Eine Seidenstraße für den Balkan
China kauft sich in Südosteuropa ein – das hat auch politische Folgen, wie man in Serbien sehen kann.
29. Oktober 2018
Erstmals veröffentlicht
24. August 2018
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Im achten Stock eines altsozialistischen Plattenbaus in der serbischen Hauptstadt Belgrad sitzt der 69-jährige Imre Kern und erzählt von der Zukunft. Genauer gesagt: Er erzählt von seiner letzten Dienstreise nach Peking. „Die Hochgeschwindigkeitszüge sind phantastisch“, schwärmt Kern, „es fühlt sich an, als würden Sie fliegen!“ Er öffnet eine Fotogalerie auf seinem Laptop. „Schauen Sie, dieser Bahnsteig!“, ruft er begeistert, „so sauber wie ein Spiegel.“ Kern klickt sich durch Fotos von chinesischen Teppichen, Teigtaschen und Wolkenkratzern. Für einen Moment wirkt er wie ein Tourist, der gerade aus den Ferien zurückgekommen ist.
Kern ist Staatssekretär im serbischen Infrastrukturministerium. Ein in die Jahre gekommener Beamter, der im Jugoslawien der 1970er Jahre Chemietechnik studierte und später in der Sowjetunion ausgebildet wurde. Heute verhandelt Kern für die serbische Regierung Bauverträge in Milliardenhöhe. Es geht um Brücken, Autobahnen, Kraftwerke. Und um das „grösste Projekt in der Geschichte Serbiens“, wie Kern es nennt: eine Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen Belgrad und Budapest. „Gut, dass die Chinesen uns für die Verhandlungen Übersetzer zur Verfügung stellen“, sagt der Staatssekretär beiläufig, „denn die könnten wir uns gar nicht leisten.“
Große Kredite, kleine Investitionen
Ist China ein wichtiger Investor in den Ländern des Westbalkans? Nein, die EU bleibt mit Abstand größte Geldgeberin in der Region. 2015 investierten die EU-Mitgliedsländer in Serbien 21,8 Milliarden Euro, China nur 139 Millionen. Laut dem Berliner Institut Merics betragen die chinesischen Direktinvestitionen in die Region nicht einmal 5 Prozent derjenigen aus dem EU-Raum. China hat aber mittlerweile bei den Kreditvergaben die Nase vorne. Zwischen 2007 und 2017 vergab China an Serbien Kredite in der Höhe von 3 Milliarden Dollar. Nach Angaben des serbischen Infrastrukturministeriums haben die Projekte, die derzeit mit China verhandelt werden, einen Wert von 6 Milliarden Dollar. Zu den grössten Projekten zählen: der fertiggestellte Bau der Mihajlo-Pupin-Brücke über die Donau, im Bau befinden sich die Hochgeschwindigkeitsbahn zwischen Belgrad und Budapest, der Ausbau des Wärmekraftwerks in Kostolac und eine Autobahn an die montenegrinische Küstenstadt Bar. Chinas grösste Direktinvestition in Serbien war 2016 der Kauf des Stahlwerks Smederevo für 46 Millionen Euro.
China plant, den griechischen Hafen Piräus – wo der chinesische Reeder Cosco Pacific eine 35-jährige Konzession für die Modernisierung und den Betrieb von zwei Container-Frachtterminals erhalten hat – in eine regionale Drehscheibe für den Handel mit Europa zu verwandeln. Foto: Ⓒ Medin Halilovic / Anadolu Agency / Getty
China hat den Balkan für sich entdeckt
Eine Region, die seit dem Zerfall Jugoslawiens versucht, zum Rest Europas aufzuholen. Mehr als zwanzig Jahre nach dem Krieg fehlt es den Ländern immer noch an Mitteln, um die marode Infrastruktur voranzubringen. Das macht den Balkan zum idealen Einfallstor nach Europa für Chinas außenpolitisches Prestigeprojekt: die neue Seidenstraße. Mit diesem Infrastrukturprogramm will Staatspräsident Xi Jinping neue Handelsrouten zwischen Asien, Afrika und Europa erschließen. Den Ländern, die entlang der Seidenstraße liegen, stellen chinesische Banken Kredite zur Verfügung. In einer Zeit, in der die EU vor allem mit sich selber beschäftigt ist, kommt Pekings Jahrhundertprojekt den Ländern Südosteuropas gerade recht. Im griechischen Piräus-Hafen entsteht mit chinesischer Hilfe der am schnellsten wachsende Containerterminal Europas. In Bosnien werden mit chinesischen Krediten Kraftwerke gebaut und in Montenegro Autobahnen. In Albanien haben chinesische Firmen eine Konzession für den Flughafen von Tirana erworben und Ölfelder im Wert von 450 Millionen Euro gekauft. Mazedonien soll zu einem Brückenkopf ausgebaut werden, der den Piräus-Hafen ans europäische Schienennetz anbinden soll. Und dann ist da noch die Hochgeschwindigkeitsbahn, die uns zurück in das Büro von Imre Kern führt.
Zwischen der serbischen und der ungarischen Hauptstadt soll die Fahrtzeit von neun auf zweieinhalb Stunden verkürzt werden. Langfristig könnte die Seidenstraße durch den Balkan zur wichtigsten Transportroute für asiatische Güter nach Mitteleuropa werden. Verlässt ein Containerschiff den Hafen von Athen in Richtung Hamburg oder Rotterdam, dann muss es derzeit einen Umweg über die Straße von Gibraltar nehmen und ganz Spanien und Frankreich umschiffen. Die Route über Land ist deutlich schneller. „Und Zeit ist für Schifffahrtsunternehmen Geld“, sagt Nektarios Demenopoulos, Sprecher der Hafengesellschaft Piraeus Port Authority, die seit 2016 mehrheitlich der China Ocean Shipping Company (Cosco) gehört. „Wir wollen die Anzahl an Zügen, die über den Balkan fahren, signifikant steigern“, so Demenopoulos.
In Brüssel sieht man das wirtschaftliche Engagement Chinas mit Misstrauen. Die EU-Kommission hat für den ungarischen Abschnitt der Hochgeschwindigkeitsbahn ein Verfahren eingeleitet, um die Vergabe von Baukonzessionen zu überprüfen. Die Chinesen bezeichnen das Vorgehen als Win-win-Strategie. Darunter ist eine Politik zu verstehen, von der alle Beteiligten profitieren sollen.
China verspricht günstige Kredite und schnelle Verhandlungen. Im Gegenzug akzeptieren die Empfänger, dass chinesische Baufirmen zum Zug kommen. Dabei stellt sich eine Frage, die derzeit noch niemand wirklich beantworten kann: Erkauft sich ein autoritärer Einparteienstaat Einfluss in einer Region, deren Länder Anwärter auf eine EU-Mitgliedschaft sind?
„China hält Europa den Spiegel vor, indem es eine klare Strategie aus einer Hand verfolgt und den Balkan in die globale Seidenstrasse einbettet.“
„Ja, die Gefahr besteht“, sagt Jacopo Maria Pepe. Er arbeitet für die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, einen Think-Tank, der unter anderem die deutsche Bundesregierung berät. Noch sei das chinesische Investitionsvolumen im Vergleich zu westlichen Staaten klein. Doch langfristig sei Europa als Ordnungsmacht herausgefordert. „China hält uns den Spiegel vor“, sagt Pepe, „indem es eine klare Strategie aus einer Hand verfolgt und den Balkan in die globale Seidenstrasse einbettet.“ Schaffen chinesische Investitionen neue politische Abhängigkeiten? Im hochverschuldeten Griechenland, wo Cosco die Mehrheitsanteile am Piräus-Hafen erworben hat, zeigen sich erste Anzeichen dafür. Seit Jahren haben die EU-Mitgliedsländer geschlossen Klage beim Uno-Menschenrechtsrat über die Lage in China eingebracht. 2017 blockierte Griechenland erstmals die Peking-kritische Stellungnahme. Chinas Aussenminister Wang Yi applaudierte: Griechenland habe die richtige Position vertreten. China als Spaltpilz? Der serbische Staatssekretär Imre Kern kann darüber nur den Kopf schütteln. „Unser Weg ist ganz klar der nach Europa“, sagt er. Dabei gleiten seine Finger über eine Goldmünze, die auf seinem Schreibtisch thront wie ein Pokal. Bekommen hat er sie von dem Bauunternehmen China Road and Bridge Corporation (CRBC). Ein Staatsunternehmen, das der Stadt Belgrad in weniger als drei Jahren eine knapp 2 Kilometer lange Brücke über die Donau gebaut hat. Es war der Auftakt der chinesischen Bauwelle in Serbien. Präsident Aleksandar Vucic bezeichnete die Brücke bei der Eröffnung als „Monument für die Freundschaft der beiden Länder“.
Kein Land des Westbalkans hat stärker von chinesischen Geldern profitiert als Serbien – eines der ärmsten Länder Europas. Wer mehr über Chinas Strategie herausfinden will, muss hierherkommen. Doch offenbar gehört zu dieser Strategie auch Schweigen. Mehrere Anfragen an das Stahlwerk in Smederevo, das 2016 von einer chinesischen Firma aufgekauft wurde, bleiben über Wochen unbeantwortet. Dann kommt die Absage. Dabei soll Smederevo eine Erfolgsgeschichte sein. Chinas Staatspräsident Xi Jinping reiste persönlich an, um vor serbischen Arbeitern eine Rede zu halten. Chinas staatliche HBIS Group hatte Smederevo im selben Jahr für 46 Millionen Euro aufgekauft. 5000 Arbeitsplätze wurden gesichert. Weder die Bank of China noch die chinesische Botschaft in Belgrad wollen dazu ein Statement abgeben. Transparenz? „Fehlanzeige“, sagt ein Kenner des serbischen Wirtschaftsmarktes, der über seine Erfahrungen mit chinesischen Investoren sprechen möchte – allerdings nur anonym. Das Treffen mit dem Insider zeigt, dass es in der Branche heikel sein kann, Kritik an China zu äussern. Vor Veröffentlichung des Artikels ruft seine Sprecherin mehrmals an und bittet, sämtliche Hinweise auf den Insider aus dem Text zu löschen: Berufsbezeichnung, Bürolage, Alter. Hat der Mann Angst, dass er für chinesische Unternehmen zum roten Tuch wird, wenn er Kritik äussert? Seine Sprecherin am Telefon lacht verlegen.
Der Insider empfängt in einem klimatisierten Sitzungssaal seines Büros in Belgrad. Zu Beginn legt er eine Liste mit Chinas grössten Bauprojekten auf den Tisch. Vor jene, die bereits stehen, hat er ein Häkchen gesetzt. Der Rest sei Zukunftsmusik. Zum Beispiel ein Industriepark in Belgrad, den die Stadtregierung mit einem 300-Millionen-Euro-Kredit zu einer Art „Silicon Valley Serbiens“ ausbauen will. „Das Grundstück ist reserviert, es gibt eine Arbeitsgruppe, aber die Verhandlungen laufen unter Ausschluss des privaten Sektors“, sagt der Insider. Das sei ein ganz eigener „Zirkel“, in den man nur sehr schwer hineinkomme. Bei Deals würden sogenannte Pakete angeboten: „Die Chinesen bringen Geld, und sie bringen Firmen. Sogar das Essen für die Arbeiter wird importiert.“ Später, beim Italiener um die Ecke, holt der Mann belustigt sein Smartphone aus der Tasche, während er auf seinen Risotto wartet. Er möchte ein Video zeigen, das er letzte Woche in der amerikanischen Late-Night-Show des britischen Komikers John Oliver gesehen hat. Darin macht sich Oliver über ein Kampagnenvideo lustig, mit dem China die Seidenstrasse bewirbt. Man sieht fröhliche Kinder Ukulele spielen und Hand in Hand durch eine kunterbunte Spielzeugwelt wandern. „Wir reissen Barrieren ein. Wir schreiben Geschichte“, singen die Kinder. Zwei Wochen nachdem die Late-Night-Show online gegangen ist, meldet die BBC, dass die staatlichen Zensoren John Oliver aus dem chinesischen Internet gelöscht hätten.
Die serbischen Projekte auf der Liste waren Ende 2017 laut Ministerpräsidentin Ana Brnabic 6 Milliarden Dollar wert. Das ist sechs Mal so viel, wie die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) in einem Jahr im gesamten Westbalkan investiert. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. Serbien muss die chinesischen Gelder zurückzahlen. „Was oft mit Direktinvestitionen verwechselt wird, sind in Wirklichkeit sogenannte ‘soft loans’“, sagt Vesko Garcevic – ehemaliger Botschafter Montenegros in Brüssel und Wien. Seine These: „China ist von allen geopolitischen Akteuren auf dem Balkan der leiseste, aber der effektivste.“ Peking habe es in wenigen Jahren geschafft, „strategische Partnerschaften“ mit den Regierungen der Region aufzubauen, erzählt er bei einem Skype-Interview. Seit 2012 hält Peking seinen eigenen Wirtschaftsgipfel namens „16+1“ ab. Geladen sind Staatschefs aus 16 Ländern Ost- und Südosteuropas. Anfang Juli fand der Gipfel zum siebten Mal statt – diesmal in Sofia. „Man munkelt“, so Garcevic, „dass Bulgarien grösseres Interesse hatte, den chinesischen 16+1-Gipfel abzuhalten als den EU-Gipfel im Mai.“ Schafft sich China damit exklusive Verhandlungsformate? Zsuzsanna Hargitai, die neue Direktorin der EBRD für den Westbalkan, gibt sich diplomatisch. Sie hoffe, dass der Gipfel politische Impulse zur verstärkten Zusammenarbeit zwischen den Ländern bringe. Gleichzeitig ruft sie China zu einer stärkeren Einbeziehung des Privatsektors auf.
Neu ist die Allianz zwischen Serbien und China nicht. In den 1990er Jahren war China ein heftiger Kritiker des Nato-Bombardements und unterstützte das Milosevic-Regime – das es als eine letzte Bastion des Kommunismus in Europa ansah. Milosevic liess das Visaregime lockern und errichtete eine „Chinatown“ in Belgrad – bis heute als „Blok 70“ bekannt. Inmitten von Wohnblöcken steht die heruntergekommene Markthalle aus den 1990er Jahren neben einer neuen Shoppingmeile. Im Inneren verkaufen chinesische Händler neonfarbene Bikinis, gefälschte Markenturnschuhe, blinkende Smartphone-Hüllen und anderen Billigkram. Draussen unter einer Plasticplane verkauft ein junger Chinese Gemüse, Glasnudeln und Sojasauce. Er versteht kein Englisch und übersetzt die Frage, was er hier mache, mit seinem iPhone. Nach ein paar Sekunden poppt die Antwort auf seinem Display auf. „China ist sehr modern und entwickelt sich schnell! Das wollen wir an Serbien weitergeben. Wir sollten gemeinsam Neues entdecken!“ Irgendwie erinnert die Antwort an das Seidenstrassen-Video, in dem Kinder Ukulele spielen.
Erstmals publiziert am 24. August 2018 auf nzz.ch.
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Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Ist Montenegros Autobahn eine Schuldenfalle oder ein Weg zum Erfolg? Das am 22. September 2018 aufgenommene Foto zeigt die Baustelle der Moracica-Brücke, der ersten Autobahn Montenegros, etwa 14 km nördlich der Hauptstadt Podgorica. Foto: © Wang Huijuan Xinhua / Eyevine / picturedesk.com