Die gespaltene Opposition
Wie oft können die politischen Eliten im Kosovo noch aufatmen?
29. März 2018
Erstmals veröffentlicht
16. Februar 2018
Quelle
In wenigen Jahren ist Vetëvendosje zur stärksten Kraft im Kosovo aufgestiegen. Jetzt, wo eine Regierungsbeteiligung zum Greifen nahe ist, haben sich ihre Abgeordneten zerstritten. Über den Höhenflug und Fall einer linksnationalistischen Bewegung.
Unverputzte Ziegelsteinhäuser und Betongerippe ziehen am Fenster vorbei. Die meisten haben keinen Zaun, keine Einfahrt, keinen Garten. Sie stehen auf Äckern und Wiesen unweit der Hauptstraße, an der sich Autowerkstatt an Autowerkstatt reiht. Der Mann, der gedankenverloren aus dem Fenster blickt, liebt es, sich blumige Metaphern auszudenken. Früher, als Student mit langer, zotteliger Mähne und karierten Flanellhemden, war das anders. Da brüllte er Parolen in ein Megaphon, je plakativer desto besser, auf der gerunzelten Stirn eine Zornesfalte. Heute trägt er Slim-Fit-Anzüge wie Kanadas Regierungschef Justin Trudeau und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Seine Haare sind kurz und von ersten weißen Strähnen durchzogen. Der Revoluzzer von damals gibt sich staatsmännisch. Wenn er spricht, dann macht er lange Pausen zwischen den Sätzen, um nachdenklich und philosophisch zu wirken. Er zitiert Judith Butler und Sigmund Freud. Albin Kurti, der lauteste Oppositionelle des Kosovo, donnert nicht, er haucht die Sätze, als wären sie zerbrechlich. „Diese Häuser da draußen“, sagt Kurti, „stehen sinnbildlich für das ganze Land. Wir haben ein Dach und ein Fundament, aber dazwischen fehlt etwas.“
Albin Kurti ist der Kopf einer Partei, die es in wenigen Jahren geschafft hat, zur stärksten Kraft des Kosovo aufzusteigen. Der Name ist gleichzeitig ihr politisches Programm. Vetëvendosje bedeutet auf Deutsch Selbstbestimmung. Bürgernah, bodenständig und antielitär will die Bewegung sein, die Kurti 2004 ins Leben gerufen hat. Viele ihrer Anhänger sind Studenten und von der korrupten Elite, die den Kosovo seit Ende des Krieges 1999 regiert, enttäuscht. Kosovo, ein 1,8-Millionen-Einwohnerland am Balkan, hat vor genau zehn Jahren seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt, dessen Provinz es zur Zeit Jugoslawiens war. Ende der Neunzigerjahre wurde der mehrheitlich von Albanern bewohnte Kosovo von einem blutigen Krieg erschüttert, der mittels NATO-Bombardements beendet wurde. Obgleich es im Kosovo nur so von ausländischen Soldaten, Richtern und Staatsanwälten wimmelt und obgleich hier nach dem Krieg tausende Nichtregierungsorganisationen aus dem Boden geschossen sind, bleibt das Land das ärmste am Westbalkan. Viele Bürger fragen sich heute, wo die Milliarden geblieben sind, die als Hilfsgelder flossen. Unsummen verschwanden in den Taschen korrupter Politiker und ihrer jeweiligen Klientel. Oppositionsführer Kurti bezeichnet die Regierungsparteien deswegen als „Diebe“. Die internationale Gemeinschaft, die versprach, das Land in eine bessere Zukunft zu führen, nennt er „Kolonialherren“. Und den Nachbarn Serbien, der den Kosovo bis heute nicht anerkennt, nennt Kurti eine „Krake“, die mit ihren Tentakeln tief in sein Land hineingreife.
Mit solchen populistischen Metaphern stieg Kurti zum Politiker mit den meisten Stimmen im Kosovo auf. Eigentlich hätte er Premierminister werden können. Doch nachdem Koalitionsgespräche scheiterten, kratzte ein Parteienbündnis (AAK, PDK, Nisma) aus ehemaligen Rebellenführern – auch als „Kriegsflügel“ bezeichnet – mit Müh und Not eine knappe Regierungsmehrheit zusammen. Am Ende blieb Vetëvendosje – die stimmenstärkste Partei – in der Opposition. Der „Kriegsflügel“ bildete eine Regierung aus 17 Parteien, 22 Ministern und 70 Vizeministern. Dieser aufgeblähte Apparat ist im Grunde das Beste, was Vetëvendosje hätte passieren können, da ihre Anhänger stets einen schlanken Staat gefordert haben. Doch ausgerechnet jetzt, wo Vetëvendosje sich selbst auf die Schulter klopfen könnte, zerfällt die Bewegung. Immer mehr Mitglieder verlassen die Partei – zuletzt Pristinas Bürgermeister Shpend Ahmeti. Er galt als einer der angesehensten Politiker im ganzen Land. Inzwischen hat Vetëvendosje fast die Hälfte ihrer Abgeordneten verloren. Die 32 Sitze im Parlament sind auf 19 zusammengeschrumpft. All das ist in weniger als zwei Monaten passiert.
Warum so viele Abgeordnete gehen und wann sie ihre eigene Partei gründen, ist derzeit noch unklar. Der Politikwissenschaftler Albert Krasniqi vom „Kosovo Democratic Institute“ (KDI) hält jedoch fest, dass alle Rücktritte eines gemeinsam haben. „Sie alle werfen Albin Kurti einen autokratischen Führungsstil vor“, so Krasniqi. Arber Zaimi, Mediensprecher von Vetëvendosje, weist diesen Vorwurf zurück: „Es geht bei den Austritten nicht um substanzielle Kritik an der Bewegung, sondern um Machtspiele. Vetëvendosje hat nie abweichende Meinungen ausgeschlossen oder unterdrückt.“ Albin Kurti selbst sprach vor einem Monat von der „schwersten Krise der Partei seit Gründung“. Damals schwang in seiner Stimme noch Hoffnung mit, dass jene, die ausgetreten sind, zurückkommen könnten.
„Demokratie kann man nicht importieren“
Einige Tage vor der zehnten Unabhängigkeitsfeier des Kosovo am 17. Februar steht Kurti am Fenster seines Büros, gelegen im Diplomatenviertel der Hauptstadt Pristina. Es ist so schlicht eingerichtet wie sein neuer Stil als Anzugträger: ein aufgeräumter Schreibtisch, ein Glastisch mit Ledersesseln, am Boden eine Kaffeemaschine, angeschlossen an eine Steckdose. Kurti hat die Hände in den Hosentaschen vergraben und sagt – nachdenklich wie immer: „Ich glaube nicht, dass man einen Staat von außen aufbauen kann. Demokratie kann man nicht importieren.“ Im Kosovo gibt es keinen Politiker, der die Europäische Union – die im Kosovo unter anderem mit der Rechtsstaatsmission EULEX präsent ist – derart scharf angreift wie Kurti. EULEX wurde 2008 entsandt, um mit der Korruption im Kosovo aufzuräumen und steht heute, zehn Jahre später, selbst unter Korruptionsverdacht. Das hat das Image der EU schwer beschädigt. Und die Reputation von Kurti, der stets gegen die internationale Gemeinschaft Politik gemacht hat, gestärkt. Kurti hat aber nicht nur ein Problem mit EULEX, sondern auch mit der Tatsache, dass Kosovo unter der Aufsicht Brüssels einen sogenannten Normalisierungsdialog mit Serbien führt. Kurti glaubt, dass dieser nur Nachteile für den Kosovo bringt. Ein Beispiel ist die Errichtung eines serbischen Gemeindeverbandes. Demnach sollen Gebiete im Kosovo, die mehrheitlich von Serben bewohnt sind, unter serbische Verwaltung gestellt werden. Während die Regierungsparteien zu einem solchen Kompromiss bereit sind, warnt Kurti unaufhörlich von einem „Staat im Staat“.
Mit seiner Boykottpolitik hat sich Kurti in Brüssel keine Freunde gemacht. Seine Forderung, ein Referendum über eine Vereinigung Kosovos mit Albanien abzuhalten, sorgt bei ausländischen Diplomaten für Kopfschütteln. „Eine Vereinigung Kosovos mit Albanien gehört zu den Worst-Case-Szenarien für die Friedensordnung am Balkan“, sagt etwa Lukas Mandl, der für die österreichische Volkspartei (ÖVP) seit November 2017 im EU-Parlament sitzt. Die Verhandler in Brüssel und Washington wollen Stabilität und Gewissheit um jeden Preis. Kurti hingegen will die Privilegien beschneiden, die ausländische Bürokraten seit bald zwanzig Jahren im Land genießen. Was er vorhat, wenn er an der Macht ist, weiß niemand so genau. Obwohl Vetëvendosje seit 2004 existiert, wissen viele noch immer nicht, wofür die Bewegung genau steht. Auf den ersten Blick wirkt die Partei wie ein Widerspruch. Links und nationalistisch zugleich – wie kann das sein? Fahnenmeer und patriotische Parolen – das erinnert an den Wahlkampf rechtspopulistischer Parteien wie der AfD oder der FPÖ. Wie passt all das mit einer sozialdemokratischen, liberalen Bewegung zusammen? Einerseits hat Vetëvendosje Ähnlichkeiten mit der 68er-Bewegung – also den antikolonialen, linken Bürgerrechtsbewegungen, die in den USA gegen Krieg und Unterdrückung auf die Straße gingen. Andererseits neigen Vetëvendosje-Anhänger zu gewalttätigen Protesten und Ausschreitungen. Mit friedlicher Hippie-Kultur hat das nichts zu tun.
Eine Flagge ohne Geschichte
„Vetëvendosje hat Menschen mit verschiedenen ideologischen Ansichten akzeptiert. Diese Newcomer haben zu einem unkontrollierten Wachsen der Partei geführt“, sagt Krasniqi. Daran, so der Politikwissenschaftler, sei die Partei am Ende zerbrochen. Manche wollten den demokratischen Sozialismus, andere wollten Großalbanien. Manche wollten Fundamentalopposition und gewalttätige Proteste. Andere sehnten sich nach mehr Kooperationsbereitschaft, Pragmatismus und Handschlagqualität. Off-Record sprechen Beobachter und Diplomaten von Kurti als „Sturkopf“, der keine Kompromisse eingehen könne. Jetzt, wo die Kritik innerhalb der Bewegung wächst, muss sich Kurti die Frage stellen, wer er sein möchte. Der festgefahrene Ideologe der letzten Jahre? Oder der pragmatische, kompromissbereite Staatsmann?
„Nicht wir sind radikal, die Zustände im Kosovo sind es.“
Ein Beispiel, das gegen Kurtis Pragmatismus spricht: Bis heute hat er ein Problem mit der offiziellen kosovarischen Staatsflagge. Sie zeigt sechs weiße Sterne in einem leichten Bogen über den goldenen Umrissen des Staatsgebiets. Und jeder Stern steht für eine Gruppe im Land: Albaner, Bosniaken, Türken, Serben, Roma und ein Stern für die anderen Minderheiten. Kurti findet es ungerecht, dass der serbischen Minderheit weitgehende Autonomierechte im Land eingeräumt werden, obwohl sie nur etwa 3,4 Prozent der Bevölkerung stellen und Albaner rund 91 Prozent. „Eine Nation sollte sich mit ihrer Flagge identifizieren. Sie sollte ein Spiegel sein, in dem man sich selbst sieht. Aber unsere Flagge hat keine Geschichte und sie wurde nie demokratisch gewählt“, sagt er. Kurti spricht pointiert, niemals kommt er ins Stammeln. Der Charismatiker ist ein linker Populist wie aus dem Lehrbuch. Wenn er vor Publikum spricht, wirkt es, als würde er mit jedem Einzelnen Blickkontakt suchen. Das ist seine sanfte, menschliche Seite.
Die andere ist die, dass Kurti immer wieder zu Protesten aufruft, die in Gewalt ausarten: demolierte Autos, Molotowcocktails, sogar Tränengas im Parlament. Darauf angesprochen, zuckt er die Achseln und sagt: „Nicht wir sind radikal, die Zustände im Kosovo sind es.“ Junge Wähler hat das gleichermaßen verschreckt wie angezogen. Neben klassisch linken, sozialdemokratischen Themen bespielt Kurti auch die andere Seite des politischen Spektrums – die des Nationalismus. Seine Partei blockiert die Ratifizierung eines Grenzabkommens mit Montenegro. Sie behauptet, dass die Grenze zum Nachbarn falsch gezogen wurde und Kosovo dadurch Grund und Boden verloren gehen.
Visa-Freiheit gegen Grenzabkommen
Um das Grenzabkommen zu verhindern, ließen die Parlamentarier von Vetëvendosje wiederholt Tränengasgranaten in Parlamentssitzungen hochgehen. Der Konflikt dreht sich um 8000 Hektar hoch in den Bergen, in einer Region, in der niemand lebt und die selten von Menschen betreten wird. Für die EU ist das Gebiet ein Faustpfand: Sie hat in Aussicht gestellt, dass Kosovo die lang ersehnte Visa-Liberalisierung erhält, wenn es das Abkommen mit Montenegro endlich unterzeichnet. Aber Vetëvendosje gibt dem nicht nach. Das ist verwunderlich, weil die jungen Menschen, die Vetëvendosje wählen, von der Visa-Freiheit stärker profitieren würden als von Gestein und Geröll in den Bergen.
„Natürlich wollen wir die Menschen zuerst in einem Referendum fragen, ob sie eine solche Vereinigung wollen“, stellt Fitore Pacolli klar. Die 36-Jährige ist Vetëvendosje-Abgeordnete im Parlament. Eine, die geblieben und nicht ausgetreten ist. Pacolli beschreibt die nationale Sehnsucht als Zusammentreffen mit der Familie: „Sich mit Albanien zu vereinigen, ist, wie nach Hause zu kommen und mit den Eltern Abend zu essen.“ Pacolli lebte sechs Jahre lang in England und promoviert derzeit am Zentrum für Südosteuropastudien in Graz. In London ging sie gegen den konservativen David Cameron auf die Straße. Sie engagiert sich für Frauenrechte und die Rechte der LGBT-Community. Als Kosmopolitin wirkt sie eigentlich nicht wie ein Mensch, der sich nach nationaler Größe sehnt. Als Abgeordnete im Kosovo fordert sie, dass die Bürger Visa-Freiheit für die EU erhalten, damit die junge Bevölkerung Europa bereisen kann. Was sie gleichzeitig verhindert, weil sie jeden Kompromiss im Grenzstreit mit Montenegro ablehnt. „Wir können unser Land nicht einfach gegen die Visa-Freiheit eintauschen“, sagt Pacolli. Die 8000 Hektar als EU-Faustpfand – unfair! „Kein Land der Welt würde einen solchen Deal eingehen.“
Das war vor über einem Monat. Inzwischen hat das kosovarische Parlament das Abkommen nach über zweieinhalb Jahren Streit und Blockade unterzeichnet. Trotz Tränengas-Attacken von Seiten Vetëvendosjes kam die nötige Mehrheit von 80 Stimmen zusammen. Und Pacolli? Die wurde vor laufenden Fernsehkameras von Polizisten aus dem Plenarsaal begleitet und für einige Stunden festgenommen, weil sie die Kapseln eigenhändig gezündet hatte. Den Kampf gegen das Grenzabkommen hat Vetëvendosje verloren. „It is over“ schreibt eine Parteifunktionär am Abend der Abstimmung über WhatsApp.
Mit Parteispaltung oder ohne – die EU muss sich mit dem Phänomen Vetëvendosje früher oder später auseinandersetzen. So gewagt die Forderungen ihrer Anhänger auch sein mögen – sie sind derzeit die einzige Partei, die für Korruptionsbekämpfung und Sozialreformen eintreten. Vorerst aber können die politischen Eliten im Kosovo aufatmen. Die Mächtigen freuen sich, dass auf Staatsebene weiterhin niemand gegen Korruption vorgeht. Brüssel hat fürs Erste eine Pause von der Blockadepolitik in Europas jüngstem Staat. Und Albin Kurti? Der muss den Traum, nächster Premierminister zu werden, erstmal auf unbestimmte Zeit verschieben.
Texte der Autorin zum Thema sind am 16. Februar 2018 auf republik.ch und am 2. März 2018 im DATUM erschienen.
Dieser Text ist urheberrechtlich geschützt. © Franziska Tschinderle. Bei Interesse an Wiederveröffentlichung bitten wir um Kontaktaufnahme mit der Redaktion.
Urheberrechtliche Angaben zu Bildern, Grafiken und Videos sind direkt bei den Abbildungen vermerkt. Titelbild: Tränengaskapseln im Plenarsaal als Zeichen des Widerstands. Die Schutzausrüstung gehört zum parlamentarischen Alltag. Foto: © Martin Valentin Fuchs.