“Die Zukunft der Roma ist Bildung.”
Roma-Kinder sind in slowakischen Schulen einer zunehmenden Segregation ausgesetzt – mehr als in jedem anderen europäischen Land.
15. April 2020
Erstmals veröffentlicht
27. November 2019
Quelle
Trotz Antidiskriminierungsgesetzen werden an slowakischen Schulen viele Roma-Kinder von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern getrennt, wodurch sich der Teufelskreis der Marginalisierung fortsetzt.
Dezider Sandor stand auf einer mit Schlaglöchern durchsetzten Straße in einer Roma-Siedlung in der ostslowakischen Stadt Trebišov und deutete auf eine Gruppe von vorbeigehenden Kindern.
„Die Zukunft dieser Roma liegt in der Bildung“, meinte der Leiter einer Roma-Nachbarschaftswache. Viele der Kinder, die entlang der mit Müll übersäten Straße barfuß durch den Morast wateten, werden jedoch niemals eine Schule gemeinsam mit Nicht-Roma-Kindern besuchen oder eine höhere Ausbildung absolvieren. Laut einer Studie der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte aus dem Jahr 2016 werden 62 Prozent der Roma-Kinder in der Slowakei in getrennten Klassen oder Schulen unterrichtet. Das ist mehr als in jedem anderen europäischen Land.
In Trebišov, einer Stadt mit 23.000 Einwohnern, gleicht das Roma-Viertel eher einem Ghetto als einer Siedlung. Mit über 6.000 Menschen zählt es landesweit zu einer der größten Roma-Gemeinschaften. Es herrschen entsetzliche Zustände. Die meisten Menschen leben in baufälligen Holzhütten mit Blechdächern oder einsturzgefährdeten Mietskasernen. Nur wenige Familien haben fließendes Wasser oder einen Kanalanschluss. Die Arbeitslosigkeit grassiert.
Diskriminierung ist gemäß den nationalen Gesetzen und internationalen Konventionen nicht zulässig. Nach einem Präzedenzfall gegen eine Schule in der Ortschaft Šarišské Michaľany im Nordosten des Landes wurde die Segregation von Schülerinnen und Schülern aufgrund ihrer ethnischen Herkunft 2012 durch ein slowakisches Regionalgericht ausdrücklich verboten. Die Schule wurde angewiesen, die Kinder unverzüglich zu integrieren. Damals hatte es den Anschein, als könnte sie zu einem Vorbild für andere Problemschulen im Land werden. Sieben Jahre später werden Roma-Kinder laut Bildungsexperten nach wie vor diskriminiert. In einem anderen Dorf nahe Šarišské Michaľany wird derzeit eine neue Sonderschule gebaut.
Indes hat die Europäische Kommission der Slowakei aufgrund der Verletzung von EU-Vorschriften mit rechtlichen Schritten gedroht, sollte die Angelegenheit nicht bald gelöst werden. „Das ist ein riesiges Problem, besonders in der Ost- und Mittelslowakei“, erklärte Vlado Rafael, Direktor der in Bratislava ansässigen Menschenrechtsorganisation EduRoma gegenüber BIRN. „Aufgrund der Segregation werden die Kinder nicht nur diffamiert und erhalten eine schlechtere Ausbildung, langfristig führt dies auch zur Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen in diesen Regionen. Die Schule sollte ein Ort sein, an dem diese Beziehungen gepflegt werden.“
„Aufgrund der Segregation werden die Kinder nicht nur diffamiert und erhalten eine schlechtere Ausbildung, langfristig führt dies auch zur Zerstörung der zwischenmenschlichen Beziehungen in diesen Regionen. Die Schule sollte ein Ort sein, an dem diese Beziehungen gepflegt werden.“
Elena Kriglerová, Soziologin am Zentrum für Ethnizitäts- und Kulturforschung in Bratislava, ist der Ansicht, dass sich das Problem im Laufe der Jahre sogar noch verschärft habe. „Die Segregation ist extrem stark verwurzelt und wird mittlerweile sogar legitimiert“, meinte sie und fügte hinzu, dass Schulen, Lehrkräfte und Eltern die Prinzipien der Diskriminierung häufig nicht mehr verstehen.
Angaben von Bürgerrechtsgruppen zufolge werden Roma-Kinder in vielen Fällen automatisch in Sonderschulen angemeldet. Sollten sie dennoch in regulären Grundschulen landen, trennt man sie häufig von ihren anderen Mitschülerinnen und Mitschülern. Zuweilen ergibt sich eine Trennung auch von selbst, wenn etwa eine Schule gezielt in einem nur von Roma bewohnten Bezirk gebaut wird. Und dann gibt es Fälle, wo Nicht-Roma-Eltern Druck auf die Schulen ausüben, damit diese Roma von anderen Kindern trennen, oder sie melden ihre Kinder in größeren Schulen in der Stadt an.
Obwohl Schulen und Institutionen in der Slowakei keine Daten über die ethnische Zugehörigkeit erheben dürfen, wurde in den letzten Jahren von zahlreichen Organisationen wie der Europäischen Kommission untersucht, wie Segregation entsteht und wie sie sich auf die Gesellschaft auswirkt. Seitens des slowakischen Bildungsministeriums und des Parlaments wird an verschiedenen Maßnahmen zur Aufhebung der Segregation gearbeitet. Experten sind jedoch der Ansicht, dass diesbezüglich noch viel zu tun sei. „Das Schlimmste ist die Normalisierung“, meinte die Soziologin Kriglerová. „Diese tiefe Überzeugung, dass es im Grunde richtig ist.“
„In keine Schublade passen“
Am Rande der Roma-Siedlung von Trebišov tummeln sich Menschen jeden Alters rund um die örtliche Schule. Mit ihrem fröhlichen orangefarbenen Anstrich und den herbstlich inspirierten Dekorationen an den Fenstern wirkt sie wie jede andere Grundschule – sieht man von den hoch aufragenden Mauern und der Tatsache ab, dass alle Schülerinnen und Schüler Roma aus dem Armenviertel sind. Auch wenn es weder eine Turnhalle noch einen Spielplatz gibt, bemüht sich das Lehrpersonal nach besten Kräften, 980 Kinder im Alter von sechs bis 15 Jahren in drei Gebäuden zu unterrichten.
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Marek Demeter, ein an der Schule tätiger Sozialpädagoge, wuchs in der Siedlung auf. Er selbst ging hier vier Jahre lang zur Schule, bevor er an eine andere Schule in der Stadt wechselte.
Er war der einzige aus seiner Gemeinde, der eine universitäre Ausbildung abschloss und einen Doktortitel in Sozialarbeit erwarb. „Unsere Eltern gingen nie in getrennte Klassen“, erzählte er. „Sie waren alle integriert. Und das war damals kein Problem. Für den Aufbau von Beziehungen ist diese Trennung wirklich schlecht.“
Martin Farbar, der stellvertretende Direktor der Schule, zeigte BIRN das neueste Schulhaus. Er musste dafür einen Umweg rund um die Siedlung machen, da die Straßen aufgrund der starken Regenfälle überflutet waren.
Das Gebäude ist von einer hohen Betonmauer umgeben, die die Roma-Gemeinschaft von den Häusern und Geschäften der Nicht-Roma trennt. Ein Tor verbindet die beiden Welten, das Einheimischen zufolge jedoch nachmittags oft von außen verschlossen ist.
„Das ist doch nicht normal“, sagte Farbar. „Wir haben uns einfach so sehr daran gewöhnt, dass es uns mittlerweile normal vorkommt.“ Farbar saß in seinem Büro, hinter ihm die slowakische und die EU-Flagge. Rings um ihn stapelten sich Hunderte von Büchern, die für die Kinder bestimmt waren. Die Gemeinschaften seien gespaltener denn je.
„Hier im Osten verändern sich ganze Schulen“, meinte er. „Dorfschulen werden zu reinen Roma-Schulen und die Schulen in der Stadt sind für die Mehrheitsgesellschaft.“
Farbar ist selbst ein Rom. Er habe, wie er erzählte, aber immer in einer integrierten Gemeinschaft in einem Dorf etwa 20 Kilometer von Trebišov entfernt gelebt. „In den Schulen, die ich besuchte, wurden wir alle gemeinsam unterrichtet“, sagte er. „Wir saßen nebeneinander und sind zusammen aufgewachsen.“ Der Preis der Segregation sei Entfremdung und Diskriminierung, fügte er hinzu. „Wo sonst können sie [junge Menschen verschiedener Ethnien] sich treffen, wenn nicht in der Schule?“ fragte er. „Wenn das nicht passiert, dann begegnen sie einander als 18-Jährige, mit vorgefassten Meinungen, Vorurteilen und Stereotypen, und das gibt Probleme.“
„Hier im Osten verändern sich ganze Schulen. Dorfschulen werden zu reinen Roma-Schulen und die Schulen in der Stadt sind für die Mehrheitsgesellschaft.“
In einer ersten Klasse half Farbar einem Mädchen mit lockigen Haaren, das in einer der hinteren Reihen saß, den Buchstaben S auf ihrem Arbeitsblatt zu finden und eine Sonne gelb auszumalen. Wie viele ihrer Klassenkameraden hatte sie keine Schuhe und trug nur Socken an den Füßen. Neben ihr lag eine alte, zerschlissene Federmappe.
Farbar zufolge kämpfe die Schule mit anderen Herausforderungen als „normale“ Schulen in der Slowakei – und es sei mitunter schwierig, diese Probleme den Behörden in der Hauptstadt Bratislava zu erklären. „Das slowakische Schulsystem basiert auf einem Schubladendenken“, sagte er. „Wir passen aber in keine Schublade.“
Auch wenn „Roma-Fragen“ von populistischen Politikern häufig hochgespielt werden, haben die Unterschiede in der Bildung laut Experten nichts mit der ethnischen Zugehörigkeit, sehr wohl aber mit Armut zu tun. Landesweit im Februar durchgeführte Tests mit Fünftklässlern ergaben, dass Kinder aus sozial benachteiligten Verhältnissen in allen Bereichen vergleichsweise schlechter abschneiden. Während die Schülerinnen und Schüler in Bratislava bei den Mathe-Tests durchschnittlich 78 Prozent erreichten, waren es bei Kindern aus armen Familien im Durchschnitt nur 23 Prozent.
Ein im Januar veröffentlichter Bericht des Value-for-Money-Ausschusses des Finanzministeriums kam zu dem Schluss, dass Armut hauptverantwortlich für das schlechte Abschneiden bei Prüfungen, das Fernbleiben vom Unterricht und mangelnde höhere Schulbildung ist, wodurch die Berufschancen begrenzt werden.
Experten sind der Ansicht, dass selbst wenn die Bildungspolitik auf dem Papier gut aussieht, sie in der Praxis nicht immer umgesetzt wird. Und während viele dem Bildungsministerium dafür die Schuld geben, heißt es aus dem Ministerium, dass Schulen und die Gemeinden, die sie betreiben, mehr Verantwortung für die Bekämpfung der Segregation übernehmen sollten. „Eine Vielzahl von Menschen muss sich an der Lösung dieses Problems beteiligen“, so Farbar. „Aber nicht erst in zehn Jahren. Morgen!“
„Bei null anfangen“
Farbars Schule in Trebišov schneidet bei offiziellen Testergebnissen schlecht ab, was seiner Meinung nach die Zustände in der Siedlung wiederspiegle. „Wir müssen bei null anfangen“, sagte er. „Wir sind dort, wo der Rest der Slowakinnen und Slowaken vielleicht vor 100 Jahren war.“ Und: „Man kann diese Kinder nicht in andere Schulen der Stadt integrieren. Da muss es zuerst Veränderungen in der Siedlung geben.“
Experten glauben, dass man bei der Bekämpfung der Segregation auch bei den Lehrkräften ansetzen muss, die häufig Teil des Problems sind. „Die Lehrer verfolgen denselben Ansatz wie die Kommunisten damals: Jeder verdient dasselbe, niemand bekommt etwas extra“, so EduRoma-Direktor Rafael. „Und bis heute gibt es niemanden, der ihnen erklären würde, dass das Gleichheitsprinzip nicht bedeutet, dass alle gleich sind.“
Er argumentierte, dass Roma-Kinder aus armen Familien in den ersten Schuljahren besonderer Aufmerksamkeit bedürfen, damit sie das gleiche Niveau erreichen wie andere Schülerinnen und Schüler. Viele der Kinder sprechen bei Schuleintritt wenig bis gar kein Slowakisch, da zu Hause nur Romanes gesprochen wird. Und viele kommen aus einem häuslichen Umfeld, in dem sie nur wenig Unterstützung beim Lernen bekommen.
Obwohl Schulen für Schülerinnen und Schüler aus sozial benachteiligten Gemeinden höhere Zuschüsse erhalten, sind viele Lehrkräfte laut Expertenmeinung nicht dafür ausgebildet, auf eine hohe Anzahl von Kindern mit besonderen Bildungsbedürfnissen im Unterricht einzugehen. „Lehrerinnen und Lehrer sind überhaupt nicht darauf vorbereitet, in einem vielfältigen Umfeld zu arbeiten“, meinte die Soziologin Kriglerová. „Ihnen wird vermittelt, die Klasse als eine homogene Masse zu sehen und die Schülerinnen und Schüler nur in gute und schlechte einzuteilen.“
“Lehrerinnen und Lehrer sind überhaupt nicht darauf vorbereitet, in einem vielfältigen Umfeld zu arbeiten. Ihnen wird vermittelt, die Klasse als eine homogene Masse zu sehen und die Schülerinnen und Schüler nur in gute und schlechte einzuteilen.”
– Elena Kriglerová, Soziologin
Für Roma-Experte Rafael ist das System nicht in der Lage, auf Kinder unterschiedlicher Niveaus einzugehen. „Wir neigen dazu, die begabten Roma-Kinder zu unterstützen, aber um ehrlich zu sein, wer fördert die weniger begabten?“, fragte er.
All das führt dazu, dass viele Roma-Kinder in Sonderschulen statt in regulären Grundschulen landen. Die hohe Zahl von Roma-Schülerinnen und Schülern in der Sonderpädagogik ist einer der Gründe, warum die Europäische Kommission damit droht, die Slowakei vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anzuklagen. Die benachbarte Tschechische Republik verlor 2007 einen ähnlichen Fall und leitete daraufhin eine Bildungsreform ein.
Eine Anklage der Slowakei vor dem Europäischen Gerichthof könnte laut Rafael zu einer Verbesserung der Situation beitragen. „Denn dann müssten die Menschen zuhören und etwas ändern“, meinte er. „Wenn es zu keiner Anklage kommt, werden wir all das verlieren, was für eine Veränderung des Systems notwendig ist.“ Während viele Bildungsexperten skeptisch sind, dass Gerichte Veränderungen erzwingen können, sind sich die meisten über die Notwendigkeit einer Reform einig. „Wenn es keinen neuen Plan gibt, wird es keine zehn Jahre dauern, bis das Bildungssystem hier vollständig segregiert ist“, so Farbar.
Original auf Englisch. Erstmals publiziert am 27. November 2019 auf Reportingdemocracy.org, einer journalistischen Plattform des Balkan Investigative Reporting Network.
Aus dem Englischen von Barbara Maya.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt: © Miroslava German Širotníková / Reporting Democracy. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Erstklässler in einer reinen Roma-Schule in Trebišov, Slowakei. Foto: © BIRN / Miroslava German Širotníková