke drängt sich wieder in den Vordergrund, während unser Blick über die leere Landschaft um uns schweift.
Original auf Englisch.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Marina Lalovic. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Eine Familie aus Srebrenica, die nach dem Krieg nach Tuszla umgesiedelt wurde, ist für die Feierlichkeiten zum 1. Mai an die Drina zurückgekehrt. Foto: © Martino Lombezzi
Dieser Text entstand im Rahmen des Milena-Jesenská-Stipendienprogramms Für Journalistinnen und Journalisten am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, unterstützt von der ERSTE Stiftung und Project Syndicate.