Es steht ungewöhnlich viel auf dem Spiel.
Tschechien vor den Wahlen zum Europäischen Parlament
Eine niedrige Wahlbeteiligung in der Tschechischen Republik könnte trotz bestehender Alternativen ein rechtes „Europa der Nationen“ Wirklichkeit werden lassen.
2014 entsandte die Tschechische Republik einen Vertreter der nationalistischen Partei der freien Bürger (2019 umbenannt in Svobodní/Frei) in das Europäische Parlament, obwohl diese zum damaligen Zeitpunkt überhaupt nicht im tschechischen Parlament vertreten war. Dies veranschaulicht die Gefahr, die mit einer traditionell niedrigen Wahlbeteiligung bei EU-Wahlen einhergeht – ein Phänomen, das heute so brisant ist wie noch nie.
Tschechische Republik: Europa vor seinen Rettern retten
Bei den bevorstehenden EU-Wahlen steht ungewöhnlich viel auf dem Spiel. Das hat mit dem Risiko langfristiger multipler Krisen zu tun, die den Erfolg von Kräften begünstigen, die entschlossen sind, die EU zu zerstören oder in ein „Europa der Nationen“ zu verwandeln, wie es Ungarns Viktor Orbán und Polens Jarosław Kaczyński fordern. Eine solche Transformation wird von einer Reihe von Akteuren unterstützt – von diversen Postfaschisten wie Marine le Pen in Frankreich über die Lega Nord in Italien bis hin zu Tschechiens Jan Zahradil von der Demokratischen Bürgerpartei (ODS), der zuvor von der polnischen Partei PiS (Recht und Gerechtigkeit) zum Spitzenkandidaten der Europäischen Konservativen und Reformer im Europäischen Parlament nominiert wurde.
Eine traditionell niedrige Wahlbeteiligung begünstigt ebendiese Kräfte. So konnte die Tschechische Republik 2014 einen Vertreter der Partei der freien Bürger in das Europäische Parlament entsenden, obwohl diese nie den Einzug ins tschechische Parlament geschafft hatte. Gleichwohl vermittelt ihre eigenwillige Ideologie, die karikaturesken Marktfundamentalismus mit Nationalismus vermischt, einen wunderbaren Vorgeschmack darauf, was uns nach den EU-Wahlen im Mai erwarten könnte.
Die Verteidiger der EU
Es ist deshalb kein Wunder, dass Befürworter der Europäischen Union in ihrer jetzigen Form mobil machen – wenn auch bislang mit wenig Erfolg. Etwa dreißig Schriftsteller und Intellektuelle haben einen leidenschaftlichen Aufruf zur Rettung Europas vor den „zerstörerischen Kräften“ unterschrieben (der in der englischen Version ihres Manifests verwendete Begriff „wreckers“ suggeriert einen „Umsturz“ – ein Wort, das im postkommunistischen Europa düstere Erinnerungen an die Prozesse der Stalin-Ära weckt). Trotz zweifellos hehrer Absichten fehlt es dieser Initiative leider an Substanz: ein leidenschaftlicher Versuch, die öffentliche Meinung zu mobilisieren, um Europa vor den Nationalisten zu retten, ohne jedoch konkret darauf einzugehen, wie dieses Europa, das es zu verteidigen gilt, aussehen sollte.
„Das Parteiensystem der einzelnen Staaten spiegelt die Trennlinien wider, die im 19. und 20. Jahrhundert wichtig waren, wie etwa den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Doch die Spaltung, die heute am wichtigsten ist, ist die zwischen pro- und antieuropäischen Kräften“
Interessanter ist in diesem Zusammenhang ein Artikel von George Soros, einem Mann, der am eigenen Leib erfahren hat, was es heißt, auf der Verliererseite zu stehen – sowohl während des Zweiten Weltkriegs als auch in jüngerer Vergangenheit in Ungarn. Die heutige EU ähnle der Sowjetunion 1991 und stehe vor dem Zusammenbruch, glaubt er.
Während es antieuropäische Kräfte schaffen, sich erfolgreich zu organisieren und dabei überzeugend zu wirken, werden die Verteidiger der EU schon durch kleinere Hürden in ihrer Wirkkraft behindert. „Das Parteiensystem der einzelnen Staaten spiegelt die Trennlinien wider, die im 19. und 20. Jahrhundert wichtig waren, wie etwa den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Doch die Spaltung, die heute am wichtigsten ist, ist die zwischen pro- und antieuropäischen Kräften“, schreibt Soros.
Die Tatsache, dass ausgerechnet er der Ansicht ist, dass der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit heutzutage keine Rolle mehr spielt, entbehrt nicht eines gewissen unbeabsichtigten Charmes. Wären die Gegner der Rechtspopulisten derselben Auffassung, käme dies einem Schuss ins eigene Knie gleich. Denn gerade dadurch, dass sie die Spaltung zwischen Kapital und Arbeit verschwimmen lassen, können antieuropäische Kräfte einige Erfolge erzielen. Dies ermöglicht es Viktor Orbán, billige ungarische Arbeitskräfte multinationalen Unternehmen zur Verfügung zu stellen und sie obendrein – dank des treffend titulierten „Sklavengesetzes“ – dazu zu zwingen, Überstunden zu machen, während er sich zugleich als Verteidiger nationaler Interessen gegen die Macht großer Konzerne präsentiert.
Noch wichtiger ist jedoch die Tatsache, dass die inhärenten Schwachstellen der EU von Nationalisten instrumentalisiert werden können. EU-Kritiker des linken Spektrums sprechen seit Langem und zu Recht von einem „Europa der Unternehmer und Bürokraten“, einem neoliberalen Europa ohne die notwendige soziale Sicherheit, einem Europa der Ungleichheiten, das für ein ganzes Land (Griechenland) zum Schuldgefängnis wurde. Es zeugt von Vernunft, die europäische Einheit gegen den Ansturm nationalistischer Kräfte zu verteidigen. Eine solche Verteidigung wird jedoch zahnlos sein, wenn sie nicht von einer klaren Vision darüber begleitet wird, welche Form der EU es zu verteidigen gilt und welche Schritte zu setzen sind, um sicherzustellen, dass sich Europa im gewünschten Sinne ändert.
Änderungsvorschläge
Vernünftige Änderungsvorschläge liegen bereits auf dem Tisch. Vergangenen Dezember veröffentlichte eine Gruppe von Ökonomen um Thomas Piketty ein „Manifest zur Rettung Europas vor sich selbst“. Vorgeschlagen werden darin mehrere einfache Maßnahmen: eine Steuer auf Spitzeneinkommen und Vermögen, die demokratisch kontrolliert und für wichtige Investitionen zu verwenden wäre (etwa in der Bildung und Forschung, im Kampf gegen den Klimawandel und die soziale Ungleichheit). Ein Teil des Budgets würde an einzelne Regierungen verteilt, um eine aktivere Beteiligung vonseiten der nationalen Parlamente zu fördern. Das würde nach Meinung der Autoren auch dazu beitragen, den Steuersenkungswettlauf der einzelnen Länder zu stoppen.
Natürlich muss nicht jeder mit Pikettys Lösung einverstanden sein. Es ist jedoch etwas naiv zu glauben, dass die nationalistische Mobilisierung gegen die Europäische Union lediglich durch Warnungen über „nicht abschätzbare Folgen“ in Schach gehalten werden kann. All die, die Europa verteidigen wollen, müssen klar artikulieren, wie sie die Schwächen zu überwinden gedenken. Sich auf der richtigen Seite der Geschichte zu wähnen und Panik vor rechtsextremen „zerstörerischen Kräften“ zu verbreiten, wird im Vorfeld der EU-Wahlen – geschweige denn auf längere Frist – wohl nicht ausreichen.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 2. Mai 2019 auf Eurozine.
Die Langfassung des Kommentars von Ondřej Slačálek wurde erstmals auf Tschechisch in der Kulturzeitschrift A2, einer Partnerzeitschrift von Eurozine, veröffentlicht.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Ondřej Slačálek / Eurozine. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Prag, Tschechien. Foto: © iStock / Marcus Lindstrom
Mood of the Union
Die Serie Mood of the Union sammelt Artikel zur Wahl zum Europäischen Parlament aus allen 28 EU-Mitgliedstaaten. Die Serie wird von der ERSTE Foundation und dem National Endowment for Democracy unterstützt.
In der Serie The Mood of the Union berichten Redakteure des Magazins Eurozine über die Lage in der gesamten Europäischen Union und diskutieren mit Journalisten und Analysten die Einstellungen zu den EU-Wahlen und über das, was auf nationaler Ebene auf dem Spiel steht. Ziel der Serie ist es, über die Berichterstattung nationaler Medien hinaus, einen detaillierteren Einblick in die Stimmung vor Ort zu liefern. Die Serie wird von Agnieszka Rosner kuratiert und vom mitwirkenden Redakteur Ben Tendler editiert.