Unsicherer Hafen
Eine Frage von Leben und Tod für LGBT-Flüchtlinge
18. April 2018
Erstmals veröffentlicht
23. Januar 2018
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Ausgestoßen, missbraucht, ermordet. Für viele LGBT-Asylsuchende in der Türkei und Griechenland ist jeder Tag ein Kampf ums Überleben.
Sandy wusste gleich, dass der Freier gefährlich war. Die meisten Männer, die auf der Suche nach Sex auf dem Taksim-Platz in Istanbul herumschlendern, sind entweder sichtbar nervös oder verbergen ihre Unsicherheit hinter gespielter Lässigkeit. Doch dieser Mann hatte etwas Bedrohliches an sich. „Nach seinem Aussehen zu urteilen, war klar, dass er kein Geld hatte“, erinnerte sie sich. „Wir haben sie gewarnt, nicht mit ihm mitzugehen. Er sah suspekt aus. Aber sie hörte nicht auf uns. Sie brauchte das Geld.“ Sandy stand auf dem Taksim-Platz – an derselben Stelle, an der sie beobachtet hatte, wie ihre Freundin Warda sechs Monate zuvor, am 17. Dezember 2016, mit dem türkischen Mann in der Samstagabendmenge verschwand. Es war das letzte Mal, dass sie sie lebend sah.
Wie Sandy war auch Warda ein Transgender-Flüchtling aus Syrien. Beide waren vor Krieg und Verfolgung geflüchtet, auf der Suche nach einem sicheren Hafen in Europa. Sie schafften es bis nach Istanbul, wo sie – von Einheimischen und anderen Flüchtlingen gleichermaßen geächtet – gezwungen waren, sexuelle Dienste anzubieten, um überleben zu können. „Drei Stunden später riefen wir sie an, aber das Telefon war ausgeschaltet“, sagte Sandy mit Tränen in den Augen, die ihr die Wimperntusche verschmierten. „Deshalb ging ich nach Hause, wo ich sie blutüberströmt vorfand. Ich konnte sie kaum mehr erkennen.“ Ein Foto auf Sandys Mobiltelefon zeigt den Tatort. Warda liegt zusammengesackt auf dem Boden mit einer riesigen, tiefen Schnittwunde an der Seite und am unteren Rücken. Der Mörder hatte ihr den Bauch aufgeschlitzt, ihr die Kehle durchtrennt und ihre Genitalien entfernt. „Irgendwann kam die Polizei und nahm ihre Leiche mit“, erzählte Sandy. „Wir wollten, dass sie ein ordentliches Begräbnis bekommt, aber man ließ uns nicht. Sie wurde wie ein Hund begraben. “Warda war 30, ebenso alt wie Sandy. Ihre letzte Ruhestätte befindet sich auf einem Friedhof am östlichen Stadtrand von Istanbul. Wildblumen wachsen an ihrem anonymen Grab. Als Sandy nach Wardas Tod deren Verwandte in Syrien kontaktierte, meinten diese, dass sie Schande über die Familie gebracht habe. Sie gestatteten es dem Friedhof nicht, einen Grabstein aufzustellen.
Warda, hier auf einem Schnappschuss auf dem Mobiltelefon einer Freundin – wurde am 17. Dezember 2016 in Istanbul ermordet.
Foto: © Alexia Tsagkari
Die Polizei hat den Täter nie gefasst und der Mordfall blieb in der Türkei weitgehend unbeachtet – einem Land, in dem Menschenrechtsaktivisten zufolge Verbrechen aus Hass gegen lesbische, schwule, bisexuelle und transsexuelle (LGBT) Menschen immer häufiger werden. Für manche LGBT-Flüchtlinge in Istanbul gab dies den Ausschlag, zu versuchen, irgendwie nach Westeuropa zu gelangen.
Während des Sommers und Herbstes 2017 verfolgten wir das Schicksal einiger LGBT-Flüchtlinge, die fest entschlossen waren, von der Türkei nach Griechenland und von dort weiter in nördlichere Länder zu reisen. Aufgrund der Schließung der Hauptflüchtlingsrouten infolge des EU-Türkei-Abkommens zur Eindämmung des Menschenstroms nach Europa sahen sie sich gezwungen, Schlepper für die Überfahrt zu bezahlen. Was dann folgte, war ein Drama der Angst und enttäuschter Hoffnungen, als der Traum von einem besseren Leben zu einem Albtraum der Gewalt und Diskriminierung wurde. Ihre Geschichten machen die seelischen und körperlichen Traumata vieler LGBT-Flüchtlinge deutlich, deren Suche nach Asyl von Stigmatisierung und Verfolgung begleitet ist. Sie veranschaulichen auch das Versagen der Aufnahmeländer und des humanitären Systems, jene zu schützen, die in der größten Flüchtlingsbewegung quer durch Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu den Schwächsten zählen. Alle für diesen Artikel interviewten LGBT-Flüchtlinge wollten aufgrund von Sicherheitsbedenken nur ihren gewählten Vornamen angeben.
Sandy, ein 30-jähriger Transgender-Flüchtling aus Syrien, sagt, ihre ermordete Freundin sei „wie ein Hund begraben“ worden.
Foto: © Alexia Tsagkari
Hasskriminalität
Die Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1951, die Länder dazu verpflichtet, Menschen, die vor Gefahr fliehen, zu schützen, definiert Flüchtlinge als Personen, die eine „aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe begründete Furcht vor Verfolgung“ haben. Während die Konvention nicht speziell auf LGBT-Personen verweist, stellt eine EU-Richtlinie aus dem Jahr 2011 klar, dass Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung oder Geschlechtsidentität ein ausreichender Asylgrund ist.
Niemand weiß, wie groß die Zahl der LGBT-Personen unter den Millionen ist, die in den letzten Jahren vor Konflikten, Armut und Verfolgung aus dem Nahen Osten, Nordafrika und Südasien geflüchtet sind. Viele von ihnen hoffen, es bis nach Nordeuropa zu schaffen. Nach Angaben des statistischen Amts der EU-Kommission haben seit 2015 etwa 2,9 Millionen Menschen in EU-Ländern Asyl beantragt. Lediglich in Belgien werden Daten über Asylanträge von LGBT-Personen gesammelt, aber auch dort stehen aktuelle Zahlen nur aus den Jahren 2008–2012 zur Verfügung. Während dieser Zeit ging es in 4,4 Prozent der Fälle um sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität. In der Türkei, die nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) die größte Flüchtlingsbevölkerung der Welt beherbergt, klopfen inzwischen zirka 3,4 Millionen Menschen an die Tore Europas.
Ramtin, ein 27-jähriger schwuler Mann aus dem Iran, ist einer von ihnen.Am 25. Juni 2017 stand er gegen Mittag auf einer Seite des Taksim-Platzes, als sich Aktivisten auf der gegenüberliegenden Seite versammelten, um sich dem Verbot der jährlichen LGBT Pride Parade zu widersetzen. Es war das dritte Jahr in Folge, dass das Büro des Stadtgouverneurs die Veranstaltung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit infolge von Drohungen extremistischer Gruppen verboten hatte.
„Sie lachten mich aus und sagten mir, ich hätte nur bekommen, was ich verdiente, weil ich eine Schwuchtel bin.“
Ramtin, ein 27jähriger schwuler Flüchtling aus dem Iran
Etwas mehr als ein Jahr, nachdem ein gescheiterter Militärputsch die Regierung dazu veranlasst hatte, den Notstand auszurufen — von dem Kritiker behaupten, er diente nur dazu, autoritäre Machtstrukturen zu festigen und jeglichen Widerspruch im Keim zu ersticken —, griff die Polizei mit voller Härte durch. Ramtin beobachtete entsetzt, wie über 30 Polizeibusse, Wasserwerfer und Panzer alle Verbindungen zur Istiklal Caddesi, eine Fußgängerzone, die zum Taksim-Platz führt, wo es normalerweise von Einheimischen und Touristen nur so wimmelt, blockierten. Instinktiv wollte er sich den Demonstranten anschließen — aber es stand viel auf dem Spiel. Eine Verhaftung hätte die Abschiebung in den Iran bedeuten können, wo ein Amtsgericht ihn 2015 wegen „widernatürlicher Beziehungen“ zum Tode verurteilt hatte. Er habe es einem Verwandten zu verdanken, der die Gefängniswärter in seinem Dorf bestach, dass er entkommen und in die Türkei fliehen konnte, erzählte er.
Schätzungen von Amnesty International zufolge wurden im Iran 5.000 schwule Männer und Lesben seit der Revolution von 1979 hingerichtet. Als die Sondereinheiten begannen, Tränengas und Gummigeschoße einzusetzen und die Demonstranten über den Platz zurückdrängten, entschied sich Ramtin, sich in einem nahegelegenen Café in Sicherheit zu bringen.
Seit seiner Ankunft in der Türkei sei Ramtin, wie er sagt, von Einheimischen und anderen iranischen Flüchtlingen überfallen, vergewaltigt und mit dem Tode bedroht worden. Wenn er Anzeige erstattete, wurde er von der Polizei verspottet. „Sie lachten mich aus und sagten mir, ich hätte nur bekommen, was ich verdiente, weil ich eine Schwuchtel bin“, erzählte er. Auf dem Papier hat die Türkei eine lange Tradition der Toleranz im Umgang mit Homosexualität, die seit der Gründung der Republik 1923 legal ist. Doch aufgrund der wachsenden Homophobie in einem zunehmend reaktionären und antilaizistischen Klima sei das Land kein Zufluchtsort für LGBT-Asylbewerber, sagen Menschenrechtsgruppen. Im November sagte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, dass es „den Werten unserer Nation“ widerspreche, LGBT-Personen zu stärken. Eine Woche später verbot das Büro des Gouverneurs von Ankara alle LGBT-Kulturveranstaltungen in der Stadt.
Yildiz Tar, ein Sprecher der Kaos Gay and Lesbian Cultural Research and Solidarity Association, einer Menschenrechtsgruppe in Ankara, meinte, dass solche Maßnahmen dazu beitragen würden, die schwelende Homophobie und Transphobie zu entfachen. „Es gibt sehr viel Hasskriminalität, obwohl wir keine genauen Zahlen dazu haben, da die Regierung keine statistischen Daten erhebt“, erklärte er auf den Stiegen einer entlegenen Gasse im Zentrum Istanbuls. Tar verwies auf den Fall von Muhammed Wisam Sankari, einem schwulen syrischen Flüchtling, der 2016 in Istanbul geköpft und so brutal verstümmelt wurde, dass seine Freunde ihn nur anhand seiner Hose identifizieren konnten. Sankari hatte der Polizei erzählt, dass er in Gefahr schwebe, nachdem er fünf Monate zuvor entführt und in einen Wald gebracht worden war, wo er von unbekannten Angreifern vergewaltigt und gefoltert wurde. Niemand sei für die Angriffe zur Rechenschaft gezogen worden, sagte Tar. Es war nicht möglich, Fragen an die Polizei in Istanbul zu richten. Die türkische Botschaft in Athen lehnte es ab, den Fall Sankari sowie andere Themen, wie Fragen über LGBT-Rechte in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern, zu kommentieren.
„Es gibt sehr viel Hasskriminalität.“
Yildiz Tar, Sprecher der Kaos Gay and Lesbian Cultural Research and Solidarity Association
Tar sagte, dass im Exil lebende LGBT-Personen aus manchen Ländern, insbesondere dem Iran, auf gut etablierte Unterstützungsnetzwerke zählen können, die ihnen helfen, über die Runden zu kommen und sie durch das langwierige Asylverfahren begleiten. „Die betreffenden Personen geben ihre geschlechtliche Identität an und beantragen internationalen Schutz“, sagte er. „Dieser Prozess kann Jahre dauern und da sie Schwierigkeiten haben, Zugang zu Versorgungsleistungen zu bekommen, sind fast alle Opfer physischer oder verbaler Gewalt geworden.“
Indes sind LGBT-Flüchtlinge aus Syrien oft völlig auf sich gestellt, meinte Tar. Syrer machen gemäß aktuellen Zahlen des UNHCR 90 Prozent der türkischen Flüchtlingspopulation aus — etwa 3,1 Millionen Menschen. Nach syrischem Recht ist „widernatürlicher Geschlechtsverkehr“ eine Straftat, die mit bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet wird, und zahllose LGBT-Personen seien in den von den Milizen des Islamischen Staates kontrollierten Gebieten gefoltert und umgebracht worden, sagen Menschenrechtsgruppen.
Seit 2011 gilt Syrien gemäß der International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association, einem Zusammenschluss von Menschenrechtsgruppen, für LGBT-Personen als gefährlichster Ort der Welt. „Das Problem bei den syrischen Flüchtlingen ist, sich zu outen, zu sagen, wer sie sind“, sagte Tar. „Deshalb sind sie auch nicht als LGBT-Flüchtlinge erfasst und ihre besonderen Bedürfnisse werden nicht berücksichtigt.“ Einem 2015 veröffentlichten UNHCR-Bericht zufolge riskieren LGBT-Flüchtlinge, die sich nicht outen, „schwerwiegende soziale Ausgrenzung und Gewalt in den Asylländern sowohl durch die Aufnahmegesellschaft als auch durch die breitere Gemeinschaft der Asylsuchenden und Flüchtlinge“.
Maher, ein 23-jähriger Transgender-Flüchtling aus dem Irak, floh nach Istanbul, nachdem sie „widernatürlicher Handlungen“ bezichtigt wurde.
Foto: © Alexia Tsagkari
„Kein Paradies“
Für Maher, eine 23-jährige irakische Transgender-Frau, war mit dem Mord an Warda das Maß endgültig voll. In ihrer irakischen Heimat hatte Maher ein Doppelleben geführt. Auf dem Polizeirevier, wo sie in der Verwaltung tätig war, gehörte sie für ihre Kollegen zu den Jungs. Aber das änderte sich schlagartig, als sie eines Tages ihr Telefon im Büro liegenließ. Darauf waren Fotos von ihr mit einer langen schwarzen Perücke und in Frauenkleidern. Kollegen, die die Fotos sahen, ließen sie verhaften. Sie sei „widernatürlicher Handlungen“ bezichtigt, gefoltert und eingesperrt worden, erzählte sie. Nach dreieinhalb Monaten wurde sie unter der Bedingung aus der Haft entlassen, dass ihr Bruder, während sie auf die Verhandlung wartete, für sie bürge. Als sie einige Monate später außer Landes floh, wurde ihr Bruder verhaftet und zu lebenslanger Haft verurteilt — ein Umstand, der jeden Tag auf ihr lasten würde.
Einen Monat, bevor Warda in Istanbul umgebracht wurde, war Maher Zeugin des Mordes an einer anderen Transgender-Prostituierten am Taksim-Platz. Maher stand mit ihrem Freund Hassan, einem schwulen Flüchtling aus Syrien, auf dem Platz, als eine Gruppe Männer die Prostituierte zu schikanieren begann. „Hassan wollte hingehen und sie schützen“, sagte sie. „Sie war keine Freundin von uns, aber wir kannten sie vom Sehen. Ich hatte wirklich Angst, dass diese Leute uns angreifen würden, deshalb drängte ich Hassan weg. Ein wenig später schnitten ihr die Männer mit einem Messer die Kehle durch.“
Zwischen 2008 und 2016 wurden in der Türkei 43 Transgender-Personen ermordet, geht aus einem Bericht aus dem Jahr 2016 der Menschenrechtsgruppe Transgender Europe hervor. Die Zahl sei aber nur der „Gipfel des Eisbergs“, heißt es darin.
Maher zeigt ihre Narben als Beweis, dass sie von der irakischen Polizei gefoltert wurde.
Foto: © Alexia Tsagkari
Erschüttert von der sie umgebenden Gewalt entschlossen sich Maher und drei enge Flüchtlingsfreunde, darunter auch Hassan, zu versuchen, in die Niederlande zu kommen, die sie für eine Art gelobtes Land hielten. Hassan, der im syrischen Aleppo als Friseur arbeitete und gebleichtes blondes Haar trägt, träumt davon, in Amsterdam seinen eigenen Salon zu eröffnen.
Sandy, die 30-jährige Transgender-Frau aus Syrien, die Wardas Leiche fand, beschloss, nicht mitzukommen. Sie kannte Amsterdam gut, da sie dort sieben Monate lang gelebt hatte, nachdem ein Schlepper ihr 2013 gegen Bezahlung falsche Papiere und ein Flugticket verschafft hatte. Sie wurde zurück in die Türkei abgeschoben, nachdem man sie als illegale Einwanderin aufgegriffen hatte. „Ich habe hier einen Freund und mir in den letzten viereinhalb Jahren wieder ein Leben aufgebaut“, meinte Sandy, die sich vor Kurzem einer geschlechtsangleichenden Operation bei einem zwielichtigen Arzt in Istanbul unterzogen hat. „Amsterdam ist auch kein Paradies für uns.“
„Die Männer schnitten ihr mit einem Messer die Kehle durch.“
Maher, die erzählt, sie habe den Mord an einer TransgenderProstituierten am TaksimPlatz beobachtet.
Auch im 2.000 Kilometer entfernten Amsterdam sind manche LGBT-Asylsuchende über ein Land enttäuscht, das einst als Leuchtturm der Toleranz bejubelt wurde. 2017 unterstützte eine in Amsterdam tätige Hilfsorganisation namens LGBT Asylum Support zirka 100 LGBT-Flüchtlinge bei ihren Asylanträgen. Der Organisation zufolge seien Dutzende abgelehnt worden, da die Behörden immer öfter zögern würden, im Zweifelsfall zu Gunsten der Antragsteller zu entscheiden. „Die Leute glauben, sie seien an einem sicheren Ort gelandet, aber stattdessen leben sie in einem Albtraum“, erzählte uns Sandro Kortekaas, Vorsitzender der Organisation, in einem Skype-Interview. „Das System zweifelt sogar ihre Homosexualität an. Wie kann ein Flüchtling zurück in einen Krieg [in ein Kriegsgebiet] gehen oder an einen Ort, wo ihn der Tod erwartet?“
Johannes Lukas Gartner, Programmdirektor der Menschenrechtsgruppe Humanity in Action in Berlin, fasste die missliche Lage vieler LGBT-Flüchtlinge in einem kürzlich erschienenen Essay zusammen. „Um Asyl zu bekommen, müssen queere Flüchtlinge den Einwanderungs- und Justizbehörden beweisen, dass sie queer sind, dass sie aufgrund ihrer Sexualität Verfolgung fürchten und dass diese Angst begründet ist“, schrieb er. „Mehr noch als in Fällen politischer, religiöser oder ethnischer Verfolgung hängt das Ergebnis der Bearbeitung ihrer Anträge jedoch weitgehend von der Existenz für gewöhnlich nicht existenter Beweise ab.“
Hassan, ein schwuler Flüchtling aus Syrien, träumt davon, in Amsterdam seinen eigenen Friseursalon zu eröffnen.
Foto: © Alexia Tsagkari
Unbeirrt machten sich Maher und Hassan im Jänner 2017 gemeinsam mit Hassans irakischem Freund Mahdi und Lara, einer Transgender-Frau aus Syrien, nach Griechenland auf. Sie zahlten einem Schlepper jeweils 800 Euro, damit er sie in einem Schlauchboot vom Osthafen von Bodrum zur 80 Kilometer vom türkischen Festland entfernten griechischen Insel Leros brachte. Ihre Überfahrt erfolgte unter Missachtung des 2016 ausgehandelten Abkommens zwischen der EU und Ankara, das von der Türkei verlangte, die illegalen Grenzübertritte nach Griechenland im Gegenzug für finanzielle Hilfe und schnellere EU-Beitrittsverhandlungen zu stoppen.
Im Rahmen des Abkommens wurde die Fluchtroute über die Ägäis praktisch abgeriegelt. 2015 kamen durchschnittlich 6.828 Menschen pro Tag von der Türkei nach Griechenland. Bis Dezember 2016 war die Zahl auf 54 pro Tag gesunken, so die Daten des UNHCR. Da auch die Balkanländer im Norden ihre Grenzen schlossen, saßen viele Flüchtlinge und Migranten in Lagern und Auffangzentren in Städten in ganz Griechenland fest. Mit Ende November waren es knapp 15.500 Menschen, die auf den Inseln in der östlichen Ägäis darauf hofften, auf das griechische Festland gebracht zu werden. Diejenigen, deren Asylanträge abgelehnt werden, werden in die Türkei abgeschoben, wenn sie dort auf dem Weg nach Griechenland erfasst wurden – andernfalls in ihre Heimatländer.
In Leros angekommen, ließen sich Maher, Hassan, Mahdi und Lara in einem Lager in der Bucht von Lakki registrieren, das auf dem Gelände eines psychiatrischen Krankenhauses aus Dutzenden umfunktionierten Schiffscontainern bestand. Sie berichteten, dass Gewaltandrohungen an der Tagesordnung standen, sowohl von den Bewohnern des Lagers als auch den Einheimischen der 8.000 Einwohner zählenden Insel. Im Mai wurde Lara von einer Gruppe von Männern niedergestochen, als sie die Hauptstraße der Insel entlangging. „Ich hörte, wie jemand hinter mir etwas auf Griechisch rief“, erzählte die 28-jährige Transgender-Frau aus dem syrischen Homs. „Bevor ich mich noch umdrehen konnte, spürte ich einen stechenden Schmerz im Rücken und fiel auf meine Brust. Ich denke, das hat mir das Leben gerettet.“ Auf angebliche Angriffe auf LGBT-Flüchtlinge angesprochen, meinten einige griechische Einheimische, dass diese es nicht anders verdient hätten. „Sie werden aus unseren Söhnen Tunten und Schwuchteln machen“, meinte Yiannis Koumoulis, Eigentümer eines Autoverleihs.
Bassim, ein schwuler Flüchtling aus dem Irak, zeigt seine Narben her, die zurückblieben, als sein eigener Bruder versucht hatte, ihn bei lebendigem Leib zu verbrennen.
© Alexia Tsagkari
Griechisches Tor nach Europa
Im Jahr 2015 wurde das bankrotte Griechenland als Tor nach Europa bekannt, als mehr als eine Million Flüchtlinge und Migranten auf ihrem Weg nach Westeuropa über die Türkei einreisten. Als Reaktion auf die größte Flüchtlingsbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg unterzeichnete die Europäische Union im März 2016 ein Abkommen mit der Türkei, um die Menschen davon abzuhalten, nach Griechenland zu gelangen. Im Gegenzug versprach man finanzielle Hilfe und schnellere EU-Beitrittsgespräche.
Im Rahmen des Abkommens vereinbarten Brüssel und Ankara, dass alle neuen „irregulären Migranten und Asylsuchenden“, die ab dem 20. März 2016 auf den griechischen Inseln ankommen, in die Türkei rückgeführt werden.
Gleichzeitig soll für jeden syrischen Flüchtling, der von den griechischen Inseln in die Türkei zurückgebracht wird, ein anderer syrischer Flüchtling in die Europäische Union umgesiedelt werden. Und schließlich sollte die Türkei alle erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um neue Flüchtlingsrouten auf dem See- oder Landweg in die EU zu verhindern.
Im März 2016 schlossen Mazedonien, Kroatien und Slowenien ihre Grenzen, sodass zehntausende Flüchtlinge und Migranten in Griechenland festsaßen.
Belastungsgrenze
Überall in der Ägäis befinden sich LGBT-Flüchtlinge in einem ähnlich unsicheren Umfeld. „LGBT-Flüchtlinge brauchen zusätzlichen Schutz, da sie verschiedenen Formen der Gewalt ausgesetzt und von einer Grundversorgung ausgegrenzt sind“, sagte Margarita Kontomichali, Koordinatorin eines Unterstützungsprogramms für LGBT-Asylbewerber, das von der Hilfsorganisation SolidarityNow in Athen geleitet wird. Auf der kleinen Insel Kos, die mit der Fähre von Leros in zwei Stunden zu erreichen ist, erzählten in einem verlassenen Hotel untergebrachte schwule Asylbewerber, dass sie die Angst vor Abschiebung verfolge.
„Im Lager habe ich schon zwei Mal versucht, mich umzubringen“, verriet Bassim, ein 31 Jahre alter Mann, der aus dem Irak geflohen war, nachdem sein extremistischer Bruder versucht hatte, ihn zu töten. „Ich war ein viel zu großer Feigling, als dass ich es zu Ende gebracht hätte.“ Er schluckte seine Tränen hinunter, als er die Narben auf seinem linken Oberschenkel herzeigte, die aus einer Nacht im Jahr 2016 herrühren, als sein Bruder in sein Zimmer gestürmt war, Öl über ihn schüttete und sein Bein in Brand setzte. „Mein Bruder sucht mich immer noch. Aber auch hier in Griechenland fühle ich mich nicht sicher.“
LGBT-Flüchtlinge sagen, dass es manchen humanitären Hilfskräften vor Ort an Ausbildung und Bewusstsein mangle, um mit sensiblen Fällen umzugehen; andere wiederum seien regelrecht homophob. Ein 18-jähriger syrischer Homosexueller, der namentlich nicht genannt werden wollte, erzählte von den frustrierenden Asylverfahren. Er sagte, er sei während der Befragung durch die Behörden zu verwirrt gewesen, als dass er ehrlich über die Gefahren, denen er aufgrund seiner Homosexualität in Syrien ausgesetzt war, gesprochen hätte.
„Der Dolmetscher übersetzte nicht genau das, was ich ihm erzählte“, sagte er. „Ich kann ein bisschen Englisch und ich bin mir sicher. Und niemand sagte mir, dass es unbedenklich sei, meine sexuelle Orientierung offenzulegen.“ Als sein Asylgesuch nach einigen Monaten abgelehnt wurde, bat er um ein zweites Vorsprechen. Diesmal „outete“ er sich vor den Behörden. Jeder Tag des Wartens auf eine Entscheidung ist eine Qual für ihn.
Während des Sommers fand der junge Mann einen Job in einer Strandbar, wo er gezwungen gewesen sei, einen Monat lang 12 Stunden täglich ohne Bezahlung zu arbeiten und dabei vom Eigentümer sexuell belästigt worden sei. „Ich kann es niemandem erzählen, weil ich mich so schäme“, gestand er. Im Juni durften Maher, Hassan, Lara und Mahdi Leros verlassen und nach Athen reisen, wo sie einen formellen Asylantrag für die Niederlande stellten. Die monatlichen Zuschüsse des UNHCR von 90 Euro pro Person würden nicht zum Überleben reichen, sagen sie. „Als wir in Athen ankamen, gingen Hassan und ich zum Supermarkt“, erzählte Mahdi, ein 32-jähriger schwuler Iraker, der gezwungen war, seine Heimat in Kuwait zu verlassen, nachdem sein homophober Bruder versucht hatte, ihn umzubringen.
„Auf dem Weg dorthin haben Migranten – ich glaube aus Georgien – gerufen, ‚Haut ab, ihr Tunten!‘ Wir mussten zurück zur Wohnung gehen, aber sie blieben draußen stehen und warfen Steine gegen das Fenster.“ Die zwei leben in Unterkünften im Stadtteil Kypseli im Zentrum Athens, die ihnen von der Association for the Social Support of Youth, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für marginalisierte Jugendliche einsetzt, zur Verfügung gestellt wurden. Trotz dieser Unterstützung sagten alle vier, sie hätten ihre persönliche Belastungsgrenze erreicht. „Von Anfang an höre ich nur Versprechungen“, meinte Mahdi. „Ich kann hier niemandem trauen, nicht einmal den [Hilfs-]Organisationen. Ich weiß nicht, was ich zu erwarten habe oder wie es weitergehen soll.“
Gefälschte Dokumente
Im Juni beschlossen Maher, Hassan, Mahdi und Lara, dass sie nicht länger darauf warten konnten, dass das Asylverfahren seinen Lauf nahm. Es war an der Zeit, einen Schlepper zu bezahlen, der sie nach Amsterdam bringen sollte. Neben der Sankt-Nikolaus-Kirche auf der Acharnon-Straße trafen sie einen kleinen arabisch sprechenden Mann, der ihnen ihre Optionen aufzeigte. Ein einfacher gefälschter EU-Pass und ein Flugticket würde sie 800 Euro pro Kopf kosten. Für 3.000 Euro bekämen sie einen hochwertigen gestohlenen Pass und einen Platz auf einem Kreuzfahrtschiff, das sie durch das Mittelmeer bringen würde. Das Luxuspaket inkludiere sogar die Bestechung der Küstenwache, meinte er.
Der Mann zeigte ihnen Fotos gefälschter Dokumente. Schlussendlich entschieden sie sich für die 1.500-Euro-Variante, die ihnen einen ziemlich gut gefälschten Pass — aller Wahrscheinlichkeit nach einen bulgarischen oder rumänischen — und ein Flugticket verschaffen würde. Sie händigten ihm das Geld in 50-Euro-Banknoten aus – Geld, das sie mit Prostitution verdient und von Freunden aus Kuwait bekommen hatten. Gegen Ende September, kurz bevor es Zeit war, aufzubrechen, schlug das Schicksal zu. Eines Nachts war Maher nicht sie selbst. Sie war vergesslich, verwirrt und tat sich beim Atmen schwer. Dann begann sie aus dem Mund zu bluten.
Hassan rief die Rettung. Sie warteten eine Ewigkeit und verfrachteten Maher schließlich in ein Taxi, das sie im Eiltempo zum Krankenhaus brachte. Zunächst wollten die Ärzte Hassan und Mahdi nicht sagen, was Maher fehlte, weil sie keine Verwandten waren. Nach zwei Wochen erfuhren die beiden aber, dass sie einen intrakraniellen Hirntumor hatte und zwei Schlaganfälle erlitten hatte. Ihr Zustand sei inoperabel und sie würde es voraussichtlich nicht überleben, hieß es. Der Tumor könnte möglicherweise mit der im Gefängnis im Irak erlittenen Gewalt in Zusammenhang stehen, meinten die Ärzte. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels konnte Maher kaum sprechen und erkannte Besucher nicht mehr.
Hassan, Mahdi und Lara sind am Boden zerstört und haben keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Eines Abends Ende November besuchten Hassan und Mahdi Maher, deren Zustand sich zu verschlechtern schien. Mahdi flüsterte immer wieder: „Was nun? Was nun?“ Hassan saß am Bettrand und legte seinen Arm um Maher. „Hör auf zu fragen, Mahdi“, sagte er mit leiser, flacher Stimme. „Wichtig ist doch nur, dass wir zusammen sind, wir drei.“ Er hielt sein Mobiltelefon hoch und machte ein Selfie. Nur sie drei.
Original auf Englisch. Publiziert am 23. Januar 2018 auf Balkaninsight.com. Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Alexia Tsagkari. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Lara, ein Transgender-Flüchtling aus Syrien, wurde von Einheimischen in der Nähe eines Lagers auf der griechischen Insel Leros in den Rücken gestochen. Foto: © Alexia Tsagkari.
Dieser Artikel entstand im Rahmen des Balkan Fellowship for Journalistic Excellence, unterstützt von der ERSTE Stiftung und den Open Society Foundations in Kooperation mit dem Balkan Investigative Reporting Network.