“Zugeständnisse an den Aggressor wären naiv!”
Der Kyjiwer Kulturwissenschafter Vasyl Cherepanyn bekam einst die Gewalt ukrainischer Extremisten zu spüren – heute, meint er, kämpfe die Ukraine geeint gegen den Faschismus.
28. September 2022
Erstmals veröffentlicht
14. August 2022
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Als 2014 bei den Euromaidan-Protesten in Kyjiw die Annäherung an die EU verteidigt und die Putin-hörige Regierung aus dem Amt gejagt wurde, war er vorne mit dabei: Vasyl Cherepanyn, Doktor der Philosophie, Kurator und Leiter des Visual Culture Research Center – einer Einrichtung, die Brücken zwischen Kunst, Wissenschaft und Aktivismus baut. Auf Einladung des österreichischen Unterstützungsnetzwerks Office Ukraine und der ERSTE Stiftung konnte der 42-Jährige nun mit einer Sondererlaubnis für drei Wochen das Land verlassen, um u. a. in Wien seine Sicht der Dinge zu schildern.
Wie ist sechs Monate nach dem Angriff auf Kyjiw die Atmosphäre in der Stadt?
Es ist schwer, die jetzige Situation mit jener im Februar zu vergleichen, als Kyjiw direkt angegriffen wurde. Da wurde die Stadt in eine Festung verwandelt. Alle Einwohner wurden auf einmal Teilnehmende in diesen Abwehrvorbereitungen. Kyjiw war der Hauptort der Maidan-Revolution, woran sich alle erinnerten. Wichtig war die Entscheidung der Regierung, in der Stadt zu bleiben. Das ganze Land ist dadurch zu einem Maidan geworden. Mittlerweile sind die Menschen gewöhnt an die permanente Bedrohung. Heute fühlt sich Kyjiw an wie ein ewiger Sonntagmorgen: halb leer, halb geschlossen, aber die ganze Infrastruktur funktioniert. Und man ist auch stolz, denn es war klar: Wenn Kyjiw überlebt, dann kann auch das Land überleben.
Vor der Attacke hatte Kyjiw eine lebendige, wachsende Kulturszene. In welcher Situation befindet die sich jetzt?
Der Euromaidan und dann die russische Okkupation der Krim waren Erweckungsmomente für die ukrainische Kulturszene. Sie wurde dadurch sehr politisiert, Geschichtspolitik und Filmemachen wurden wichtiger, Kunst und Performance im öffentlichen Raum boomten. Aktuell versuchen viele, das Kulturerbe vor Schäden zu schützen oder Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Sie riskieren dabei ihr Leben. Der ukrainische Staat versteht nun auch endlich, dass Kultur ein zentrales Element ist, um sich als Nation selbst behaupten zu können. Die Kulturszene wiederum formiert sich jetzt in vielen neuen, unabhängigen Kollektiven, dadurch wird sie weniger anfällig für Beeinflussung.
Es gab Konzerte in der U-Bahn und Theater im Keller: Bietet Kultur den Menschen auch die Möglichkeit, für ein paar Stunden dem Grauen zu entfliehen?
Kultur kann hier nicht therapieren, sie kann reflektieren, Fragen stellen, dokumentieren. Die Konzerte in der U-Bahn oder im Theater, die nun wieder spielen, bewirken gerade das Gegenteil von Eskapismus: Es geht nicht darum, der Realität zu entfliehen, es geht hier um Momente der Solidarisierung, es bringt Menschen enger zusammen.
Viele Künstlerinnen und Intellektuelle haben das Land verlassen. Wie gespalten ist die Kulturszene in der Frage, ob es geboten ist zu bleiben, um zu kämpfen, oder das Wort aus dem Exil heraus zu erheben?
Die Antwort ist sehr einfach: Es gibt gar keine Spaltung. Ich habe nie einen Funken von Neid bemerkt oder Vorwürfe, dass sich jemand entziehen würde. Es gibt in der Regel breites Verständnis für alle, die das Land verlassen haben. Jeder macht das, was in seiner Macht steht. Es klingt pathetisch, aber jeder fühlt, dass er eine Mission hat. Die, die ausgereist sind, sind sehr aktiv, viele reisen hin und her. Dieser Austausch ist wichtig.
Haben Sie selbst auch überlegt, zur Waffe zu greifen, oder war das keine Option?
Ich war selbst nie bei der Armee und habe noch nie eine Waffe gehalten. Jeder muss die Frage, ob er bereit ist, andere Menschen zu töten oder auch selbst zu sterben, für sich selbst beantworten. Ich bin es aktuell nicht. Aber ich kenne Menschen aus dem Kulturbetrieb, die zur Armee gegangen sind, einige meiner Freunde wurden getötet, einige sind in Gefangenschaft, in Filtrationslagern – furchtbare, faschistische Methoden. Ich denke, jeder muss in dieser Situation die Rolle finden, in der er am effektivsten wirken kann. Bei mir ist das die Kultur- und Informationsarbeit im In- und Ausland. Ich will daran mitwirken, die Dekolonisierung der postsowjetischen Länder von Russland voranzubringen.
Das russische Machtstreben ist ein Kolonialprojekt?
Ja. Im Westen haben beim Thema Dekolonisierung alle nur den Globalen Süden vor Augen. Dieselben Standards müssten aber im postsowjetischen Raum auch angewandt werden. Es ist versteckter Kolonialismus, der hier passiert. Dieser ist nur nicht so sichtbar, weil es dabei nicht um Hautfarbe geht.
Es gab eine hitzige Debatte darüber, ob man russische Kultur boykottieren sollte. Wie denken Sie darüber?
Das ist ein komplexes Thema. Wir haben selbst zum Boykott von russischen Kulturinstitutionen aufgerufen. Warum? Weil man nicht mit Institutionen zusammenarbeiten kann, die den Krieg nicht einmal beim Namen nennen können, und zwar noch bevor Russland das per Gesetz verboten hat. Auf der individuellen Ebene gibt es natürlich viele, die ins Exil geflohen sind, da darf man keine Kollektivschuld ausrufen.
“Die Deutschen haben gelernt, dass dieser Weg in den Faschismus führt, die Russen müssen es erst lernen.”
Aber man muss auch sagen: Dieser Angriffskrieg ist nicht von heute auf morgen passiert, dieser Prozess läuft seit vielen Jahren. Wo waren die russischen Kulturinstitutionen in all dieser Zeit? Sie haben munter profitiert und alles akzeptiert, was bis dahin geschah: von der Einschränkung der Presse- und Demonstrationsfreiheit bis hin zur Ermordung Oppositioneller. Die Deutschen haben gelernt, dass dieser Weg in den Faschismus führt, die Russen müssen es erst lernen.
Im Westen wurde kritisiert, dass der Boykott mitunter auf das gesamte russische Kulturerbe ausgeweitet wurde, auf Tschaikowski oder Puschkin. Ist es richtig, Uni-Seminare zu russischer Literatur abzusagen?
Die Regel wäre einfach: Folgt euren eigenen Standards! Der Westen und allen voran natürlich Russland selbst müssten endlich damit beginnen, das russische Kulturerbe auf seinen kolonialistischen Gehalt hin zu prüfen. Man sollte in den Seminaren also vielleicht danach fragen, wie Polen, Belarussen oder Ukrainer auf Puschkin blicken. Fragt die Kolonisierten, nicht die Kolonisierer!
Sie waren ein Aktivist in den proeuropäischen Maidan-Protesten 2014. Im selben Jahr wurden Sie aber auch Opfer eines tätlichen Angriffs durch ukrainische Rechtsextremisten, die in Ihnen einen Kommunisten sahen. Wie sehen Sie diese Attacke rückblickend?
Leider wurde dieser Vorfall generalisiert. Verglichen damit, was Ukrainer heute von russischer Seite erfahren, war das, was mir zustieß, ein bedauerlicher Einzelfall. Die Annexion der Krim nach dem Euromaidan hat faschistische Gruppen in der Ukraine oft erst hervorgebracht. Sie sind nützliche Idioten für den Kreml, dabei haben sie in der Ukraine keinerlei politische Bedeutung. Ich wurde bei dieser Attacke von Unbeteiligten durch Zivilcourage gerettet, das ist die schöne Seite der Geschichte. Aktuell spüre ich eine große nationale Anstrengung, alle Formen von aufkommendem Rechtsextremismus zu bekämpfen. Das ist der politische Mainstream.
Aber ist die ukrainische Gesellschaft bereit für einen EU-Beitritt? Die EU ist jetzt schon sehr gespalten, wenn es um Fragen wie Gleichstellung Homosexueller, Frauenrechte oder Migration geht.
Darum ist das auch eine Frage, die sich die EU bereits jetzt selbst stellen muss. Es ist keine Frage, die man nur an die Ukraine adressiert. Die privilegierte Kern-EU tendiert dazu, all ihre Probleme auf die Länder an der Peripherie auszulagern, gerade so, als ob diese Fragen in den westlichen EU-Ländern keine Rolle spielen würden. Ein EU-Beitritt der Ukraine ist keine pathetische, naive Idee, er ist eine Notwendigkeit.
“Die Kern-EU dürfe nicht alle Probleme in die Peripherie auslagern und der Westen müsse beginnen, Russland als Kolonisator zu begreifen.”
Das Projekt eines vereinten Europas sollte erneute imperialistische Erhebungen auf dem Kontinent verhindern, aber es ist noch nicht abgeschlossen, daher haben wir nun wieder eine imperialistische Erhebung.
Es gab eine lebhafte Debatte zwischen deutschsprachigen Intellektuellen darüber, ob der Westen mit seiner militärischen Hilfe den Krieg nur verlängert oder ob das schlicht notwendig sei, und ob man nicht vielmehr auf einen Kompromiss mit dem Aggressor zusteuern sollte. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ich halte das für eine überhebliche Form von “Westsplaining”. Zugeständnisse an den Aggressor zu machen, wäre naiv, weil der Kreml diese ohnehin nicht akzeptiert. Wenn es ihm nämlich nur um die Krim und den Donbas gehen würde, warum hat Putin dann die Invasion auf das ganze Land gestartet?
Aber ist es realistisch für die Ukraine, die Gebiete zurückzugewinnen?
Der Westen muss sich im Klaren sein, dass es jetzt noch die Möglichkeit gibt, den Aggressor auf ukrainischem Gebiet zu stoppen, bevor er woanders weiter macht. Die EU ist dabei noch privilegiert, denn sie bezahlt nur mit Geld, die Ukraine aber bezahlt mit Leben.
In einem früheren Interview haben Sie gesagt, dass der maßgebliche Grund für Putins Krieg die Angst des Kremls vor demokratischen Erhebungen ist und dass Russland selbst nie einen Mechanismus für die friedliche Übergabe der Macht gefunden hat. Was kommt also nach Putin?
Das ist einer der Gründe für den Krieg: Es gibt keine Perspektive für Russland nach Putin. In Wahrheit ist es Russland, das Identitätsprobleme hat, nicht die Ukraine. Nie zuvor in der Geschichte waren Kyjiw und Donezk im Krieg miteinander, das ist ein vom Kreml erfundener, künstlich erzeugter Konflikt. Russland muss endlich seine imperialistische Vergangenheit aufarbeiten, sonst hat es keine Zukunft. Und der Westen sollte damit aufhören, schmutziges Geld von Oligarchen aus dem Osten anzunehmen.
Erstmals publiziert am 14. August 2022 auf derstandard.at
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Stefan Weiss / Der Standard. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion. Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Abend und Nachtszenen in der Ukrainischen Hauptstadt Kyjiw zur blauen Stunde. Das Hotel Ukrajina am Majdan Nesaleschnosti (Platz der Unabhängigkeit) hinter Panzersperren. Foto: Friedrich Bungert / SZ-Photo / picturedesk.com
Office Ukraine. Shelter for Ukrainian Artists
Office Ukraine steht hilfesuchenden Personen aus dem kulturellen Umfeld der Ukraine sowohl online als auch vor Ort als Vermittlungs- oder Koordinationsstelle zur Verfügung. Kulturschaffende aus der Ukraine sowie Institutionen, Personen und Initiativen aus Österreich, die diese in Krisensituationen unterstützen wollen, werden auf dieser Plattform miteinander vernetzt. Es hat seine zentrale Anlaufstelle im Museumsquartier in Wien, mit Verbindungsbüros in den Bundesländern, insbesondere in Graz und Innsbruck.