Die Visegrád-Gruppe (V4) ist in jüngster Zeit zunehmend in den Blickpunkt Europas gerückt. Dieses bisher relativ unbedeutende regionale Bündnis erwies sich plötzlich aufgrund einer einzigen Ursache zur spontanen Mobilisierung innerhalb der EU fähig. In Zeiten der europäischen „Poly-Krise“, da in der europäischen Gemeinschaft keine grundlegende Einigung darüber herrscht, welchen Prinzipien man folgen soll, stellt sich die Frage nach der Nachhaltigkeit dieses Bündnisses und den möglichen Auswirkungen auf die Europäische Union (EU). Welches Zukunftsszenario wünschen wir uns für die V4?
Vom Ostblock zur Europäischen Union
Die Visegrád-Gruppe wurde 1991 von den Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik und Polens und dem ungarischen Ministerpräsidenten gegründet. Nach dem Zerfall der Tschechoslowakei 1993 erweiterte sich die Gruppe mit den zwei unabhängigen Staaten Tschechische Republik und Slowakei auf vier Länder. Die V4 stand für die Eliminierung der Überreste des kommunistischen Blocks in Mitteleuropa sowie die erfolgreiche soziale, politische und wirtschaftliche Transformation. Oberstes Ziel war das Vorantreiben der europäischen Integration, da alle vier Länder stets daran glaubten, Teil des gemeinsamen europäischen kulturellen, intellektuellen und historischen Erbes zu sein. Dieses Ziel wurde mit dem Beitritt zur Europäischen Union 2004 erreicht.
Heute versucht die Visegrád-Gruppe eine aktive Rolle im europäischen Dialog zu spielen, wenn auch mit unterschiedlichen Konsequenzen für die europäische Integration. Ihre anfängliche Begeisterung für Europa scheint im Zuge der politischen Entwicklung in der Region nachgelassen zu haben: Die V4-Länder haben rechtskonservative Rückschläge und wachsenden Populismus, der sich auch in Westeuropa bemerkbar macht, erfahren. Als die massive Zuwanderung von Migranten in die EU interne Diskrepanzen sowie das Fehlen einer gemeinsamen Strategie zutage treten ließ, was zu einer politischen Krise innerhalb der EU führte, lehnte die Visegrád-Gruppe die von der Europäischen Union vorgeschlagenen Umsiedlungsquoten ab und brachte die Idee einer „flexiblen Solidarität“ auf, die einen freiwilligen Umverteilungsmechanismus vorsah. Gleichzeitig sprachen sich die V4 (deren BürgerInnen zu einem großen Teil in Großbritannien leben und arbeiten) in der Debatte über den Brexit und seine Folgen angesichts einwanderfeindlicher Haltungen und der Drohung, Sozialleistungen für ausländische Arbeitskräfte in Großbritannien zu kürzen, dafür aus, die soziale Dimension der europäischen Integration in den Vordergrund zu rücken. Die nächste Bewährungsprobe für die Integrität der Gruppe bietet sich in der sich anbahnenden Debatte über die europäische Arbeitspolitik, die durch Emmanuel Macrons Initiative, die Entsenderichtlinie zu reformieren, ausgelöst wurde.
Die Illusion der Homogenität
Die interne Dynamik der Visegrád-Gruppe schwankt ebenfalls. Die Gruppe verfügt über keine institutionale Struktur im Sinne einer formalen Regierung, aber ihr Bemühen, viele widersprüchliche Interessen zu vereinen, könnte ihren inneren Zusammenhalt nachhaltig beeinträchtigen. Die Visegrád-Kooperation basiert auf ebenenübergreifenden Treffen der V4-Regierungschefs mit alljährlich wechselnder Präsidentschaft. Das vorsitzende Land ist für die Durchführung der zuvor von allen V4-Ländern beschlossenen Programme verantwortlich. Derzeit führt Ungarn den Vorsitz bis Juni 2018.
Von allen V4-Ländern scheint Polen am stärksten auf Konfrontationskurs zur EU oder gar dem westlichen Modell einer liberalen Demokratie im Allgemeinen zu gehen. Da man Empfehlungen hinsichtlich des Umbaus des Justizwesens ignoriert hat und Fragen über die Medienfreiheit unbeantwortet ließ, sieht sich das Land nun mit der letzten Maßnahme konfrontiert, auf die die EU zurückgreifen kann, um Recht und Ordnung in einem Mitgliedstaat wiederherzustellen: die Auslösung von Artikel 7. Diese Bestimmung, die auch oft als „nukleare Option“ bezeichnet wird, kann zur Sanktionierung eines Mitgliedstaats und sogar bis zur Aussetzung seiner Stimmrechte führen, sollte es die in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) verankerten EU-Grundwerte anhaltend verletzen. Polen hat in letzter Zeit seine Rhetorik im Zuge der Regierungsumbildung geändert. Dogmatische Politiker der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) wurden durch Technokraten ersetzt, die sanftere Töne anschlagen. Der Schaden war jedoch bereits angerichtet und Polens angemaßte Führungsrolle in der Region, ob V4 oder der Traum des Intermarium (die Drei-Meere-Initiative), ist verblasst.
Zukunft der Visegrád-Gruppe
Um die Vielfalt der Visegrád-Länder aufzuzeigen und frische kreative Einblicke zu geben, hat die Foundation for European Progressive Studies in Kooperation mit Das Progressive Zentrum eine Sammlung von Essays über die Zukunft der Visegrád-Gruppe in der Europäischen Union veröffentlicht. Dank des Engagements angesehener Wissenschaftler und namhafter Politiker aus der Region präsentiert diese Publikation nicht nur ganzheitlichere, transregionale Überlegungen zu den vier jüngeren Mitgliedstaaten, sondern geht auch auf ihre mögliche Rolle bei der Gestaltung der Zukunft der EU ein.
Indes nimmt auch Viktor Orbán, der Wegbereiter der „konservativen Gegenrevolution“ in Zentral- und Osteuropa, eine ambivalente Haltung gegenüber der EU ein, wenn auch mit einem pragmatischeren Ansatz. Ungarn konnte repressive Maßnahmen zur Sanktionierung von Mitgliedstaaten, die auf Abwege geraten, bislang vermeiden. Orbáns Pragmatismus spiegelt sich im Bau von Investitionsbrücken nach Russland oder der Suche nach Infrastruktur- und Industriepartnerschaften innerhalb der chinesischen Initiative „Ein Band, Eine Straße“ wider. Orbán ist sich der Vorteile der EU-Mitgliedschaft für Ungarn sehr wohl bewusst, er hat jedoch gleichzeitig seine eigene Vision der Europäischen Union, die weniger Föderalisierung zugunsten mehr Souveränität der Mitgliedstaaten sowie eine selektive Integration vorsieht, die nur in ausgewählten Bereichen voranschreitet, was ihn zu einem möglichen Verbündeten für Polen macht.
Auch wenn der Eindruck der „unbequemen“ V4 durch Polen und Ungarn verstärkt wurde, sehen die tschechischen und slowakischen Haltungen gegenüber der EU anders aus. In Tschechien gewann die populistische Zentrumspartei ANO die Parlamentswahlen im Oktober 2017, kurz darauf gefolgt von der triumphalen Wiederwahl des offenkundig populistischen Präsidentschaftskandidaten Miloš Zeman. Es ist jedoch nicht klar, welchen Weg das Land einschlagen wird, da der neue Ministerpräsident Andrej Babiš nach wie vor mit der Bildung einer Regierung beschäftigt ist, der endlich das Vertrauen ausgesprochen wird. Eine mögliche Koalition mit den Sozialdemokraten (ČSSD) steht nunmehr zur Diskussion, eine Partei mit einem klaren prowestlichen (pro-EU- und pro-NATO-) Kurs; eine Zukunft ist mit dieser Koalition jedoch ungewiss, da man dazu noch einen dritten Juniorpartner brauchen würde.
Die Slowakei nimmt in der Region unter anderem insofern eine Sonderstellung ein, als ihre Integration in die EU durch den Beitritt zur Eurozone 2009 am weitesten fortgeschritten ist. Am Beginn des sozial-wirtschaftlichen Wandels 1990 war das Land das ärmste der Region und blieb sichtbar hinter seinen Nachbarn zurück. Die europäische Integration trug aufgrund der slowakischen Abhängigkeit vom Binnenmarkt und westlichen Investitionen maßgeblich zur Entwicklung des Landes bei. Daher ist der Europa-Enthusiasmus der Slowakei pragmatischer Natur, gestützt von der beklemmenden Vision, dass ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten Wirklichkeit wird. Angesichts dieser Umstände ist die Visegrád-Allianz für die Slowakei eine nette Sache, auf die man aber leicht verzichten kann, sobald sie nicht mehr funktioniert.
Mögliche Zukunftsszenarien
Welche Szenarien sind für die Visegrád-Gruppe in absehbarer Zukunft denkbar? Das positive Szenario geht vom Entstehen eines „Benelux des Ostens“ aus, einer losen, aber effektiven makroregionalen Allianz, die zur europäischen Agenda beiträgt, eine funktionierende NATO-Mitgliedschaft ermöglicht und Schritte zur wechselseitigen Integration engerer infrastruktureller und diplomatischer Beziehungen anstößt. Damit dieses Szenario Wirklichkeit werden kann, wäre es nicht nur notwendig, das Verhältnis zur EU zu klären, sondern auch die nationalistische Rhetorik aufzugeben und populistischen Versuchungen zu widerstehen. Ein anderer Plan würde eine nach innen gerichtete Integration als Alternative bzw. Gegengewicht zur EU vorsehen. In diesem Fall müsste die Zusammenarbeit der V4 nicht nur in institutioneller Hinsicht, sondern auch in Bezug auf ihre Agenda verstärkt werden. Unterschiedliche Interessen müssten einer neu gestärkten Kooperation weichen, eventuell auch begleitet von der Entwicklung alternativer Wirtschaftsbeziehungen mit anderen Global Playern wie Russland oder China. Schließlich wäre auch ein völlig entgegengesetztes Szenario einer vollständigen „Auflösung“ denkbar, sollten widersprüchliche Interessen und Antagonismen die bestehende strategische Allianz zu einem bloßen politischen Ritual werden lassen, das gelegentlich und ohne Folgen stattfindet. Dies wiederum würde das Ende der Zielsetzungen der Visegrád-Gruppe bedeuten, die Zukunft Europas aktiv zu gestalten.
Am 8. April finden in Ungarn Parlamentswahlen statt. Fidesz liegt nach wie vor in Führung. Aufgrund ihrer letzten Niederlage in Hódmezővásárhely, einer Kleinstadt im Süden Ungarns, bleibt der Ausgang der Wahlen dennoch abzuwarten. In Polen sollten die nächsten Parlamentswahlen 2019 stattfinden, in der Slowakei 2020. Kann es sein, dass sich die Stimmung innerhalb der V4 bald ändern wird?
Original auf Englisch. Aus dem Englischen von Barbara Maya.
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