Willkommen im Jahr 2048!

Verena Ringler berichtet aus der Zukunft Europas. EU-Regierungen priorisieren zivile Belange vor einer Politik der Angst.

Lassen Sie uns zurückschauen. Emmanuel Macron urgierte im Europäischen Parlament im April 2018 für eine entschiedene europäische Politik. Er sagte, „die Antwort auf den Autoritarismus um uns herum ist nicht die autoritäre Demokratie, sondern die Autorität der Demokratie.“

Etwas später sprach Macron auf einer der großen Bürger- und Interessensversammlungen für unsere Zukunft. Er wurde gefragt wo dieses Europa eigentlich falsch abgebogen war.

Er sagte: „Wir haben den Zenit des freien, wohlhabenden Europas bereits überschritten. Den erlebten wir zum Jahreswechsel 2004/2005. Wir hatten damals zehn neue Mitgliedsstaaten, einen EU-Verfassungsvertrag in letzter Abstimmung, allgemeines Wirtschaftswachstum, vor allem in den neuen Technologien, und an den Börsen lief es großartig. Dann kam 2005 und das Nein zum Verfassungsvertrag in Frankreich und in den Niederlanden. Wir waren kollektiv vom Ausgang dieser beiden Referenden in zwei von 25 EU-Staaten so gelähmt, dass wir die Europäische Union in ein verlorenes Jahrzehnt schickten.

Wir hatten widersprüchliche Grundlagen für die EU, für die Eurozone, aber wir wollten partout nach vorne. Das wurde immer schwieriger. Finanz- und Staatsschuldenkrise! Bankenkrise. Jugendarbeitslosigkeit. Bildungskrise. Ankommende Geflüchtete. Großthemen wie Digitalisierung, Klima, künstliche Intelligenz. Das Ende des Westens, der westlichen Ordnung. China im Aufwind. Trump in den USA. Europa allein zu Haus. Autoritäre Tendenzen hinter jeder Ecke.

Foto: © Ludovic Marin / AFP / picturedesk.com

Der französische Präsident Emmanuel Macron bei einer Rede während des One Planet Summit 2017. Foto: © Ludovic Marin / AFP / picturedesk.com

Das sagte Macron im Jahre 2018, und er fuhr fort, so imaginiere ich: „Das Geheimnis der europäischen Integration seit ihren Anfangstagen ist das Zusammenführen, das Vergemeinschaften von großen Schlüsselindustrien, damals jenen, die zwischen Krieg und Frieden entschieden haben – Kohle und Stahl. Heute führen wir jene Schlüsselindustrien, jene Arenen zusammen, die über Zukunft oder Niedergang Europas entscheiden. Sie dürfen nicht länger im Wettbewerb zueinander stehen; sie sollen zusammengeführt, in die Kooperation und die Verzahnung gebracht werden! Einerseits die Arena der nationalen Regierungen und der gewissen Fettgürtel, die sich um sie herum gruppieren: Branchen gewissermaßen, die nicht loslassen wollen, oft rückwärts gewandt, und die sich vor der Beantwortung der eigentlich brennenden Ordnungsfragen – Gesellschaftspolitik, künstliche Intelligenz, Klima, der Aufstieg Asiens, Digitalisierung – drücken. Andererseits die Arena der Innovation, der systemischen Aufstellungen, der aktiven Bürgerschaften, der Zukunftsbüros und der Zukunftsorte, der nachhaltigen Stadt- und Regionalentwicklung, der Slow-Food- und Elektromobilitätsbewegung, der Demokratie- und Partizipationspioniere, die Millionen der gewaltlosen Protestbewegungen unserer Zeit, der vorausschauenden Visions- und Szenarienteams. Warum all das, fragen Sie? Weil ich finde, wir müssen uns prioritär der Frage unseres Zusammenlebens widmen. Was sagt es denn über uns Menschen im 21. Jahrhundert aus, wenn wir über ferne Galaxien, 3D-Drucker und das menschliche Genom mehr wissen als über unsere eigenen Nachbarn?”.

Macron entwickelte die Idee der Bürgerberatungen also weiter. Er brachte systematisch die Partikularinteressen – großes Industrie- und Finanzkapital, nationale Regierungen – in die Auseinandersetzungen mit jenen, die die Interessen der Allgemeinheit, die Gemeininteressen schützen oder eben neu aushandeln wollten, von Gesundheit bis Gemeinwohlbank.

Als einer der ersten europäischen Politiker kritisierte Macron bald darauf, dass die Debatte um Europa stark versicherheitlicht gewesen sei. Dies bedeutet, dass Regierungen in Macrons erster Amtszeit als Präsident viele politische Themen (Strategie, Grenzen, Migration, Diversität) in Sicherheitsthemen verwandelt hätten. Das erlaubte ihnen, außerordentliche Mittel im Namen der Sicherheit einzusetzen.

Wir haben damals, 2018, das Rad herumgerissen. Wir, die BürgerInnen, nahmen uns ganz einfach den Platz am Tisch zur Zukunft Europas. Alles war schon hergerichtet: nicht für eine Revolution, sondern für eine Evolution, für die ambitionierte Renovierung unserer demokratischen Infrastruktur und unserer Wissensgebäude in Europa, für neue Prozesse, aufbauend auf alten, gewachsenen Stärken und Erfahrungstiefen. Tausende von uns arbeiteten mit am „Pitch Europe“, einem dezidiert europäischen Vorschlag im globalen Wettbewerb um die neue Welt(un-)ordnung.

Der Akt bestand weniger in dem, etwas anderes zu tun in diesem Europa, sondern darin, die Dinge anders zu tun. Seit 30 Jahren kümmern wir uns um das Geschehen hinter den Kulissen. Um Prozesse, nicht nur finale Politiken oder Produkte! Wir kümmern uns um Input-Legitimität, also das, was wir am Beginn einer Aushandlung reingeben, wer da am Tisch sitzt, und wie wir das dann aushandeln.

Vergegenwärtigen wir uns sieben Aspekte, die das Europa von heute, von 2048, kennzeichnen.

1. Die Kompetenz und die Leistungen der BürgerInnen

Open Situation Room

2014 hat die Stiftung Mercator gemeinsam mit dem deutschen Auswärtigen Amt den Open Situation Room pilotiert und seither vielfach umgesetzt. Ein Entscheider oder eine Entscheiderin trifft sich drei Stunden lang mit etwa 35 bunt zusammengewürfelten Freiwilligen zu einem raschen, strukturierten Brainstorming, zum Beispiel in Dresden und Leipzig, auf der Münchner Sicherheitskonferenz und am Global Media Forum. Gemeinsam entwickeln diese Gruppen nach den Methoden des “Design Thinkings” mögliche Handlungsoptionen und Antworten auf die Fragen der Entscheiderin oder des Entscheiders. Das Format bereichert die Ideen und Abwägungen, die üblicherweise innerhalb von Regierungen und Diplomatie gemacht werden.

Wir nutzen die Kompetenz und die Leistungen der BürgerInnen. Dazu vier Beispiele:

Heute, im Jahr 2048, arbeiten Sie und Ihre Kinder oder EnkelInnen vermutlich dank des neuen Schöffenmodells für bis zu zwei Jahre im Gemeinderat mit. Sie werden wie in der antiken Polis per Losverfahren ausgewählt und dann eingeladen, sich via Bürgerrat aktiv im Gemeinderat zu beteiligen, wichtige Entscheidungen der Gemeinde gemeinsam zu priorisieren. Ihre Kinder und EnkelInnen sind sicher auch im “European Club”. Alle, die irgendwann einmal bei Erasmus, Leonardo, Jugend in Aktion oder anderen EU-Austauschprojekten mitgemacht haben, werden danach von der EU in diesen großen Beraterkreis eingeladen. Was zu unserer Zeit noch ein Lions- oder ein Rotary-Club gewesen ist, das ist heute für Alt und Jung gleichermaßen der “Europa Club”.

Das war doch kurios: 2017 hatte man 30 Jahre Erasmus-Programm gefeiert, aber die EU hatte von den Millionen Alumni keine Adressen, geschweige denn eine Ahnung, wie es ihnen im Hinblick auf Europa, aber auch in ihrer Laufbahn inzwischen ergangen ist. Seit es diesen “European Club” gibt, also seit 2020, sind meine Donnerstagabende von 19 – 21 Uhr gebucht. Wir können uns entweder in Konferenzräumen am Bildschirm treffen, am Telefon zuhören oder auch online mit den anderen KollegInnen im Club Verfahren zu europäischen Fragen beratschlagen. Warst Du einmal Erasmus-Studierende/r, bist Du für immer EU-BeraterIn.

Dann haben wir ja seit einigen Jahren dem UNO-Sicherheitsrat den offenen Sicherheitsrat – quasi als zeitgenössische Variante – dazugestellt. Auch der offene Sicherheitsrat tritt im Ernstfall binnen 48 Stunden zusammen. Auch der offene Sicherheitsrat erwägt in Ausnahmesituationen internationale Antworten auf die Lage. Der offene Sicherheitsrat besteht jedoch nicht aus den Vertretern von Staaten, allen voran den immer noch fünf Vetomächten, sondern aus einer heterogenen Gruppe von Laien aus der ganzen Welt, die sich über das von der EU initiierte Programm “Design Thinking for Peace” in den Datenpool für globale Ernstfälle aufnehmen hatten lassen.

Schließlich haben wir jetzt alle vier Jahre in Venedig die Demokratie-Biennale: Eine europäische Werkschau der Aktivitäten von BürgerInnen im Bereich Gestalten, Mitbestimmung sowie soziale und politische Innovation. Wir hatten uns vor einigen Jahren überlegt, warum wir die von Macron genannte Arena der Innovation eigentlich gar nicht richtig kannten. Dann verstanden wir: Sämtliche Branchen und Sparten hatten ihre Bühnenzeiten und ihre Werk- und Leistungsschauen, die Demokratieszene aber nicht. Die LiteratInnen hatten die großen Buchmessen, die TheatermacherInnen die großen Theater, die CineastInnen die großen Filmfestivals, die ArchitektInnen und die KünstlerInnen die Biennalen. Die erste Demokratie-Biennale hat übrigens Ulrike Guérot kuratiert, die bereits 2015/2016 schrieb, dass Europa eine Republik werden müsse.

Foto: (CC BY-SA 2.0) Gregor Fischer/re:publica

Die re:publica ist eine der weltweit wichtigsten Konferenzen zu den Themen der digitalen Gesellschaft und in Verena Ringlers utopischem Entwurf eine der Vorläuferinnen der Demokratie-Biennale. Hier ein Bild vom Eröffnungspanel der #rp18. Foto: (CC BY-SA 2.0) Gregor Fischer/re:publica.

2. Der gemeinnützige europäische Binnenmarkt

2048 gibt es in Europa gleich viel Aufmerksamkeit und gleich hohe öffentliche Fördersummen für Pilotprozesse, Querschnittsvorhaben und angewandte Forschung zu unserem Zusammenleben, wie für Technik, Naturwissenschaften und die Medizinforschung. Vor allem gibt es endlich das Spielfeld dafür, den gemeinnützigen europäischen Binnenmarkt.

Kennen Sie auch noch jemanden von Flüchtlinge Willkommen, von Amnesty International oder auch von den Foren der sozialen Innovation, der LIFT Conference in Genf, den Ashoka Fellows, vom Pioneers Festival in Wien, vom weltweiten Impact Hub Netzwerk und so weiter? Die haben sich 2018 alle zusammengetan in einer Kampagne für den „Non-Profit Single Market“. Er entstand aus der Erkenntnis, dass es „die wesentlichen Vorteile des europäischen Binnenmarkts nur für Profite gibt; der Rest sind gut gemeinte, unglaublich kompliziert aufgesetzte, aber nicht systemische wirkende Projekte. Jedes gemeinnützige Produkt, jede Dienstleistung, jeder Verein, jede Bürgerstiftung musste sich in allen EU-Mitgliedsstaaten anmelden. Doch dafür fehlte diesen nicht profitorientierten Organisationen Geld, Personal und Wissen um die rechtlichen Eigenheiten im jeweiligen nationalen, gemeinnützigen Spielfeld.

Rückblickend war es eigentlich ein Wahnsinn, dass sich die BürgerInnen Europas darüber nie aufgeregt haben. Dann reformierte EU-Kommissar Frans Timmermans von 2017 bis 2019 die EU-Bürgerinitiative. Schließlich wurde ein europäisches Vereinsstatut geschaffen, eine gemeinnützige GmbH für die ganze EU und ein europäisches Stiftungsstatut. Die vier Freiheiten gelten heute für soziale Innovationen genauso wie für die Menschenrechtsarbeit.

Übrigens, die Programme des EU-Budgets in Höhe von einer Trillion Euro werden heute längst nicht mehr von unseren nationalen Regierungen festgelegt. Hier sprechen heutzutage zu großen Teilen die BürgerInnen über Methoden des Bürgerhaushalts selbst mit.

Sie erinnern sich auch noch an den CERN-Vergleich damals? Das CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung mit ihrem riesigen Teilchenbeschleuniger in der Schweiz, ließen wir uns Milliarden kosten. Das war auch gut so. Daneben aber nahmen sich die Beträge, die wir für humanistische und sozialwissenschaftliche bzw. sozialpolitische Belange ausgaben, zwergenhaft aus.

Wir haben das Spielfeld der gemeinnützigen Belange dem Spielfeld der profitorientierten Belange angepasst. Wir haben jedem Euro, den wir in Europa in Technik, Naturwissenschaften und Medizinforschung investieren, einen Euro danebengelegt. Ihn investieren wir heute in Fragen unseres Zusammenlebens, unseres Gemeinwesens und Gemeinwohls. Dadurch ist eines unserer großen Problemthemen des Jahrhunderts jetzt in guten Händen: das Internet.

3. Das Europäische Internetinstitut

Seit mehr als zwei Jahrzehnten gibt es nun schon das Europäische Internetinstitut. Heute, 2048, wissen unsere europäischen SpitzenpolitikerInnen, dass die Augen der Welt auf Europa als Supermacht der Normen und der Standards ruhen, und dass die Ordnungsfrage des Internets für Europa vor 30 Jahren noch verschlafen worden war. Da fand das jährliche Internet Governance Forum in Mexiko 2015 statt, eine Art Weltklimagipfel der Internet-Governance-Szene, und kein einziger Abgeordneter, keine Abgeordnete des deutschen Bundestages war da! Die Politik hatte die TechnologiepionierInnen jahrelang allein gelassen. Erst der Datenklau-Supergau im Jahr 2020 hat uns aufgeweckt. Wir nannten das unser „Tschernobyl“ der Internetfrage. Danach haben wir dann aber schnell gehandelt.

Deshalb haben wir heute, 2048, das Europäische Internetinstitut. Das Institut stellt sicher, dass wir die Modernisierungsgewinne der Digitalisierung vergemeinschaften und nicht privatisieren. Das Institut bietet allen europäischen ParlamentarierInnen objektive sachliche Informationen rund um die Digitalisierung und hält private Firmen draußen. Wir haben dieses Internetinstitut damals nach dem Vorbild von Finance Watch aufgesetzt, also als unabhängiges fachliches Informationszentrum für Europas Abgeordnete zu einem Politikfeld, in das sonst Lobbys sehr gerne und massiv einwirken. Im Fall der Finanzpolitik verfügten zum Beispiel um 2015/2016 herum die privaten Lobbygruppen in Brüssel über Mittel von etwa 120 Millionen Euro pro Jahr, also über das 60-fache Budget von Finance Watch.

4. Europa in der Welt

Das führt uns zur nächsten Szene: Europa in der Welt. Die EU verfolgt jetzt eine globale Strategie, die da lautet: „Wir schrumpfen strategisch.“ Wir haben uns damals, vor 30 Jahren, gesagt: Wenn wir schon als letzter Teil des sogenannten liberalen Westens übrigbleiben, wenn uns schon demografisch, ökonomisch und ganz allgemein der Abstieg bevorsteht, dann machen wir aus der Not eine Tugend. Dann drehen wir den Spieß um und schrumpfen ganz bewusst! Wir schrumpfen schön, strategisch und selbstbewusst. Wir überlegen uns unsere ureigenen materiellen und nicht-materiellen Exportschlager. Wir reduzieren und fokussieren in unserem globalen Auftritt auf das Wesentliche! Small is beautiful. Europa muss die Schweiz werden!

Foto: (CC BY-SA 2.0) Maria Firsova/Flickr

Die Universität von Bologna gilt als die vielleicht älteste Universität der Welt. Foto: (CC BY-SA 2.0) Maria Firsova/Flickr.

Seitdem holten wir unsere 1000 Jahre alten Universitäten und den freien Uni-Zugang, die Freiheit der Wissenschaft auf die große Bühne. Wir statten unsere öffentlichen Unis aus, statt sie auszuhungern. Wir vergegenwärtigten uns der Prozesse, etwa der Raumordnung, der Vergangenheitsbewältigung, der Ethikkommissionen, und wir teilen seither unsere Erfahrungen mit solchen Prozessen mit anderen Gesellschaften. Wir bieten anderen Ländern und Regionen an, unsere Erfahrung mit supranationaler, partizipativer Demokratie und offener Diplomatie zu teilen. Dazu haben wir die öffentliche Diplomatie und die Bürgerdiplomatie massiv gestärkt. Es gibt inzwischen weltweit mehr als eine Million Europa-Büchereien und Europa-Filmfestivals, die von Jugendgruppen kuratiert werden!

Jetzt, 2048, können wir endlich sagen: Wir haben das europäische Projekt zum Glück nicht über die Klippe springen lassen, in einer Ära, in der die Hoffnungen der Welt buchstäblich auf Europa als dem Hort und dem Garanten für Freiheit und Demokratie ruhten. Die Wertschätzung von Freiheit und Demokratie, aber auch die tägliche geübte Praxis bilden wir seit fast drei Jahrzehnten auch in der Schule ab.

5. Neuorganisation des Bildungssystems

Heute, 2048, erleben unsere Kinder und EnkelInnen die Europabildung als Hauptfach in der Schule. Man hat alle Einzeldisziplinen zusammengefasst, die die Kultur-, Sozial-, und Bildungsministerien, die Bundeskanzlerämter und die regionalen und nichtstaatlichen Akteure individuell und vielfach extracurricular angeboten hatten: interkulturelle Bildung, Demokratiebildung, Staatsbürgerschaftskunde, Trainings für aktive Bürgerschaft, Kurse gegen Hassrede und Mobbing im Internet, Antirassismustrainings.

Wir haben die Lehre von den Institutionen weitgehend abgeschafft. Europabildung musste dagegen ein Hauptfach werden: Da geht es ums Zusammenleben, da geht es eigentlich um eine Kulturtechnik. “Europäizität” gründet sich auf der Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Wenn wir europäische politische Bildung lehren wollen, dann müssen wir unseren Kindern beibringen, wie sie ihre Umwelt – von der Kindergartengruppe bis zum Stadtteil – und ihre Zukunft beeinflussen und gestalten können. Politische Bildung wurde also zur Europabildung, und die wiederum wurde zur Querschnittsmaterie.

Foto: (CC BY-ND 2.0) die.tine/Flickr

Eine Schulklasse arbeitet an einem Projekt anlässlich der Europäischen Kulturhauptstadt RUHR 2010. In Verena Ringlers Blick in die Zukunft wird das Zusammenleben in Europa Hauptfach in den Schulen sein. Foto: (CC BY-ND 2.0) die.tine/Flickr.

Auch die Praxis wurde ganz wichtig. Sicher haben Ihre Kinder und EnkelInnen schon die “Expedition Europa” gemacht. Da geht es ja um die größte, erfahrungsbasierte Initiative der politischen Bildung und der Jugendarbeit, von Helsinki bis Neapel. Seit 2020 gehen die europäischen SchülerInnen einmal im Jahr für eine Woche auf Erkundungsreise nach den materiellen und nicht-materiellen Spuren von Europa in ihrer eigenen Stadt oder Gemeinde. Sie müssen dazu im Sozialamt und im Bürgermeisteramt anrufen und Interviews machen, sie besuchen Jugendzentren und Musikschulen, die StadtplanerInnen und die Meldeämter. Die Ergebnisse publizieren wir jährlich aktuell im “Europaindex der Kommunen”. Das hat den Wettbewerb zwischen den Kommunen stark beflügelt. Wir machen dank der Expedition unserer SchülerInnen die oft unsichtbaren Spuren von Staatlichkeit und Supranationalität in der eigenen Stadt sichtbar. Seither identifizieren sich deutlich mehr Menschen mit Europa als früher.

6. Neuorganisation der öffentlichen Verwaltung und Politik

Wir haben unsere öffentliche Verwaltung und Politik neu organisiert. Wir haben sie europäisiert. Wir haben die Wände zwischen den einzelnen Fachministerien und Fachrichtungen eingerissen und uns eingestanden: Jede Europa- und Zukunftspolitik ist Querschnittspolitik.

Auch für die Lehrerschaft und für Beamte hat sich alles verändert. 2017 noch haben etwa in der deutschen Ministerialbürokratie weniger als zwei oder drei Prozent der BeamtInnen im Laufe ihrer Karriere das Fachministerium gewechselt. Haben Sie LehrerInnen oder BeamtInnen in Ihrer Familie? Heute, 2048, sind alle im Rotationssystem. Sie müssen inzwischen alle sieben Jahre, aber spätestens nach 14 Jahren wechseln: entweder das Land in der EU oder das Fachthema oder die Politik-Ebene in Europa, also von regional/lokal auf national, auf europäisch oder umgekehrt.

Um jene zu europäisieren, die Europa hauptamtlich verwalten und gestalten, haben wir die Ausbildungswege in Politik und Verwaltung verändert. Das Wissen um Prozesse, Methoden und Formate haben wir stark aufgewertet, erfahrungsbasiertes Lernen und Praxis schreiben wir groß. Wer leitender Beamter oder Schuldirektorin werden will, geht erstmal auf die Walz durch zwei oder drei Sektoren. Sie oder er arbeitet in einem Klein- oder Mittelbetrieb, etwa in einer Werkstatt oder auf einem Bauernhof, in der Sozial- oder Pflegearbeit und in einer öffentlichen Institution. Es geht also um die nutznießende Seite! Wenn ich später in der Verwaltung oder der Politik arbeiten möchte, so war die Überlegung, muss ich mir als erstes die KlientInnen, die BürgerInnen genau angeschaut haben. Zum Glück hat ja der Macron-Prozess dazu geführt, dass wir jetzt dem sogenannten “Human-centered Policymaking”, also der Politik und Verwaltung von den EndverbraucherInnen, den BürgerInnen her gedacht, in allen Bereichen Vorrang geben.

7. Demokratieversicherung

Sanctuary Cities

“Sanctuary Cities” (engl. „Zufluchtsstädte“) bezeichnet ein weltweites Netzwerk von Städten und Gemeinden, die allen BewohnerInnen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen gewährleisten wollen und sich beispielsweise weigern, Repressionen gegen illegale Einwanderer auszuüben oder an Abschiebungen mitzuwirken.

Die Central European University in Budapest (Foto: © CEU/Zoltan Tuba) hat das Modell der “Sanctuary Cities” übernommen und wurde zum ersten “Sanctuary Europe Space”.

Und schließlich gibt es jetzt eine Demokratieversicherung. Früher, so um 2018 herum, fragten sich viele BürgerInnen Ungarns und Polens: Warum gehen wir mitten in der EU in einer Demokratie schlafen und wachen in einer Autokratie auf? Für wen gelten die EU-Grundrechtecharta und die Menschenrechtserklärung, wenn uns letztlich im 21. Jahrhundert ein einzelner Mensch seine illiberale Ordnung, seine Willkürherrschaft aufzwingen kann? Und dann kam eine Innovation. Die Central European University (CEU), die eigentlich abwandern sollte oder gar geschlossen hätte werden sollen, wurde zum ersten “Sanctuary Europe Space”. Die Universität hat das Modell der “Sanctuary Cities” übernommen.

Im Amerika unter Donald Trump wurden diese “Sanctuary Cities” zu Räumen für das Überleben eines pluralistischen, friedlichen, demokratischen Zusammenlebens. Selbst in Europa gab es 2018 knapp 80 solcher Städte. Nun wurde es auch eine Uni. Von den “Sanctuary Cities” führte der nächste logische Schritt zu “Sanctuary Citizenship” (“Zufluchtsstaatsbürgerschaften”) und zum “Sanctuary Passport”, den man heute EU-BürgerInnen aushändigt, deren nationale Regierung mit dem Wählerwillen sozusagen Schlitten gefahren ist. Sie bekommen diesen Pass im Zuge der Demokratieversicherung, die wir als eine der Konsequenzen der “Sanctuary”-Bewegung eingeführt haben.

Was war das für ein Geschrei: Undenkbar! Unmöglich! Wie, bitte, soll das gehen? Demokratieversicherung? Doch dann erinnerten wir uns daran, dass wir Anfang des 19. Jahrhunderts niemals von einer Sozialversicherung zu träumen gewagt hatten. Im Zuge der Macron’schen Europainitiative trafen sich VerfassungsrechtlerInnen, StaatsbürgerschaftsrechtlerInnen, Antirassismus- und DiversitätsexpertInnen und überlegten sich diese Form der transitorischen Staatsbürgerschaft. Sie funktioniert für EU-BürgerInnen so: Wer mit dem nationalen Pass unzufrieden ist, kann sich direkt der EU unterstellen. Das betrifft dann übrigens auch die Steuer- und Pensionsauszahlungen, auch die gehen dann an die EU direkt und kommen direkt von der EU. Ich habe gerade gelesen, dass seit 2035 mehr EinwohnerInnen die EU-Staatsbürgerschaft als primäre Staatsbürgerschaft angenommen haben als nationale. Grund dafür war wohl, dass die Stiftung Warentest von 2030 – 2034 die EU- versus die nationale Zugehörigkeit von Palermo bis Györ und von Biarritz bis Danzig untersucht hatte. Das Ergebnis: Die EU-Zugehörigkeit hat in 7 von 10 Fällen die Bewertung „Sehr gut“ erhalten.

Ich fasse also nochmal zusammen: Wenn wir uns jetzt im Jahr 2048 umsehen, dann sehen wir, dass wir, die BürgerInnen Europas…


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  • von der Gemeindeebene bis zum UNO-Sicherheitsrat mitbestimmen, und den Europaclub der EU-Alumni und alle vier Jahre die Demokratie-Biennale in Venedig haben.

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  • für unsere Aktivitäten das adäquate Spielfeld vorfinden, nämlich den gemeinnützigen Binnenmarkt sowie adäquate Forschungs- und Fördergelder für Fragen des Zusammenlebens. Dazu bestimmen wir das Programm für Teile des EU-Budgets, also wie diese Budgets ideal eingesetzt werden sollen, in den Regionen, für die Jugend.

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  • dank des Internetinstituts die Garantie dafür haben, dass hier in Europa die Modernisierungsgewinne des Internets vergemeinschaftet statt privatisiert werden.

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  • und unser Kontinent zwar als Weltmacht unbedeutend werden sollten, das aber nicht wollten. Daher besonnen wir uns in einem gemeinsamen Prozess auf unsere Stärken und “hidden champions” der Exportschlager, etwa die Universitäten.

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  • Europa in den Schulen zum Hauptfach gemacht haben. Es geht um Komplexitätsmanagement und Kooperation, um Konflikt- und Krisenbewältigung. Ein Praxisfach, wo jeder auch mal die Expedition Europa in der eigenen Stadt mitmacht.

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  • BeamtInnen und LehrerInnen in ein kluges Rotationssystem gebracht haben. Sie wechseln in ihrer Laufbahn die Orte ihrer Einsätze oder auch die Fachrichtungen.

  • die Demokratieversicherung realisiert haben. Wir haben uns das Vorbild der Zufluchtsorte genommen und sie weiterentwickelt ins Konzept der Zufluchtsstaatsbürgerschaften. Diese bedeuten, ein Individuum ist direkt der EU unterstellt – und diese Zufluchtsstaatsbürgerschaften sind heute, 2048, bereits attraktiver als die ursprünglichen nationalen Staatsbürgerschaften.


Was haben wir in diesen 30 Jahren mit „Pitch Europe“ geschafft? Wir haben Europa fundamental umgebaut. Wir machten Dinge anders, um andere Dinge zu machen: zuhause und in der Welt.

Dieser Text basiert auf einer Rede, welche die Autorin am 28. April 2017 beim Festival Tage der Utopie im Bildungshaus St. Arbogast in Vorarlberg gehalten hat und ist urheberrechtlich geschützt. © Verena Ringler. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: re:publica (#rp17) in Berlin. Foto: (CC BY-SA 2.0) re:publica/Gregor Fischer.

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