Angeheizt durch Proteste

Lehren aus den demokratischen Defiziten Bulgariens

Seit knapp einem Monat protestieren die Bulgarinnen und Bulgaren nun schon. In Sofia und anderen Großstädten des Landes finden täglich Kundgebungen statt, auf denen der Rücktritt von Ministerpräsident Bojko Borissow und Generalstaatsanwalt Iwan Geschew gefordert wird. Die Proteste werden zwangsläufig weitergehen.

Borissow weigerte sich zurückzutreten und seinen Posten einem Technokraten aus seiner eigenen Partei GERB („Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“) zu überlassen. In den frühen Morgenstunden des 7. September wurden die von den Protestierenden errichteten provisorischen Lager und Barrikaden von der Polizei gewaltsam geräumt. Borissow und seine Koalitionspartner vom rechtsextremen Bündnis Vereinigte Patrioten gießen Öl ins Feuer.

Der Unmutsausbruch kommt nicht überraschend. In den vergangenen zehn Jahren ist der Protest zum festen Bestandteil der maroden Demokratie Bulgariens geworden, ähnlich wie in den Nachbarländern auf dem Balkan. Auf den Straßen gab es mehrere Protestwellen, die sich gegen Kabinette und Parteispitzen verschiedener Couleur richteten. In den Jahren 2013-2014 beispielsweise fanden in Sofia an mehr als 400 Tagen in Folge regierungsfeindliche Kundgebungen statt, die erst mit dem Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Plamen Orescharski und seines Kabinetts endeten.

Damals wie heute sind die Auslöser die gleichen geblieben: Vereinnahmung des Staates durch private Interessen, der Kuschelkurs zwischen ranghohen Amtsträgern und ihren Geschäftskumpanen, die grassierende Korruption, die in nicht unbeträchtlichem Maße durch die ins Land fließenden EU-Gelder genährt wird, das Zusammenwirken der Staatsanwaltschaft mit zwielichtigen Oligarchen. Doch früher waren solche Themen den jüngeren, im Umgang mit sozialen Medien versierten, gebildeten und oft betuchten Städtern vorbehalten – „den Klugen und Schönen“, wie Boulevardzeitungen und TV-Moderatoren höhnten.

Das scheint nicht länger der Fall zu sein. Eine Umfrage Ende Juli hat ergeben, dass über 60 % der Bulgarinnen und Bulgaren den Protesten positiv gegenüberstehen und 45 % bzw. 43 % den Rücktritt von Borissow und Geschew fordern. In der öffentlichen Meinung genießt Staatspräsident Rumen Radew, der sich auf die Seite der Protestierenden gestellt hat, doppelt so hohe Beliebtheitswerte wie der umstrittene Ministerpräsident. Hristo Iwanow, der Vorsitzende der kleinen liberalen Partei Ja!Bulgarien, deren Anhänger eine zentrale Rolle bei den Protesten spielen, liegt laut Umfragen vor Radew und Borissow und wird von beinah der Hälfte der bulgarischen Bevölkerung favorisiert.

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Auch Monate später, am 10. September 2020, demonstrieren Menschen vor dem Gebäude der Nationalversammlung (Parlament) und fördern den Rücktritt der Regierung am 64. Protesttag in Sofia. Foto: © Valentina Petrova / AP Photo / picturedesk.com

Die schlechte Nachricht ist, dass die Wurzeln des Übels in Bulgarien tief liegen und zweitrangig ist, wer gerade an der Spitze steht. Borissow war 2013-2014 in der Opposition und unterstützte die Proteste gegen Orescharski sogar. An die Macht gelangte er, als die regierende Bulgarische Sozialistische Partei (BSP) ihren Koalitionspartner, die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), verlor. Die DPS, offiziell in Opposition, unterstützt Borissow stillschweigend. Im Gegenzug wächst und gedeiht das Geschäftsimperium ihres Aushängeschilds, des Tycoons Deljan Peewski, dessen Ernennung zum Leiter der Agentur für Nationale Sicherheit die Proteste 2013-2014 auslöste.

Peewski und dessen Verbündeter, Generalstaatsanwalt Geschew, sind zum Inbegriff dessen geworden, was in Bulgarien als „Mafia“ bezeichnet wird, mit Ahmed Dogan, dem einflussreichen DPS-Gründer, in der Rolle des Paten. Dogan war in den frühen 1990er-Jahren an der Entstehung einer früheren Form dieses Kartells beteiligt, der berüchtigten Multigroup, deren Blütezeit Misha Glenny in seinem Instant-Klassiker McMafia ausführlich erörterte. Das Problem Borissow lässt sich lösen. Geschew, der sich als Volkssheriff gegen Peewskis Konkurrenten aufspielt, könnte ebenfalls seinen Hut nehmen. Die Demontage eines Systems, das auf Klientelismus und Rentenökonomie beruht, bleibt jedoch eine Herkulesaufgabe. An Ideen mangelt es freilich nicht. Die Reform des Justizwesens mit dem Ziel, auch die allmächtige Generalstaatsanwaltschaft stärker zur Rechenschaft zu ziehen, wird seit Jahren diskutiert. Angesichts der anhaltenden Opposition von Veto-Akteuren in hohen Positionen kein leichtes Unterfangen.

Ein einfacher Mechanismus zur Lösung der andauernden Krise sind Wahlen. Von den Protestierenden werden im Herbst Neuwahlen gefordert; Borissow und insbesondere die Vereinigten Patrioten, die bei den Wahlen wohl haushoch verlieren werden, würden lieber bis zum Ende ihrer Amtszeit im März 2021 im Amt bleiben. Auch wenn die GERB-Partei massenhaft Unterstützung einbüßt, hat sie durchaus die Chance, erneut vor der BSP den ersten Platz zu belegen. Eine neue populistische Bewegung mit dem Showmaster und Musiker Slawi Trifonow an der Spitze könnte ebenfalls ein starkes Ergebnis einfahren. Trifonow begrüßt derzeit die Proteste und ruft zu einer umfassenden Säuberung des Staates auf. Doch hartgesottene Zyniker vermuten, dass er einen Deal mit Borissow eingehen und dem Kabinett beitreten könnte.

Der Status quo in Bulgarien hält sich hartnäckig. Doch es gibt auch einen Silberstreif am Horizont. Zum einen ist der Geist längst aus der Flasche und Proteste werden auch in Zukunft wieder ausbrechen, wenn rote Linien überschritten werden. Zum anderen ist davon auszugehen, dass die reformorientierte Koalition unter der Führung von Ivanows Ja!Bulgarien ins Parlament einziehen und von innen heraus Druck auf die Institutionen ausüben wird. Das mag gewiss nur ein kleiner Trost sein, ist jedoch nicht ohne Weiteres von der Hand zu weisen.

Die größere Lehre, die man aus dem Beispiel Bulgarien ziehen kann, ist, dass bürgerschaftliches Engagement von der Basis eine unabdingbare Voraussetzung für einen echten demokratischen Wandel ist. In den 1990er-Jahren hatte das Balkanland das Glück, auf den Zug aufspringen zu können und es gemeinsam mit anderen Ländern Mittel- und Osteuropas in die NATO und die EU zu schaffen. Sobald man erst einmal Mitglied war, verlor das Land an Schwung und die strukturellen Probleme verschärften sich, nicht anders als in Ungarn und Polen – Länder, die aus offensichtlichen Gründen viel stärker im internationalen Rampenlicht stehen. Die EU-Mitgliedschaft war insgesamt eine positive Erfahrung: Sie brachte unbestreitbare wirtschaftliche Vorteile und eröffnete den Bulgarinnen und Bulgaren mehr Chancen.

Dennoch ist die EU bestenfalls ein Verbündeter und kein Ersatz für innenpolitisch motivierte Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit, Rechenschaftspflicht und Transparenz. Auch manche Brüsseler Akteure können Schaden anrichten: etwa die Parteien im Europäischen Parlament, die reflexartig ihre lokalen Fraktionsmitglieder unterstützen oder schützen, ob in Bulgarien oder anderen Mitgliedsstaaten.

Auch nationale Regierungen sind nicht unschuldig. Obwohl die EU-Rechtsordnung in ihrer jetzigen Form genügend Instrumente bietet, um einzelne Mitgliedsländer für ihre Versäumnisse im eigenen Land zur Rechenschaft zu ziehen, greift man aus Gründen politischer Opportunität nicht ohne Weiteres darauf zurück. Die Einführung strengerer Auflagen für EU-Finanzhilfen, ein Leitmotiv in den laufenden Budgetverhandlungen, wäre eine begrüßenswerte Entwicklung, wenn auch keine Wunderwaffe, solange es am politischen Willen fehlt, von Sanktionen Gebrauch zu machen. Eine Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, auch in Form von Protesten, könnte viel mehr zur Stärkung Europas beitragen.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 13. August 2020 auf Europesfutures.eu. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.

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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: DemonstrantInnen schwenken die bulgarische Flagge während eines Protests gegen die Regierung am 14. Juli 2020 in Sofia, Bulgarien. Foto:© Nikolay Doychinov / AFP / picturedesk.com

Balkan als Bewährungsprobe für geopolitisches Europa

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

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