Bye-Bye Balkan

Tim Judah über eine Region die ihre Bevölkerung verliert

Die ehemals kommunistischen Länder Südosteuropas leiden unter einem katastrophalen Bevölkerungsschwund, mit weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Folgen.

Die Jungen ziehen weg. Die Geburten gehen zurück. Die Gesellschaften altern. Und obwohl hunderttausende Flüchtlinge und Migranten durch weite Teile der Region strömen, wollen nur wenige von ihnen bleiben. Grenzen, ethnisch bedingte Kontroversen, EU-Beitritt, NATO-Mitgliedschaft und Altlasten aus dem Krieg der 1990er – diese Themen beherrschen die Nachrichten aus dem Balkan. Seriöse Analysen über den demografischen Rückgang, die Entvölkerung und die schrumpfende Erwerbsbevölkerung in der Region findet man jedoch kaum. Möglicherweise liegt das daran, dass Regierungen weder glaubwürdige Antworten noch die Ressourcen haben, um dem entgegenzuwirken. Wenn Demografie Schicksal ist, dann sieht die Zukunft des Balkans düster aus – aber dem ist nicht nur hier so. Von Griechenland bis Polen kämpfen beinah alle ost-, mittel- und südosteuropäischen Länder mit denselben Problemen.

Aktuellen Prognosen zufolge werden bis 2050 in Bulgarien 38,6 Prozent weniger Menschen leben als 1990. In Serbien werden es 23,8 Prozent weniger sein, in Kroatien 22,4 Prozent und in Rumänien 30,1 Prozent. Die Republik Moldau hat bereits 33,9 Prozent ihrer Bevölkerung verloren. Die Fertilitätsrate Bosnien-Herzegowinas ist mit 1,26 eine der niedrigsten weltweit. Mit einem Medianalter von 29 ist der Kosovo zwar das Land mit den jüngsten Einwohnerinnen und Einwohnern in der Region, aber auch hier sind die Bevölkerungszahlen rückläufig. Auch wenn sich die Zahlen und Prozentsätze unterscheiden, so lassen sich doch beinahe überall ähnliche Tendenzen beobachten, wobei sie in manchen Ländern noch ausgeprägter sind. Das Medianalter in Serbien beträgt 43 und liegt damit über dem EU-Durchschnitt von 42,6 Jahren. Wie man es auch dreht und wendet: Die demografische Zukunft des Balkans und diesem von Abwanderung und chronisch niedrigen Geburtenraten betroffenen Teil Europas ist dramatisch.

Anders als in der Vergangenheit

Historisch gesehen gab es in allen Ländern der Region, und genau genommen in fast ganz Europa, Perioden starker Abwanderung. Im Fall des ehemaligen Jugoslawiens gingen ab den 1960er-Jahren Hundertausende als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ins Ausland. Auch wenn sie nicht unbedingt vorhatten, ihrer Heimat für immer den Rücken zu kehren, so kamen doch viele von ihnen nicht mehr zurück – vielleicht, weil ihre Kinder im Ausland lebten oder aufgrund des Kriegs oder aus beiderlei Gründen. Einige Jahrzehnte zuvor verließen die Juden das Land – oder kamen im Holocaust ums Leben – und ethnische Deutsche wurden vertrieben oder getötet. Noch eine Generation früher waren es Muslime, Albaner und Türken aus Bosnien und anderen Teilen des ehemaligen Jugoslawiens und der Balkanregion im Allgemeinen, die im Zuge verschiedener Wellen während des 19. und 20. Jahrhunderts abwanderten. Von den dalmatinischen Inseln und aus Teilen Montenegros wanderten viele in die Vereinigten Staaten aus. Aus Griechenland zog man in die Türkei oder Bulgarien oder umgekehrt.

Während Geburtendefizite und Emigration im Westen durch Zuwanderung ausgeglichen werden, ziehen relativ wenige Menschen in die Balkanländer.

Zahlenmäßig wirkte sich das nicht groß aus, da Frauen damals fünf bis sieben Kinder hatten. Die Emigration verringerte zumindest in Friedenszeiten den Druck auf Land und Ressourcen, und die Bevölkerung wuchs weiterhin. Das ist einer der Gründe, warum sich die heutige Situation von jener in der Vergangenheit so grundlegend unterscheidet. Damals wiesen die Balkanstaaten die klassischen demografischen Merkmale armer Auswanderungsländer auf. Heute zeigen sich in der Region jedoch sowohl Symptome reicher als auch armer Länder. Das hat es noch nie gegeben.

Statistischer Albtraum

Um die Auswirkungen des demografischen Rückgangs besser zu verstehen, muss man wissen, welche Fragen zu stellen und wie die verfügbaren Daten zu interpretieren sind. Rund um das Thema Emigration liegen keine zuverlässigen Zahlen vor. Geburten und Todesfälle werden erfasst, diese Daten sind uns bekannt. Ob jemand tot oder lebendig ist, steht außer Zweifel. Aber wo man lebt, das ist eine ganz andere Frage. Geht man zum Arbeiten ins Ausland, dann muss man dies keiner Stelle im eigenen Land melden. In den Zielländern liegen vielleicht Zahlen vor, wie viele Personen sich ebendort registriert haben, diese werden jedoch nur selten ausgewertet. Die kroatische Nationalbank ist eine der wenigen Institutionen, die diese Daten untersucht und damit gezeigt hat, wie schwierig es ist, konkrete Zahlen zu ermitteln. Ein und dieselbe Person kann etwa im eigenen Land als Wähler und Steuerzahler registriert sein und gleichzeitig auch in mehreren anderen Ländern aufscheinen.

Nehmen wir etwa das Beispiel einer Frau aus dem Osten Kroatiens, wo es nicht viel Arbeit oder zumindest nicht viel gut bezahlte Arbeit gibt. Sie lebt ein halbes Jahr zu Hause und pflegt in der anderen Hälfte ältere Menschen im Ausland. Sie kann eine irische oder britische Sozialversicherungsnummer und vor Kurzem vielleicht auch in Deutschland gearbeitet haben. Sie könnte auch Serbin sein und einen serbischen oder bosnischen Pass besitzen. Wenn sie in einem dieser Länder eine Immobilie besitzt, könnte sie dort ebenso als Einwohnerin in der Statistik aufscheinen. Erschwerend kommt hinzu, dass viele der als kroatische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Ausland registrierten Personen in Wirklichkeit aus Bosnien stammen. Man kann in etwa davon ausgehen, dass 20 Prozent von ihnen bosnischer Herkunft sind, aber valide Daten gibt es dazu nicht. Bosnische Kroatinnen und Kroaten und jede oder jeder, die oder der überzeugend darlegen kann, eine oder einer zu sein, hat Anspruch auf einen kroatischen Pass. Da Bosnien im Gegensatz zu Kroatien nicht zur EU gehört, erhöht eine kroatische Staatsbürgerschaft die Chancen auf einen Job in der Union. Ungarn vergibt Reisepässe an Ungarinnen und Ungarn in Rumänien, Serbien und anderswo, und Rumänien verleiht einem großen Teil der moldauischen Bevölkerung die rumänische Staatsbürgerschaft. Bulgarien stellt Personen aus Mazedonien Pässe aus. Aus diesen und anderen Gründen sind selbst die in seriösen Medien zitierten Zahlen hinsichtlich Bevölkerung und Demografie oft völlig falsch.

Einige aktuelle Beispiele:

Laut der Financial Times leben in der Republik Moldau 3,5 Millionen Menschen. Im Jahre 2018 berichtete das Blatt, dass 3,6 Millionen Rumäninnen und Rumänen – bzw. 16 Prozent der Bevölkerung – seit 2007 ausgewandert seien. Der Guardian hob kürzlich in einer Grafik hervor, dass der Kosovo zwischen 2007 und 2018 15,4 Prozent seiner Bevölkerung verloren habe und so europaweit den stärksten Rückgang verzeichnete. All diese Zahlen sind falsch.

Heute leben in der Republik Moldau nicht mehr als drei Millionen Menschen, möglicherweise sogar weit weniger. Die Zahlen für Rumänien verweisen auf den Bevölkerungsrückgang zwischen 1990 (nicht 2007) und 2017 und beziehen auch andere Faktoren mit ein, nicht nur die Abwanderung. Die Bevölkerungsabnahme im Kosovo ab 1991 (nicht 2007) liegt tatsächlich bei etwa 4,3 Prozent. Was den Kosovo anbelangt, so liegt der Grund für den krassen Irrtum darin, dass es keine verlässlichen Zahlen vor der Volkszählung 2011 gab, die aufzeigte, dass viel weniger Menschen in dem Land lebten als bisher angenommen. Es wurden also Vergleiche zwischen den aktuellen Zahlen und den hohen, jedoch völlig unzutreffenden bisherigen Zahlen angestellt. In den Medien und der Wissenschaft geht man wohl davon aus, dass die Zahlen auf den Webseiten nationaler Statistikämter korrekt sein sollten, da es sich um staatliche Behörden handelt. Zumindest in dieser Region ist dies nicht unbedingt der Fall bzw. werden die Zahlen nicht ausreichend erläutert. 1991 erfasste die letzte jugoslawische Volkszählung rund eine Million im Ausland lebende Bürgerinnen und Bürger. Äußerst selten wird dies bei einer Analyse der Bevölkerungszahlen vor und nach dem Krieg berücksichtigt, weshalb hier in der Regel Äpfel mit Birnen verglichen werden, d.h. einer Gesamtzahl inklusive Menschen, die 1991 nicht im Land lebten, wird die Summe der nach dem Krieg tatsächlich in den Nachfolgestaaten lebenden Menschen gegenübergestellt.

Die Menschen auf dem Balkan leben lange – nicht so lange wie in den reicheren Ländern Europas, aber wesentlich länger als in ärmeren Staaten. Gleichzeitig sind die Fertilitätsraten, wie auch in den wohlhabenderen Ländern, drastisch gesunken. Aber während Geburtendefizite und Emigration im Westen durch Zuwanderung ausgeglichen werden, ziehen relativ wenige Menschen in die Balkanländer. In Mittel- und Osteuropa konnte die starke Abwanderung und niedrigen Geburtenraten nur in Polen durch die ungeplante Zuwanderung von mehr als einer Million Menschen aus der Ukraine, dank derer auch der andernfalls kritische Arbeitskräftemangel abgemildert werden konnte, signifikant kompensiert werden

Hilflosigkeit der Regierungen

Auch wenn man sich allerorts der Situation sehr wohl bewusst ist, wissen die Regierungen nicht, was sie dagegen tun sollen bzw. verfügen nicht über die erforderlichen Mittel. In Kroatien können junge Paare staatlich geförderte Hypotheken in Anspruch nehmen. Doch auch dafür muss zuerst ein gewisses Grundkapital vorhanden sein, und die Anzahl der verfügbaren Hypotheken sowie der in Frage kommenden Paare ist im Vergleich zum Ausmaß des Problems verschwindend klein. Manche Länder zahlen Frauen und Familien mit mehreren Kindern spezielle Beihilfen aus. Es gibt jedoch keinerlei Anzeichen dafür (zumindest noch nicht), dass derartige Maßnahmen sie dazu bewegen können, mehr Kinder zu bekommen.

Im weitaus wohlhabenderen Polen profitieren Familien mit niedrigem Einkommen von erheblichen steuerlichen Vorteilen, wodurch sie gleichzeitig zu treuen Anhängern der regierenden Partei Recht und Gerechtigkeit wurden, aber auch hier werden nicht mehr Kinder geboren. Will man nicht auf Reisebeschränkungen im alten kommunistischen Stil zurückgreifen, lässt sich scheinbar auch wenig gegen die Abwanderung tun, abgesehen von starken Lohnerhöhungen in bestimmten Bereichen wie dem Gesundheitswesen. Geld ist jedoch nicht der einzige Grund, warum Menschen ihre Heimat verlassen. Früher zogen jene, die nicht ins Ausland gehen wollten, vom Dorf in die Kleinstadt und von dort weiter in die Hauptstadt.

Der Unterschied zwischen dem damaligen und heutigen Europa besteht darin, dass es heute einfacher denn je ist, diesen Schritt zu überspringen. Der Balkan und andere ehemals kommunistische Länder sind die Dörfer von heute. Wenn man aus dem ländlichen Bulgarien oder einer Kleinstadt in Polen kommt, warum sollte man dann in das kleine Sofia oder triste Breslau ziehen, wenn man gleich direkt nach London oder Berlin gehen kann? Da draußen wartet die große weite Welt. Für die meisten westlichen Länder benötigen die meisten Europäerinnen und Europäer kein Visum und billige Fluglinien bedeuten, dass man z.B. von Österreich oder Italien hin- und herfliegen kann, so wie das frühere Generationen innerhalb des eigenen Landes mit dem Bus gemacht hätten. Sekundärflughäfen wie Stansted oder Beauvais spielen heute die gleiche Rolle wie Busbahnhöfe, von denen man früher in weit entfernte Provinzen fuhr.

Arbeitsmarktkrise

Indes führen Demografie und Abwanderung allerorts zu einem Arbeitskräftemangel. Regierungen stehen vor einem echten Problem. Die durch die Arbeitslosigkeit bedingten Probleme und Kosten werden durch die Migration, die auch für Kapitalzuflüsse durch Geldsendungen sorgt, enorm abgefedert. Gleichzeitig nimmt jedoch auch die erwerbsfähige Bevölkerung ab, sodass ausländische Investoren abgeschreckt werden oder in manchen Fällen sogar abwandern. Die logische Antwort auf den Arbeitskräftemangel wären Lohnerhöhungen, was aber nicht geschieht, zumindest nicht im großen Stil. Im ehemaligen Jugoslawien verfügen Busunternehmen nicht über die nötigen Geldmittel, um mit den Löhnen deutscher Firmen, die Fahrer brauchen, konkurrieren zu können. Das gilt für Belgrad ebenso wie für Rijeka in Kroatien. In Bereichen, in denen die Arbeit relativ einfach ist und auf niedrigen Löhnen basiert, wie etwa die Automobilzulieferindustrie in der Republik Moldau, ist es für Unternehmen billiger, abzuwandern als höhere Löhne zu zahlen.

Das ist natürlich nicht in allen Bereichen der Fall: In manchen Unternehmen werden Löhne erhöht und Mitarbeiter weiterbeschäftigt, besonders in Sektoren mit Bedarf an hochqualifiziertem Personal, wie etwa der Informationstechnologie. Die Löhne können vielleicht nicht mit jenen in London oder Kalifornien mithalten, aber da auch die Lebenshaltungskosten deutlich niedriger sind, lohnt es sich für viele – wenn nicht alle – zu bleiben. In anderen Bereichen trifft das aber nicht zu oder die herrschenden wirtschaftlichen Strukturen machen es schwierig, konkurrenzfähig zu bleiben. In Kroatien z.B. verzerrt der alles dominierende saisonale Tourismus die tatsächlichen Gegebenheiten.

Früher ließen sich stets genügend Arbeitskräfte aus den ärmeren Gegenden Kroatiens oder der umliegenden Region finden, die drei Monate lang in den Urlaubsregionen an der Küste aushalfen. Mittlerweile ist man jedoch immer weniger dazu bereit, da sich in Deutschland in einem ganzen oder auch nur halben Jahr viel mehr Geld unter weitaus besseren Bedingungen verdienen lässt. Im Juli beugte sich die kroatische Regierung dem Druck verzweifelter Arbeitgeber und stellte mehr Arbeitserlaubnisse für ausländisches Personal aus. Das tat auch Rumänien. Eine Möglichkeit, das Problem der sinkenden Erwerbsbevölkerung zu lösen, ist die Zuwanderung. Das ist Polen gelungen, indem es Arbeitskräften aus der Ukraine und zunehmend auch aus anderen Ländern die Türen geöffnet hat.

Andere werden folgen müssen, wenn sie auf weiteres Wirtschaftswachstum setzen wollen, aber in Ländern ohne Einwanderungstradition wird das schwierig werden. Ein kleiner Pluspunkt, der sich zumindest in Rumänien beobachten lässt, ist, dass zuvor marginalisierte Roma Jobs bekommen, die ihnen früher verwehrt geblieben wären. Im Ausland verdientes Geld trägt ebenfalls dazu bei, dass bei den Roma erstmals eine Mittelschicht entsteht. Das Beispiel Polen hat gezeigt, dass Regierungen, die der Logik der Zuwanderung folgen, auch einen politischen Drahtseilakt vollführen müssen.

© Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Prognostizierte Bevölkerungsveränderung in den Ländern Mittel- und Südosteuropas (1989-2050). Infografik: © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

Polens Regierung spricht sich gegen Zuwanderung aus und verweigerte während der Flüchtlingskrise 2015 die von der EU geforderte Aufnahme von einigen tausend Flüchtlingen. Gleichzeitig hat man insgeheim eine große Anzahl (wenngleich weißer und christlicher) Ukrainerinnen und Ukrainer ins Land gelassen. Diese Art von Politik mag zwar anderen als Vorbild dienen, aber sie könnte auch, zumindest was den Balkan betrifft, schwer nachzuahmen sein. Wo ist die Balkan-Ukraine? Auch wenn immer weniger Menschen in ländlichen Gebieten leben wollen, so kann man doch an einigen Orten auch Zuwächse beobachten.

Dem Bürgermeister von Tirana, Erion Veliaj, zufolge wächst die Stadt um 25.000 Einwohnerinnen und Einwohner pro Jahr, während Albanien insgesamt immer mehr Menschen an andere Länder verliert. Cluj (Klausenburg) in Siebenbürgen ist eine Stadt im Aufschwung, in die scharenweise Menschen aus anderen Teilen Rumäniens und dem Ausland ziehen. Ihr Erfolg basiert auf einer wissensbasierten Wirtschaft und IT. An manchen Orten in Rumänien stoppten ausländische Investitionen in den Bau moderner Fabriken die Entvölkerung und veranlassten sogar manche zurückzukehren. Wenn sich Städte wie Cluj tausendmal reproduzieren ließen und überall an der Verbesserung des Lebensstandards gearbeitet würde, wie in Tirana, dann sähe die Situation ganz anders aus.

Durch die EU verschärft

Auch wenn man es nicht gerne zugibt: Durch die EU-Mitgliedschaft verschärfte sich die Situation, zumindest anfangs. Mittlerweile ist in Europa jedoch kaum mehr ein Unterschied zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern zu erkennen. In Ländern wie Polen, Rumänien oder Kroatien führte die Öffnung des Arbeitsmarkts dazu, dass Millionen ihre Heimat verließen. Jetzt öffnen Länder wie Deutschland ihre Märkte auch für qualifizierte Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten. Vor einigen Jahren waren illegale Migration und Schein-Asylsuchende das Problem. Heute stehen die Menschen vor den Konsulaten in Belgrad, Banja Luka oder Pristina Schlange und suchen um Arbeitserlaubnisse an, die oft von Unternehmen aus den EU-Ländern Kroatien und Slowenien finanziert werden. Migration hat politische Konsequenzen.

Europe’s Futures

Europa erlebt seine dramatischste und herausforderndste Zeit seit dem Ende des Zweiten Weltkrieg. Das europäische Projekt steht auf dem Spiel und die liberale Demokratie wird sowohl von innen als auch von außen gefordert. Von allen Seiten der staatlichen und nicht-staatlichen Akteure ist es dringend erforderlich, sich mit den brennenden Problemen zu befassen und das, was durch das politische Friedensprojekt sorgfältig erreicht wurde, zu bekräftigen.

Zwischen 2018 und 2021 engagieren sich jedes Jahr sechs bis acht führende europäische Expertinnen und Experten als Europe’s Futures Fellows. Sie schaffen damit eine einzigartige eine Plattform der Ideen, um grundlegende Maßnahmen zu präsentieren, deren Ziel es ist, die Vision und Realität Europas zu stärken und voranzutreiben. Europe’s Futures basiert auf eingehenden Untersuchungen, konkreten politischen Vorschlägen und dem Austausch mit staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, dem öffentlichen Diskurs und Medien.

In der gesamten Region wird die Frage der Demografie zu einer Frage der Politik – und das nicht nur im Hinblick auf Regierungen, die versprechen, Maßnahmen zu setzen. Der serbische Präsident verglich die aktuellen Bevölkerungszahlen der Serbinnen und Serben und Albanerinnen und Albaner mit Prognosen, die zeigen, dass die Zahl der serbischen gegenüber der albanischen Bevölkerung dramatisch abnehmen wird. Er versucht damit, einen Konsens zu erzielen, bevor er womöglich ein unpopuläres Abkommen mit dem Kosovo schließt.

Allerorts sind in den Wählerverzeichnissen zahlreiche längst ausgewanderte Bürgerinnen und Bürger gelistet. Das liegt im Interesse der Politik, denn es ist einfacher, mit aufgebauschten Listen Wahlen zu gewinnen. In Nordmazedonien ist 2018 das Referendum über die Namensänderung jedoch nicht nur am Boykott der Opposition gescheitert, sondern auch daran, dass die notwendige Schwelle nicht so leicht zu erreichen war, weil sich so viele im Wählerverzeichnis eingetragene Personen im Ausland aufhielten.

Als im Juni 2019 die Regierung der Republik Moldau gestürzt und eine andere an die Macht kam, machte diese in einer ihrer ersten Amtshandlungen eine für die letzte Wahl erlassene Regelung rückgängig, wonach die Diaspora ihre Stimme nur mit gültigen moldauischen Reisepässen oder Ausweisen abgeben konnte. Warum war das wichtig? Weil ein Großteil der Unterstützer von Maia Sandu, der designierten Premierministerin, zu der im Westen lebenden Diaspora mit rumänischen Pässen zählt, d.h. es gab unter ihnen eine höhere Quote mit abgelaufenen moldauischen Dokumenten.

In Albanien unterstellt die Opposition der Regierung Mitschuld daran, dass in den letzten Jahren bis zu einer halben Million Menschen das Land verlassen habe. Dabei handelt es sich aber um politische Fiktion, denn es sind auch Hunderttausende zurückgekommen oder sind Pendelmigranten, die kommen und gehen. Die Migration hat auch Auswirkungen in den Zielländern und bietet Nährboden für nationalpopulistische Parteien. Inwieweit die Ankunft einer Flut von Menschen aus Polen, Rumänien, Bulgarien usw. für das Brexit-Referendum in Großbritannien 2016 ausschlaggebend gewesen war, ist unmöglich in Zahlen zu fassen, aber es besteht kein Zweifel, dass es eine Rolle gespielt hat.

Aussichtslos?

Wie können Länder diese Probleme lösen? Oder ist es aussichtslos? Das sind die großen Fragen unserer Zeit, und manchmal dürften Regierungen das Gefühl haben, eine nach unten fahrende Rolltreppe hochzulaufen. Warum wandern Menschen aus? Es geht nicht nur um Geld. Es geht auch um Bildung, Gesundheitsversorgung und andere Dienstleistungen – und in zunehmendem Maße hat es auch damit zu tun, dass die Menschen die Hoffnung verloren haben, jemals in geordneten und demokratischen Gesellschaften zu leben, die nicht von Korruption beherrscht sind. Wenn der Wohlstand in diesen Ländern gestiegen sein wird, werden weite Teile der Bevölkerung bereits im Ausland gelebt haben und wollen die gleichen Lebensstandards, einschließlich der Sozialleistungen, die sie in diesen westlichen Ländern genossen haben. „Für die Generation meines Vaters“, erzählt Majlinda, eine 25-jährige albanische Studentin, die in Holland studiert hat, „haben sich die Dinge sehr schnell verändert, aber für mich geht das alles nicht schnell genug!“ Deshalb hat sich die Erwartungslücke auch so sehr vergrößert, wie noch bei keiner anderen Generation in der Vergangenheit.

Regierungen müssen dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Ländern auch leben wollen. Das ist an und für sich nicht so schwer, aber vielleicht ist es dafür schon zu spät.

Nun könnte man folgerichtig meinen, dass unter der Annahme, diese Länder seien die Dörfer von heute, Steuertransfers in einem verstärkt föderalen Europa die Antwort sein könnten, aber davon ist im gegenwärtigen Klima nicht auszugehen. Die Länder des Westbalkans, geschweige denn die Republik Moldau, gehören nicht einmal zur EU, und mancherorts beginnt man, daran zu zweifeln, dass dies jemals der Fall sein wird. Aber was lässt sich aus jenem Teil der ehemals kommunistischen Welt ablesen, der das Problem der Steuertransfers gelöst hat? Die Antwort ist nicht ermutigend. Fast drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung gehen die Bevölkerungszahlen in Ostdeutschland noch immer zurück. Um diese Entwicklung zu verlangsamen und hoffentlich umzukehren, müssen die Regierungen dafür sorgen, dass die Menschen in ihren Ländern auch leben wollen. Das ist an und für sich nicht so schwer, aber vielleicht ist es dafür schon zu spät. Länder können nicht verschwinden, aber sie können alt werden und damit ärmer als westliche Länder, was wiederum zu noch mehr Abwanderung führt. Wären diese Länder schon immer sehr reich gewesen wie etwa Japan, gäbe es mehr Handlungsmöglichkeiten, aber da dies nicht der Fall ist und da die Aussichten anhaltend düster sind, bedarf dieses Problem dringender Aufmerksamkeit. Es braucht Taten und Ideen, nicht nur seitens der Regierungen und Denkfabriken in den Ländern mit schrumpfender Bevölkerung, sondern in ganz Europa, bevor das Ungleichgewicht der Geschehnisse zu einem weiteren Problem wird, das unsere liberalen demokratischen Grundfesten bedroht.

Der Artikel gibt die Meinung der Autorin wieder und repräsentiert nicht den Standpunkt von BIRN oder der ERSTE Stiftung.

Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 14. Oktober 2019 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network. Der vorliegende Text ist im Rahmen des Europe’s Futures Projekts entstanden.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.


Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tim Judah. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Illustration © Ewelina Karpowiak / Klawe Rzeczy

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