Normativität

Die Spielregeln der Freiheit

Die Welt ist aus den Fugen geraten, weil sie ihren Zusammenhang verloren hat. Es wird Zeit, die Regeln für eine neue Geschichte zu besprechen.

Im Jahr 1851 erschien Arthur Schopenhauers Sammlung „Parerga und Paralipomena“. Die Magie dieses Werks liegt in den zeitlosen Themen und Bildern, die der deutsche Meisterphilosoph darin zusammengetragen hat. Einer der bekanntesten Gleichnisse aus diesem Buch trägt den Titel „Die Stachelschweine“. Schopenhauer beschreibt darin das Verhalten einer „Gesellschaft Stachelschweine“ die sich an einem Wintertag „recht nah“ zusammendrängt, um sich vor dem Erfrieren zu schützen. Die enge Gesellschaft, dicht gedrängt und nur mit geringen Freiräumen ausgestattet, bietet Sicherheit. Doch die Nähe ist tückisch, denn die Stachelschweine belästigen einander mit ihren Stacheln, und so rücken sie wieder voneinander ab, bis ihnen kalt wird und sie so frieren, dass sie sich wieder aneinanderdrängen. So werden sie „zwischen beiden Leiden hin und her geworfen“, schreibt der Philosoph, „bis sie eine mäßige Entfernung voneinander herausgefunden hatten, in der sie es am besten aushalten konnten (…) So treibt das Bedürfnis der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zueinander; aber ihre vielen widerwärtigen Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder voneinander ab.“ Das Verhalten der Stachelschweine sucht nach der „mittleren Entfernung“, wie Schopenhauer den unsicheren Zustand zwischen Hin und Her nennt, und wo er erreicht ist, herrscht „Höflichkeit und feine Sitte.“

Wer Schopenhauers Parabel in die heutige Zeit und unsere Sprache übersetzt, erkennt in Höflichkeit und feiner Sitte nicht nur eine Frage der Etikette. Sie sind eine Chiffre für den richtigen Abstand zwischen Individuum und Gesellschaft, dem Ich und dem Wir, Uns und den Anderen, dem Eigenen und dem Fremden. Diese Worte umweht wieder ein kalter Wind, sie sind unbehaglich geworden. Das ist kein Zufall. Unausgesprochen geht es dabei immer auch um Regeln und Normen, die die „Mittlere Entfernung“ ausmachen.

Tipping Point Talk #2 – Normativität

Im Jahr 2019 feiern Erste Bank und Sparkassen, sowie ERSTE Stiftung das 200-jährige Jubiläum der Sparkassenidee: Sie war in Zeiten von Industrialisierung und Urbanisierung sozial und wirtschaftlich, sie war innovativ und kühn. Was erzählt uns die Sparkassenidee heute im Jahr 2019?

Der Journalist und Autor Wolf Lotter begleitet in diesem Jahr die vier Tipping Point Talks, eine Veranstaltungsreihe zu den Themenfeldern Identität, Normativität, Möglichkeit und Kühnheit mit jeweils einem Essay. In diesem Text denkt er über Normativität nach.

Normatives Verhalten ist das Ergebnis einer Mischung aus sozialer und persönlicher Positionsangabe. Ihr Ergebnis sorgt dafür, dass es uns weder „zu kalt“ noch „zu stachelig“ wird, weder zu unsicher also noch zu eng und unfrei. Es geht um die nie zu Ende gebrachte, immer neu zu verhandelnden Frage aller Gemeinschaften: um die Spielregeln der Freiheit. Wieviel davon kann man haben? Und wie viel brauchen wir, um unser Leben nicht als unerträglich zu empfinden?

Zu den verstörenden Entdeckungen unserer Zeit gehört, dass sich die Annahme der westlichen liberalen Wohlstandsgesellschaften, nach dem Ende der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts über Freiheit eigentlich nicht mehr neu verhandeln zu müssen, als Illusion herausstellte. Der Glaube, dass die „mittlere Entfernung“ eigentlich hinlänglich gesetzt ist, geradezu zum normativen Global Positioning System geworden ist, erweist sich fataler Irrtum, als grobes Missverständnis.

Man nahm an, dass der wachsende Wohlstand, die Erweiterung der materiellen Wahlmöglichkeiten und Freiheiten, auch ein unbegrenztes Wachstum der persönlichen Freiräume versprach. Das eine schien das andere zu bedingen, geradezu zu garantieren.

Nicht nur die körperliche Unversehrtheit, die elementaren Menschen- und Bürgerrechte, nein, auch die Entwicklung der Persönlichkeit, ihre Selbstbestimmung, die Selbstverwirklichung des Individuums schien mit einer Eintrittsgarantie versehen worden zu sein. Man musste sich um nichts kümmern. Alles schien sich von selbst zu ergeben, und wo die vollständige Sicherung der Freiheit noch nicht eingetreten war, schien das nur noch eine Frage der Zeit zu sein – man wartete auf die gelegentliche Zustellung. Selbst Kritiker „des Systems“ mussten sich eingestehen, dass die westlichen liberalen Marktwirtschaften in Sachen Grund- und Entwicklungsfreiheiten die größten Fortschritte in der Geschichte erzielt hatten. Die „Mittlere Entfernung“ der Schopenhauerschen Stachelschweine zueinander hatte sich eingependelt, schien zu einer festen Größe geworden zu sein. Für immer und ewig.

Es geht um die nie zu Ende gebrachte, immer neu zu verhandelnden Frage aller Gemeinschaften: um die Spielregeln der Freiheit.

Diese Ewigkeit ist fraglos vorbei. Die offene Gesellschaft scheint es mit voller Wucht erwischt zu haben. Die Reaktionen auf Donald Trump, Wladimir Putin oder Viktor Orban waren zunächst Staunen, Verblüffung, dann Wut und Verzweiflung. All das sind gute Hinweise darauf, dass die liberalen Demokratien und ihre Eliten gar nicht mehr damit gerechnet haben, sich mit den Spielregeln der Freiheit auseinandersetzen zu müssen. Der ganze normative Komplex, also alles, was Menschen an verbindlichen Regeln und Vereinbarungen setzen, um miteinander auszukommen, war eher ein historisches oder akademisches Thema. Man las Hannah Arendts „Origin of Totalitarianism“ oder Karl Poppers „Die Offene Gesellschaft“. Man war schon skeptischer, wenn der Ökonom Friedrich August von Hayek seine Forderung von der „dogmatischen“ und „doktrinären Verteidigung der Freiheit“ erhob. Die zahllosen Warnungen der Alten, die ihre persönlichen, lebensbedrohlichen Erfahrungen im Umgang mit rechten wie linken Feinden der Freiheit gemacht hatten, waren gestrig und abstrakt. Man wusste, dass der Völkerbund gescheitert war, aber die Vereinten Nationen erschienen als hinlänglich starke Bürokratie. Der Rest würde sich, auch ohne eigenes Zutun, schon ergeben.

Normativität ist, grundlegend gefasst, alles, was nicht Naturgesetz ist. Es ist die Gesamtheit dessen, was Menschen sich als Wirklichkeit schaffen, Gesetze, Regeln, Kulturen, Normen und vieles mehr, an das wir uns halten. Dabei ist einerseits klar, dass die darin enthaltenen Ordnungen beweglich sind, sich entwickeln, die „mittlere Entfernung“ keine statische Angelegenheit ist. Die Frage ist aber: Wie beweglich? Man kann die Aufklärung auch als den Versuch werten, die Spielregeln für die Beweglichkeit neu zu definieren, klarer, verbindlicher. Es ging nicht mehr allein um das eigene Gruppeninteresse, sondern um den Versuch anhaltender Konsensbildung, eben einer „Mitte“, die sich nur im „Stückwerk“, wie Karl Popper es nannte, entwickeln lässt. Der Versuch, möglichst viel Einzelgerechtigkeit herzustellen, möglichst viel Demokratie und Vielfalt und so wenig Enge und Unfreiheit wie möglich, das ist ein mühsames Geschäft, es dauert. Es bedarf des persönlichen Einsatzes, zivilgesellschaftlichen Engagements. Zu Immanuel Kants „Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen“, seine berühmte Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ kommt also noch die schwierige Verpflichtung hinzu, die dabei gewonnenen Freiräume aktiv zu verteidigen. All das macht viel Arbeit.

Normativität ist, grundlegend gefasst, alles, was nicht Naturgesetz ist. Es ist die Gesamtheit dessen, was Menschen sich als Wirklichkeit schaffen.

Populisten und Tyrannen hingegen verhandeln nicht über die Wirklichkeit, sie „schaffen Fakten.“ Im Satz von der „Normativen Kraft des Faktischen“ lässt sich die dahintersteckende Gewalt erahnen. Diese Phrase stammt vom österreichisch-deutschen Staatsrechtler Georg Jellinek, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte und arbeitete. Jellinek wollte mit der „Normativen Kraft des Faktischen“ auf einen real existierenden Widerspruch zum Naturrecht und zu den Prinzipien von Aufklärung und Vernunft hinweisen. Die Kraft der Wirklichkeit, die die Normativität beeinflusst, ist damit das Ergebnis der jeweiligen sozialen und kulturellen Sichtweise darauf. Nicht die statische, von Staaten und supranationalen Gemeinschaften gesetzten Regeln und Normen sichern den jeweils richtigen Abstand, sondern das, was ist – und das, was ist, ist das, was man als Wirklichkeit ausgibt. Das erinnert an einen der Stammväter des Populismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, dessen Diktum „Wer a Jud ist, bestimm i“ geradezu konstituierend für den modernen Populismus wurde. Wer die Spielregeln der Freiheit verändern oder abschaffen will, verhandelt nicht mit der Wirklichkeit – das heißt auch, dass er sein Handeln nicht erklärt, verteidigt oder gar Argumente liefert. Die neue „mittlere Entfernung“ kann dabei beliebig eng oder kalt sein. Ihre Leitsätze sind: Das werden wir schon sehen. Ihr werdet es schon merken. Und selbstverständlich werden dabei, wie nicht nur Donald Trumps Klimapolitik zeigt, auch naturwissenschaftliche Fakten gebeugt. Die Wirklichkeit ist, was „wir“ dazu erklären. Der „Tatmensch“ pfeift auf die Regeln, die Höflichkeit und feine Sitte, den Anstand und die anderen. Er entzieht sich und seine Anhänger dem ungeliebten Prozess des langen und mühsamen Verhandelns.

Populisten und Tyrannen verhandeln nicht über die Wirklichkeit, sie „schaffen Fakten.“

Die Anhänger solcher Politik werden im Allgemeinen als Modernisierungsverlierer beschrieben, die in der gegenwärtigen Transformation von der Industrie- zur Wissensgesellschaft abgehängt werden. Menschen, die mit der Komplexität der Welt nicht zurechtkommen. Für sie ist das Angebot, die „mittlere Entfernung“ nun wieder vollständig in die Hände eines „starken Mannes“ mit einem „starken Staat“ zurückzuführen, durchaus attraktiv. Vergessen wir aber nicht auf jene, die sich auf der anderen Seite wähnen, all jene also, die reichlich naiv auf ihre bürgerlichen Pflichten verzichtet haben, weil sie meinten, das erledige sich schon von selbst. Auch unter den gut ausgebildeten Eliten gibt es viele, die durchaus abgehängt sind, die verstört sind von zuviel Komplexität, die ihre Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten in einer komplexen Gesellschaft gerne an andere abgeben. Die Ursachen dafür sind kaum andere als bei den Klienten, die hinter den Trumps und Putins stehen: Zuwenig Wissen über die elementaren Zusammenhänge von Ökonomie, materieller und persönlicher Freiheit etwa; oder eine nur verbal und höchst virtuell ausgeprägte Bereitschaft, die Freiheit „unabdingbar“ zu verteidigen, und zwar wirkungsvoll. Das geschieht kaum, indem man Petitionen anklickt, sondern nur, wenn man sich als Gesellschafter, als Zivilgesellschafter, versteht, also als jemand, der für die eigenen Belange eintritt und sie nicht an die Instanzen delegiert, die dann den jeweils richtigen Abstand regeln. Bei der Herstellung einer liberalen, einer offenen Gesellschaft gerecht werdenden Vorstellung von Normativität wird es um die Frage gehen, die der deutsche Ökonom Birger Priddat formulierte: Eine Zivilgesellschaft bestehe „aus der Rückverlegung der schwierigen Entscheidungen, wie man leben will und soll, an die Einzigen, die das entscheiden können: an die Bürger selbst.“

Damit wenigstens ließe sich der Anmaßung der „Normativen Kraft des Faktischen“ all jener Kräfte, die von rechts wie links an der Aushöhlung der Freiheit und der Aufklärung arbeiten, begegnen: Indem man selbst anfängt, die Dinge in die Hand zu nehmen, also aus der passiven Rolle herauskommt und zum aktiven, gestaltenden Teil von Gesellschaft, Fortschritt und Welt wird. „Die Gewohnheit, sich in der Opferrolle einzurichten, lähmt den Impuls zur Selbstkorrektur“, schreibt Timothy Snyder in seinem grandiosen Buch „Über Tyrannei“. Und er gibt den Stachelschweinen den bestmöglichen Rat: Von der Passivität auf Aktivität, Selbstverantwortung, umschalten. Moralisierende Tugenddebatten führen zu nichts. Es gehe also nicht um Reaktionen, sondern um Aktionen – nicht um moralische Empörung, sondern aktives, fachkundiges Handeln – um konkrete „Zukunftsentwürfe“.

Das Einfallstor der Populisten besteht in der Schwäche liberaler Eliten, die eigenen Erkenntnisse und historischen Lehren nicht ausreichend ernst zu nehmen – und sie zu einer für alle verständlichen Geschichte zu sammeln. Diese Geschichtslosigkeit hat ihren Preis, nämlich den Verlust der Zukunftsfähigkeit. In diesem Sinne ist Odo Marquards „Zukunft braucht Herkunft“ zu verstehen: „Denn die Menschen: das sind ihre Geschichten“, hielt der Philosoph fest. Und Geschichten, das sind Zusammenhänge. Sie werden in einer Welt, in der unerschlossene Komplexität uns kalt und unzugänglich erscheint immer wichtiger. Diese Zusammenhänge – zu denen auch die Regeln gehören – erschliessen uns das Fremde und machen es uns vertraut. Geschichte wiederholt sich dabei nicht, aber sie geht in Wiedervorlage. Was überwunden geglaubt scheint, taucht aus den Untiefen wieder hervor, wenn wir Probleme und Ungerechtigkeiten unerledigt zurücklassen. Wer wissen will, welche Grundregeln Freiheit braucht, insbesondere unter den schwierigen Bedingungen, die sie im 21. Jahrhundert vorfindet, der muss bereit sein, in Geschichte, in Zusammenhängen zu denken. Zivilgesellschaft ist nicht, was wir lassen oder ohnmächtig zulassen, sondern für die beste aller Welten tun – eine, die gut genug ist für alle.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz veröffentlicht: CC BY-NC-ND 3.0. Der Name des Autors/Rechteinhabers soll wie folgt genannt werden. Autor: Wolf Lotter / erstestiftung.org. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: © Patrick Pleul / dpa / picturedesk.com

Die Schule der Zivilgesellschaft

Die Ermöglichung

Persönlichkeiten

“Vom Leben im Krieg für den Frieden lernen.”

“Proletarier aller Länder, wer wäscht eure Socken?”

“Zeit, Wachstum neu zu denken”

“Es sind die Eliten, die sich gegen die Demokratie wenden, nicht das Volk.”

Das könnte Sie auch interessieren