Gegen Extremismus und Ideologie
Ana Marjanović Rudan über die Bedeutung der Bürgerbeteiligung für die Zukunft des Westbalkans
Damit die im Rahmen des Integrationsprozesses der Westbalkanstaaten in die Europäische Union durchgeführten Reformen keine Pflichtübung bleiben, wurde das Konzept der „Unumkehrbarkeit”[1] in die Erweiterungsagenda 2014 aufgenommen. Es dient als Maßstab zur Beurteilung, ob die technische Einhaltung der Vorschriften der Europäischen Union in der Praxis auch umgesetzt wird und ob sich die reformbedingten Veränderungen in den Gesellschaften der Beitrittsländer etablieren.
Damit die reformbedingten Veränderungen zu gesellschaftlichen Normen und als solche unumkehrbar und nachhaltig werden, bedarf es eines breiten gesellschaftlichen Konsenses. Um einen solchen Konsens zu gewährleisten, müssen politische Prozesse in den Westbalkanländern, deren Ziel die Aufnahme in die EU ist, sowie Prozesse zwischen diesen Ländern alle Parteien einbeziehen, die von den Veränderungen betroffen sind: BürgerInnen und ihre Interessengruppen, Expertenkommissionen, Unternehmensverbände, Gewerkschaften u.a. Im Sinne einer inklusiven, konsensorientierten Politikgestaltung auf nationaler Ebene ist daher die Beteiligung der Zivilgesellschaft an den Verhandlungen mit der Europäischen Union unerlässlich. Gleiches gilt auch für andere Formen der Kooperation des zivilen Sektors mit Regierungen im EU-Integrationsprozess einzelner Länder.
Da jedoch während des EU-Integrationsprozesses parallel zum leistungsorientierten Ansatz der einzelnen Länder die gesamte Westbalkanregion im Hinblick auf das projizierte Bild einer zukünftigen europäischen Region beurteilt wird, bleibt die Etablierung einer tiefgreifenden regionalen Kooperation de facto auch weiterhin an Bedingungen geknüpft. Analog zur Notwendigkeit einer breiten Einbeziehung der Stakeholder als Voraussetzung für die Unumkehrbarkeit von Reformen auf nationaler Ebene ist es daher für die solide Etablierung einer regionalen Kooperation – besonders in Zusammenhang mit der jüngsten konfliktreichen Vergangenheit – unumgänglich, den typischerweise engen Teilnehmerkreis an den regionalen, auf zwischenstaatlicher Ebene initiierten wirtschaftlichen, politischen und sozialen Projekten zu erweitern. Dabei sollten auch zivilgesellschaftliche Organisationen und andere Akteure einbezogen werden, die an dem langwierigen Prozess des Aufbaus struktureller und funktionaler Beziehungen auf dem Westbalkan interessiert oder davon betroffen sind.
Um die BürgerInnen der Region auf effiziente Weise in diese regionalen Konnektivitätsprozesse einzubinden, sind nicht nur nationale, sondern auch regionale Plattformen gefragt. Das Civil Society Forum (CSF) der Westbalkan-Gipfeltreffen (der „Berlin-Prozess“) ist eine solche Plattform und ein einzelner Mechanismus, der in direktem Zusammenhang mit dem „Berlin-Prozess“ steht. Als fester Bestandteil der Westbalkan-Gipfelreihe („Berlin-Prozess“) ist es die Aufgabe des CSF, den Prozess kontinuierlich mit Beiträgen der zivilgesellschaftlichen Stakeholder zu bereichern.
Seit seiner Einrichtung im Zuge des Wien-Gipfels 2015 hat das CSF prominente Expertenkommissionen, politikorientierte zivilgesellschaftliche Organisationen, Institute und andere zivilgesellschaftliche Vertreter zusammengebracht und deren Beiträge im Rahmen des „Berlin-Prozesses“ unterstützt und optimiert. Die gemeinsamen zivilgesellschaftlichen Bemühungen führten zu konkreten Ergebnissen: die Erklärung zu bilateralen Fragen und zwei damit zusammenhängende bilaterale Abkommen wurden vor zwei Jahren in Wien verabschiedet. Die diesjährige Erklärung des Gipfels von Triest bekräftigte die Bedeutung der Zivilgesellschaft. Vor allem stimmen jene Kapitel der Erklärung, die sich mit Themen wie bilaterale Belange, Rechtsstaatlichkeit, Jugendkooperation, der Entwicklung von Klein- und Mittelunternehmen und der Umwelt befassen, weitgehend mit den Empfehlungen des Civil Society Forums überein. Dies gilt auch für die in der Erklärung hervorgehobene Bedeutung einer Einbindung der Zivilgesellschaft der Region in die Entwicklung von narrativen Kommunikationsformen, um extremistischen und ideologischen Einflüssen entgegenzuwirken.
Und auch wenn die Tatsache, dass ihre Empfehlungen von der Politik in Betracht gezogen wurden, als Erfolg zu verbuchen ist, kann die Zivilgesellschaft der Westbalkanländer noch viel zur Europäisierung der Region und zum Aufbau der Zusammenarbeit und Beziehungen zwischen den Staaten beitragen und so die Möglichkeit von Konflikten verringern – was auch wesentliche Ziele des „Berlin-Prozesses“ sind. Selbstverständlich sollte das CSF weiterhin Themen aufgreifen, die noch immer nicht zum „offiziellen“ Teil des „Berlin-Prozesses“ gehören, Lösungen vorschlagen und Initiativen setzen sowie Druck ausüben, um die noch ausständige Umsetzung der bereits getroffenen Vereinbarungen zu beschleunigen. Was aber kann die Zivilgesellschaft noch tun? Wie lässt sich das CSF als derzeit größte Plattform für Organisationen des zivilen Sektors auf dem Westbalkan umfassend nutzen?
Erstens sollte sein Einfluss gestärkt werden, um eine intensivere Einbeziehung in die Beratungen über künftige Vereinbarungen und die Umsetzung von im Rahmen des „Berlin-Prozesses“ angeregten Projekten und Initiativen zu gewährleisten. Um dies zu erreichen, sollte das CSF seine anwaltschaftliche Arbeit in der Region, aber auch in Brüssel und in den Mitgliedstaaten, die in den Prozess involviert sind, intensivieren. Außerdem sollte das CSF seine Repräsentativität stärken – durch Ausweiten seines Aktionsradius und Miteinbeziehen möglichst vieler nichtstaatlicher Akteure in seine Arbeit –, sodass es den Regierungen der Westbalkanländer schwerfällt, die Positionen und Vorschläge des CSF nicht zu berücksichtigen.
Zweitens: In Anbetracht der Tatsache, dass die Zivilgesellschaft häufig über eine für staatliche Verwaltungen möglicherweise nützliche Expertise verfügt sowie eine beachtliche Erfolgsbilanz in den für die europäische Integration relevanten Bereichen vorweisen und den Regierungen daher zur Seite stehen oder als Korrektiv fungieren kann, könnte das CSF die Umsetzung der Projekte und Initiativen des „Berlin-Prozesses“ direkt unterstützen. Wie von den Balkanländern in der Europe Advisory Group vorgeschlagen, könnten ExpertInnen aus der Zivilgesellschaft zwischen zwei Gipfeln Fortschrittsberichte mit Empfehlungen zu bestimmten Themen des Prozesses erstellen. Da eine wohlwollendere öffentliche Meinung dem Erreichen der Ergebnisse des “Berlin-Prozesses” wie auch der Umsetzung der für seine Projekte notwendigen Reformen förderlich sein würde, könnten die im Civil Society Forum vertretenen ExpertInnen außerdem bei der Planung und Steuerung der notwendigen Kommunikationsmaßnahmen unterstützend mitwirken.
” Die Zivilgesellschaft der Westbalkanländer kann noch viel zur Europäisierung der Region und zum Aufbau der Zusammenarbeit und Beziehungen zwischen den Staaten beitragen.”
Nicht nur die angekündigte Fortsetzung des „Berlin-Prozesses“ – der sogenannte Plan „Berlin Plus“, sondern auch spätere Umsetzungsfristen der im Rahmen des Prozesses bislang entwickelten Projekte und Initiativen, die alle die Region verbinden und näher an die Europäische Union heranführen sollten, verweisen auf die Notwendigkeit einer langfristigen Planung der zivilgesellschaftlichen Einbindung. Vernünftigerweise sollten jedoch nicht nur die Regierungen des Westbalkans flexibler und inklusiver agieren, sondern auch die zivilgesellschaftlichen Organisationen danach streben, einen „Mehrwert“ zu bieten, damit sie wirklich Einfluss nehmen und einen Beitrag zu den regionalen Integrationsprozessen leisten können, was beides zu den Aufgaben des Civil Society Forums in den kommenden Jahren gehört.
[1] Die Formulierung „Unumkehrbarkeit der eingeleiteten Reformen“ wurde in die Erweiterungsagenda 2014 aufgenommen, um für die Beurteilung der Erfüllung der Kriterien des Kapitels 23 einen Rahmen zu schaffen. Nach einschlägiger Auslegung (siehe Konferenzbericht The Western Balkans and EU enlargement: ensuring progress on the rule of law (Westbalkan und EU-Erweiterung: Gewährleistung von Fortschritten bei der Rechtsstaatlichkeit), März 2013 | WP1217) impliziert dieser Begriff lokale Eigenverantwortung als Mittel zur tiefgreifenden Verankerung und Nachhaltigkeit der beitrittsbedingten Reformen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer robusten Zivilgesellschaft mit starker Stimme, frei von politischer Vereinnahmung und Einschüchterung, die imstande ist, politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen und zu überwachen.
Wie nimmt mann am Civil Society Forum der Westbalkan-Gipfeltreffen teil
Das Civil Society Forum der Westbalkan-Gipfeltreffen ist eine alle Beteiligten einschließende Initiative. Seine regionalen und jährlichen Treffen stehen verschiedenen TeilnehmerInnen und ihren Beiträgen offen. Die Beteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen soll auf zweierlei Weise ermöglicht werden: durch eine offene Ausschreibung und – als zusätzliches Instrument zur Einbeziehung der TeilnehmerInnen – durch ein Online-Konsultationsverfahren.
Die Civil-Society-Forum-Reihe zielt darauf ab, im Rahmen des so genannten „Berlin-Prozesses“ eine nachhaltige, themenbezogene zweite Plattform zu etablieren, die den Entscheidungsträgern und dem erweiterten Europa Impulse für Diskussionen geben soll. Sie begann mit dem Civil Society Forum des Westbalkan-Gipfels in Wien 2015 als gemeinsame Initiative der ERSTE Stiftung, der Friedrich-Ebert-Stiftung und des Karl-Renner-Instituts, in enger Kooperation mit dem österreichischen Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres. Die Idee als eine wesentliche Komponente anerkannt zu werden, die es Regierungen und PolitikerInnen in der Region ermöglicht, immer enger mit der Zivilgesellschaft zusammenzuarbeiten, wird seit Anbeginn als unverzichtbar angesehen. Das CSF möchte dazu beitragen, dass die Zivilgesellschaft im Berlin-Prozess und im weiteren EU-Integrationsprozess der Beitrittskandidaten des Westbalkans eine größere Rolle spielt.