05. Januar 2021
Erstmals veröffentlicht
21. September 2020
Quelle
Es ist unmöglich, das heutige Polen zu verstehen, ohne das Erbe der Solidarność zu berücksichtigen, die den Weg zu Demokratisierung und Liberalisierung, aber auch Nationalismus und Illiberalismus ebnete.
Vor vierzig Jahren, am 17. September 1980, gründeten Arbeitnehmervertreter, darunter Lech Wałęsa, eine landesweite Gewerkschaft namens Solidarność – die erste unabhängige Gewerkschaft in einem Ostblockland. Diesem Schritt waren wochenlange Streiks im Sommer vorausgegangen, in deren Zentrum die Danziger Leninwerft stand. Schlussendlich räumte die damalige kommunistische Regierung den Arbeitern das Recht auf Gründung unabhängiger selbstverwalteter Gewerkschaften ein.
Unter Wałęsa, dem charismatischen Streikführer der Leninwerft, feierte die Gewerkschaft Solidarność (dt. Solidarität) einen beispiellosen 16 Monate andauernden „Karneval“ der Freiheit, der erst am 13. Dezember 1981 mit einem Militärputsch ein jähes Ende fand. Doch die Dämme waren gebrochen. Angesichts der anhaltenden Wirtschaftskrise in den folgenden Jahren erholte sich die Opposition vom Schock des Kriegsrechts und setzte ihre Aktionen an der Basis fort, die 1988 in einer weiteren Streikwelle gipfelten und das Regime an den Verhandlungstisch zwangen.
Die Ereignisse gegen Ende des Jahrzehnts führten zum Wiedererstarken der Solidarność und leiteten nach den teilweise freien Wahlen im Juni 1989 den ersten friedlichen Übergang von einer kommunistischen Diktatur hin zu einer liberalen Demokratie und Marktwirtschaft ein. Polen und die Solidarność hatten maßgeblich zum Niedergang des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa beigetragen. Der EU-Beitritt Polens und vieler anderer Länder des ehemaligen Ostblocks im Jahr 2004 galt als logische Folge von 1989 (auch wenn der Beitrittsprozess von den postkommunistischen Sozialdemokraten getragen wurde) und als „Rückkehr des Landes nach Europa“. Die bemerkenswerte Entwicklung Polens war jedoch noch nicht zu Ende, denn das Land erlebte eine Art Wirtschaftswunder und verzeichnete selbst während der globalen Finanzkrise 2008/2009 ein kontinuierliches jährliches Wachstum. Für ein Land, das zweifellos als Aushängeschild des postkommunistischen Wandels diente, war es schwer vorstellbar, jemals zum Paria in der EU zu werden.
Dennoch steht Polen heute genau aus diesem Grund so oft in den Schlagzeilen. Auch wenn das Land von einer Partei regiert wird, die sich zu den Erben der Solidarność zählt (Recht und Gerechtigkeit, PiS), ist Polen zu einem Beispiel für demokratischen Rückschritt und zunehmenden Illiberalismus geworden. Dazu kommt, dass sich die heutige Solidarność nicht nur nicht gegen die PiS-Regierung stellt, sondern häufig auch als deren Erfüllungsgehilfe fungiert. Wie lässt sich dieses zwiespältige Erbe der Solidarność 40 Jahre nach ihrer Entstehung erklären?
Mythos Solidarność
Es ist vielleicht wichtig hervorzuheben, dass das herkömmliche Narrativ der Solidarność mythenbehaftet ist. Die Entlarvung einiger dieser historischen Mythen kann für das Verständnis der Entwicklung der Solidarność von einer breiten sozialen Bewegung mit 10 Millionen Mitgliedern zu einer rechtsnationalistischen Gewerkschaft, die nur einen kleinen Prozentsatz der Erwerbsbevölkerung vertritt, hilfreich sein.
Zunächst ist die Solidarność nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst, nicht nur, was ihre Mitglieder, sondern auch ihren Einfluss betrifft. Der Mitgliederbestand ist auf einen Bruchteil (etwa ein Zwanzigstel) seiner Größe von vor 40 Jahren geschrumpft. Den stärksten Rückgang verzeichnete die Solidarność jedoch bereits in den 1980er-Jahren. Das Kriegsrecht hatte sie stark geschwächt. Die in den Untergrund gedrängte Opposition hielt zwar den Gründergeist aufrecht, aber die Gewerkschaft erholte sich nie wirklich. Als die Solidarność 1989 neuerlich zugelassen wurde, zählte sie nur noch anderthalb Millionen Mitglieder. Sie war nicht mehr dieselbe, sprich eine breite soziale Bewegung, die Arbeiter, Bauern, Studierende, Intellektuelle und Kirche vereinte. Mehrere politische Parteien gingen aus ihr hervor, wobei dies in den meisten Fällen eher für die Solidarność-nahe Studentenbewegung als die Gewerkschaft selbst galt. Trotzdem gelang es der Solidarność, wenn auch freilich als Gewerkschaft, noch ein weiteres Jahrzehnt lang großen politischen Einfluss auszuüben.
Folgenschwerer war indes, dass die Solidarność während des Systemwechsels bei ihrer wichtigsten Aufgabe – der Vertretung der Arbeiternehmer und ihrer Interessen – versagte. Privatisierungen und Werkschließungen brachten die Basis in arge Bedrängnis und machten nicht einmal halt vor der legendären Schiffswerft. Als Organisation konnte sie nur auf ihre traditionalistischen kulturideologischen Tendenzen zurückgreifen (die wohl von Anfang an ab 1980 bestanden hatten), während sie zur Jahrtausendwende nach dem Zusammenbruch der Koalitionsregierung und dem Zerfall des Wahlbündnisses „Wahlaktion Solidarność“ (AWS) an politischem Einfluss verlor.
Aus dessen Asche gingen die beiden heutigen Großparteien, Bürgerplattform (PO) und PiS (Recht und Gerechtigkeit), hervor. Als Polen der EU beitrat, war die Solidarność bereits die rechte und PiS-unterstützende Gewerkschaft geworden, die sie heute noch ist. Die ehemaligen liberalen Eliten der Solidarność, die zugegebenermaßen im Westen bekannter als in Polen waren, hatten mit der Solidarność als Gewerkschaft nichts mehr am Hut. Zwar hatten sie die Solidarność in der Vergangenheit vertreten, letztendlich verband sie jedoch nur ein gemeinsames Erbe.
Das heterogene Erbe der Solidarność
Es ist dieses breite, gemeinsame Erbe, das zu der gegenwärtigen Ambiguität bezüglich der Solidarność geführt hat. Ungeachtet der umstrittenen Erinnerungspolitik und Versuchen, die Geschichte für politische Zwecke umzuschreiben, bleibt die zentrale Rolle der Solidarność beim Sturz des Kommunismus unbestritten und dient als Gründungsmythos für die Dritte Republik. Dennoch sind es die internen Spaltungen im ehemaligen Solidarność-Lager, die die Zwietracht weiter schüren. Dies gilt nicht nur für die jeweiligen Rollen etlicher Personen während des Kommunismus (der berüchtigtste Fall sind die Kontroversen rund um Lech Wałęsa selbst), sondern spiegelt zunehmend auch die Spaltungen und Fehden der Zeit nach 1989 wider.
Zum Teil ist dies nicht verwunderlich. Die Elite der Solidarność gründete die Dritte Republik gemeinsam mit der postkommunistischen Linken, wenn auch mehr in Opposition zueinander als miteinander. Deren Implosion Anfang der 2000er-Jahre sorgte über Jahre hinweg für eine politische Hegemonie der Post-Solidarność. Doch nach dem Wegfall ihres alten „kommunistischen“ Feindes wandten sich die Parteien der Post-Solidarność im Kampf um die politische Vorherrschaft gegeneinander. Das Duopol PO-PiS, das die polnische Politik in den vergangenen 15 Jahren bestimmt hat, ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzung.
Die gegenwärtige politische Polarisierung wird in naher Zukunft höchstwahrscheinlich nicht nachlassen, genauso wenig wie die gegenseitigen Beschuldigungen im ehemaligen Solidarność-Lager. Aus diesem Grund ist ein versöhnliches Narrativ der Solidarność und ihres Vermächtnisses in nächster Zeit nicht zu erwarten. Ohne das Erbe der Solidarność, die den Weg zu Demokratisierung und Liberalismus, aber auch Nationalismus und Illiberalismus ebnete, ist es indes unmöglich, das heutige Polen zu verstehen.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 21. September 2020 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Tom Junes / Reporting Democracy. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Am 31. August 2020 hält der ehemalige polnische Präsident Lech Walesa eine Rede im Europäisches Zentrum der Solidarität während einer Veranstaltung zum 40. Jahrestag der Danziger August-Abkommen, die zur Gründung der Solidarność führten. Foto: © Mateusz Słodkowski / AFP / picturedesk.com